| # taz.de -- Die Wahrheit: Auferstanden aus Rosinen | |
| > Was viele heute nicht mehr wissen: Die DDR gab es wirklich. Früher im | |
| > Osten. Dort, wo heute noch die Ostgeborenen zu Hause sind. | |
| Bild: Das Logo der ostdeutschen Rockgruppe Senf | |
| Spreegurkenkompott an einem Braunkohlebrikett. Spruchbandagitation zum | |
| Abgewöhnen. Hoch geklappte Bürgersteige hinter Stacheldraht. Das sind die | |
| Bilder, mit denen sich die Deutschen heute an die DDR erinnern. Das | |
| Andenken ist geprägt von Kordhütchen, Winkelementen und manischem | |
| Nacktbaden. Grauschleier, Gänsefleisch und Broiler sind die meist genannten | |
| Begriffe, die die Siegerdeutschen mit der Zone assoziieren. Und | |
| selbstverständlich wissen auch dreißig Jahre danach nur sie, was drüben so | |
| abging: „gar nüschts“, wie die Ostler sagen würden, wenn sie was zu sagen | |
| hätten. | |
| Sieht man mal vom grünen Pfeil und dem Sandmännchen ab, sind es fast | |
| ausschließlich westliche Leitbilder, die heute vorherrschen. Jeder kennt | |
| zum Beispiel Fix & Foxi, Lurchi oder Donald Duck. Aber in der Ostzone | |
| bestimmten die Pusselpöffels, der Gullebär und die Fratzedonkis die Welt | |
| der Comics. Die kannte in Westdeutschland niemand. Sie gehören auch heute | |
| nicht zum Kanon. | |
| Selbiges gilt praktisch für die ganze ostische Kultur: ihre schrullige | |
| Ästhetik, ihre literarischen Ausstülpungen, ihre Pupsmusik. Oder hat man im | |
| Westen schon mal was vom Modelabel Sibylle Schick, dem Barfußlyriker Bernd | |
| Papenheim-Gewürz oder der Kunstliedvereinigung Fryhsport gehört? Weiß man | |
| um die Verdienste einer ostdeutschen Avantgarde, wie sie sich in der | |
| Dessauer Textillyrik, der Lausitzer Mangelfotografie, dem Niethosenjazz | |
| einer Klaus Dösselmann Combo oder den legendären Schnurrbart-Cineasten rund | |
| um den mehrfach dissidierten Arbeiter- und Bauernfilmer Klaas Broder | |
| zeigte? | |
| ## Von der Treuhand geschreddert | |
| Jeder DDR-Bürger kannte sein Kinolustspiel „Kollege kommt gleich“, im | |
| Westen wurde es nie gezeigt. Und wird nie mehr gezeigt werden können, weil | |
| das Filmmaterial, ein in Bitterfeld gefertigtes, leicht entzündliches | |
| Gemisch aus Teerpappe und Glyphosat, gleich nach der Übernahme im | |
| Sondermülleimer der Treuhand geschreddert wurde. | |
| Niemand auch, der in der DDR aufwachsen musste und nicht die Lieder jener | |
| legendären Musikkapelle kannte, die sich von 1958 an bei ständig | |
| wechselnden Frisuren ihrer Mitglieder von einem losen | |
| Schalmeienschrammel-Verbund zu einer starkstromgitarrenkreischenden | |
| Knatter-Rockband entwickelten, aber trotz aller Bemühungen um Subversivität | |
| („Herein, herein zum 1. Mai“) erst 1988 die höchstmöglichen Weihen | |
| erhielten: das DDR-weite Auftrittsverbot – mit Ausnahme aller evangelischen | |
| Kirchen, versteht sich. | |
| Gemeint ist natürlich die Gruppe Senf um den Frontmann und Frickeltexter | |
| Sandro Senftleben. Seine Lieder „Hoch wie ein Haus soll mein Hochhaus sein“ | |
| und „Ballade Marmelade“ gehören unverrückbar zum musikalischen Erbe | |
| Ostdeutschlands. Im Westen hingegen kannte und kennt sie „Keine blöde Sau“ | |
| (so ein weiterer Senftitel), was zum einen an der Untanzbarkeit der Songs | |
| liegen könnte, vor allem aber mit der Unfähigkeit vieler Wessis zu tun | |
| haben dürfte, zwischen den Textzeilen zu lesen und die dort bis zur | |
| Unkenntlichkeit versteckten aufrührerischen Inhalte zu begreifen. Das war | |
| und ist nur Ostgeborenen möglich. | |
| ## Nein, es war nicht alles trist | |
| Und dann ist da noch diese Geschichte, die man immer wieder liest, wenn es | |
| um das ruhmreiche Möbeldesign der DDR geht. Sie spielt auf der Zwickauer | |
| Herbstmesse 1957 an, als Walter Ulbricht die ersten Stühleentwürfe der | |
| volkseigenen Sitzmöbelproduktion aus Suhl begutachtete und bei einer | |
| Sitzprobe des Küchenstuhlmodells Wilhelm Pieck dieses unter ihm | |
| zusammenkrachte. Man hätte angeblich vergessen, die Stuhlbeine | |
| festzuschrauben. Zudem seien es aus mangelwirtschaftlichen Gründen nur drei | |
| Beine gewesen, das vierte bei der Fünfjahresplanung schlichtweg vergessen | |
| worden. | |
| Tatsächlich gehörte die losen Schrauben und das fehlende Bein zum | |
| designerischen Konzept dieses Stuhlmodells, das sogar ein Jahr später in | |
| Serie ging und in praktisch jedem DDR-Haushalt, nun ja, eher wackelte denn | |
| stand. | |
| Nein, es war nicht alles trist, doof und eierschalenfarben „drüben“. Und | |
| trotzdem. Die kulturelle Erinnerung in West- und Dunkeldeutschland begegnet | |
| sich derzeit allenfalls auf Hosenstallhöhe. Für die jüngeren Zonis ist das | |
| kein Problem, sie wissen es nicht besser. Für die älteren aber schon. Und | |
| die begehren jetzt auf, werden frech wie Bolle, fordern schamlos sächselnd, | |
| dass die Erfahrungen „ihrer“ DDR nicht länger abgewürgt werden. | |
| Andernfalls, so drohen sie unverhohlen, wählen sie noch rechtsradikaler als | |
| sowieso schon. | |
| Vielleicht lassen sich die Wunden, die überall aufplatzen und von den | |
| Ostlern mit der ihnen so eigenen Inbrunst auch geleckt werden, nur heilen, | |
| wenn Deutschland sein kulturelles Gedächtnis erweitert – dass der Osten | |
| nicht nur aus Ruinen auferstanden ist, sondern auch aus Rosinen. Wie aus | |
| denen in der beliebten Biersuppe. Ein echtes Schmackofatz für alle | |
| Früherfreunde. Für alle anderen einfach nur Erbrochenes. | |
| 23 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Fritz Tietz | |
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