| # taz.de -- Die Wahrheit: Alarm für hungrige Heuler | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (83): Seehunde als | |
| > Gefangene einer Wissenschaft im Fortschrittswahn. | |
| Bild: Die Welt da draußen ist für junge Heuler keine leichte | |
| Im Seebad Warnemünde gibt es ein Robben-Forschungszentrum mit Seehunden. | |
| Die Handarbeiter trainieren täglich mit ihnen, damit sie in Form bleiben, | |
| und die Kopfarbeiter denken sich Versuche für sie aus. Als Besucher kann | |
| man dort mit ihnen tauchen, wer keinen Tauchschein hat, kann mit ihnen | |
| schwimmen. | |
| Ein Rostocker Doktorand arbeitet täglich mit dem Seehund Henry, dem er die | |
| Augen verbindet und Kopfhörer aufsetzt, und dann muss Henry bestimmte Dinge | |
| tun, die der Doktorand mit einem Stück Fisch belohnt. Es geht bei diesem | |
| Experiment darum, wie leistungsfähig die Barthaare der Seehunde sind. Der | |
| Spiegel schreibt: „Die Ergebnisse könnten bei der Entwicklung neuer | |
| Sensortechniken helfen und so etwa den Bau von Unterwasserrobotern | |
| revolutionieren.“ | |
| Sensortechnik, U-Boot, Roboter … Dieses Zeug sollte man doch besser den | |
| pragmatischen Amis überlassen – die lieben Technik, erst recht, wenn sie | |
| sich mit Elektronik verknüpfen lässt. Es geht also bei der Seehundforschung | |
| wieder mal nicht um ein besseres Verständnis dieser unserer nahen | |
| Verwandten, die es einst vom Land wieder zurück ins Meer zog, kein | |
| Kennenlernen und Freundschaft schließen, sondern um eine schnöde | |
| kapitalistische Systemmurkelei – für einen weiteren technischen | |
| „Fortschritt“ – ein Wort, das inzwischen politisch noch unkorrekter ist | |
| als, sagen wir, „Hängetitten“. | |
| Und dafür muss Henry nun als Gefangener täglich idiotischste Befehle | |
| ausführen, obwohl es sich eigentlich bis nach Warnemünde herumgesprochen | |
| haben dürfte, dass es keine ökonomische Utopie mehr gibt, nur noch eine | |
| ökologische! Der „Fortschritt“ führt stracks in die Katastrophe! Aber die | |
| Forscher haben natürlich recht: Auf ein paar Seehunde mehr oder weniger | |
| kommt es dabei jetzt auch nicht mehr drauf an. Und von irgendwas müssen sie | |
| ja leben. | |
| ## Peilsender auf dem Rücken | |
| Im Küstenurlaubsort Friedrichskoog haben die Kieler Seehundforscher die | |
| Jungtiere freundlicherweise frei gelassen, aber ihnen dafür einen | |
| schrecklichen Peilsender auf dem Rücken befestigt (hoffentlich nicht | |
| genagelt!). Ein Jahr lang müssen die mit der Flasche aufgezogenen Ex-Heuler | |
| nun damit herumschwimmen: „Sie sollen den Biologen verraten, wo in der | |
| Nordsee die Lieblingsplätze der Seehunde sind“, wie die Kölnische Rundschau | |
| schreibt. | |
| Es soll mithin geklärt werden, wie sie ihren natürlichen Lebensraum nutzen | |
| und ob sie sich ähnlich wie die frei geborenen Artgenossen verhalten. Die | |
| Kenntnisse darüber helfen bei ihrer zukünftigen Auswilderung. Die | |
| Seehundforscher sprechen dabei von „Wiedereingliederung“ und | |
| „Rehabilitation“, so als würde es sich bei diesen frischfischversessenen | |
| Rackern um jugendliche Kriminelle handeln, denen unser Sozialstaat noch | |
| eine Chance gibt. Und tatsächlich werden die Seehunde ja auch als | |
| Konkurrenten der Fischer gehasst und bejagt. | |
| Allein in Schleswig-Holstein gibt es noch vierzig offizielle Seehundjäger, | |
| obwohl die offensive Jagd auf Seehunde dort seit 1974 verboten ist, aber | |
| selbst Süddeutsche wissen, dass die Friesen ein ganz besonders | |
| interpretatorisches Verhältnis zum Gesetz haben. Ein Seehundjäger, der auf | |
| Sylt tätig ist und 45 Euro für jeden erschossenen Seehund bekommt, meint: | |
| „Einer muss es ja machen.“ Für ihn ist wichtig, „dass kranke, schwache | |
| Tiere nicht leiden müssen“. | |
| Auf der Reicheninsel Sylt ist also das altdeutsche „negative | |
| Euthanasiedenken“ anscheinend noch lebendig – im Gegensatz zu dem | |
| „positiven Euthanasiedenken“ der zukunftsoptimistischen Amis, das darin | |
| besteht, alle Frauen mit dem Samen von Genies zu befruchten. Der Plan dazu | |
| („Aus dem Dunkel der Nacht“ betitelt) stammt vom Nobelpreisträger und | |
| Präsidenten der „Genetic Society of America“ Hermann Joseph Muller der | |
| dafür die Antipoden „Darwin und Lenin“ als Beispiele für Topsamenspender | |
| erwähnte. Zuletzt hatte der inzwischen zu Tode gekommene US-Milliardär | |
| Jeffrey Epstein diesen Plan verfolgt – mit seinem Samen. | |
| Bei den Seehunden gibt es in Amerika aber auch noch den Trend, dass sich | |
| immer mehr „Seal Hunter“ und „Seal Scientists“ zu „Seal Watchern“ w… | |
| die gegen Bezahlung gelangweilte oder naturschützerisch motivierte | |
| Touristen zu den Seehunden auf deren Sandbänke und Klippen fahren. Die | |
| Tiere haben sich stellenweise schon so an diese peace-loving people | |
| („Ökos“) gewöhnt, dass sie auch dann noch liegen bleiben, wenn sich jemand | |
| langsam an sie ranrobbt und einen auf toten Seehund macht. | |
| ## Schwergewichtige Annäherung auf YouTube | |
| Dann kann es sogar vorkommen, dass ein paar Jungspunde oder auch ein | |
| neugieriges altes Männchen ihrerseits ranrobben und sich riechend davon | |
| überzeugen, dass dieser Seal-Watcher noch lebt. Wenn es sich dabei um eine | |
| Frau handelt, dann kann es auch passieren, dass so ein alter Seehund auf | |
| sie raufrobbt, während ihr Mann diese schwergewichtige, aber ungefährliche | |
| Annäherung filmt – und den Clip anschließend auf YouTube stellt. Es gibt | |
| schon einige tausend Clips davon. | |
| An der deutschen Küste passiert es gelegentlich sogar, dass ein Seehund | |
| sich gemütlich an den Strand zwischen lauter Badegäste legt, in | |
| Eckernförde, in Westerland, auf Norderney und in anderen Badeorten, auch | |
| das wird gern und oft gefilmt. | |
| Einige Seehunde haben inzwischen Namen. Diese absichtslosen Forschungen | |
| gelten den professionellen Forschern immer noch als unliebsame Anekdoten: | |
| „Dergleichen gilt heute als nahezu wertlos, weil sich solche Beobachtungen | |
| statistischen Berechnungsverfahren entziehen“, wie eine Sprecherin des | |
| Bayrischen Rundfunks in einer Wissenschaftssendung ernsthaft verkündete. In | |
| Wirklichkeit ist es jedoch genau umgekehrt: Während die Citizen-Scientists, | |
| die Amateurforscher, auf Internetforen, YouTube und Facebook unermüdlich | |
| „Wildlife“-Beobachtungen, -Begegnungen und -Überlegungen zusammentragen – | |
| und das weltweit, sind die Wissenschaftler inzwischen gezwungen, | |
| dümmlichste Industrieforschung in unsinnigsten Versuchsanordnungen, | |
| verbunden mit den gemeinsten Vergewaltigungen ihrer Objekte, anzustellen. | |
| Der Ökologe Josef Reichholf hat sich am Anfang seiner Karriere auch eine | |
| Weile an solchen wissenschaftlichen Aktivitäten beteiligt: „Oft werde | |
| dieser Forschung ein künstliches Korsett aus Zahlen und Messgrößen | |
| übergestülpt. Denn alles, was sich in Formeln und Maßzahlen ausdrücken | |
| lässt, erweckt den Anschein von größerer Wissenschaftlichkeit … Aber wir | |
| jungen Ökologen störten uns nicht daran, denn die Modelle und die ihnen | |
| zugrunde liegende Mathematik werteten die Ökologie auf. Sie hatte damit | |
| Eingang gefunden in den gehobenen Kreis der quantitativen | |
| Naturwissenschaften.“ | |
| Das kommt aber jetzt zu einem Ende: Die organismische Biologie wird überall | |
| abgewickelt – zugunsten von Genetik und Enzymatik. „Fast kann man schon | |
| davon ausgehen, dass die Tier- und Pflanzenforschung von der | |
| Naturwissenschaft zur Kulturwissenschaft und zu den Künstlern wandert. | |
| Ohnehin war es ja die Romantik, die den Naturschutzgedanken einst | |
| angestoßen hat“, meint der Feldbiologe der Humboldt-Universität Professor | |
| Rolf Schneider. | |
| 26 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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