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# taz.de -- Missbrauchsfälle in Lügde: „Das ist abgründig“
> Im Prozess wegen hundertfachen Missbrauchs auf einem Campingplatz sagen
> die Opfer aus. Die Beschuldigten hatten ihre Taten zum Teil gefilmt.
Bild: Der mutmaßliche Tatort: der Wohnwagen, in dem Kinder jahrelang sexuell m…
Detmold taz | „Aua, das tut weh.“ Es ist die Stimme eines Kindes, welches
diesen Satz in einem Video sagt. Das Kind erlebt gerade sexuelle Gewalt,
verübt von Mario S., 34, einem Maler und Putzmann. Im Film hört man ihn
erregt atmen und stöhnen.
Es ist der 6. Verhandlungstag vor dem Landgericht Detmold im Prozess wegen
jahrelanger und hundertfacher sexueller Gewalt an Kindern auf einem
Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde. Dort sollen seit 2008 zwei
Männer regelmäßig Kinder sexuell missbraucht haben. Einer der beiden
Angeklagten soll sich schon Ende der 90er Jahre an Kindern vergangen haben.
An diesem Donnerstag wird nur gegen Mario S. verhandelt. Die
Staatsanwaltschaft Detmold wirft ihm 162 Taten an acht Mädchen und neun
Jungen vor. Der zweite Hauptangeklagte, der 56-jährige arbeitslose Andreas
V., ist krank und nicht vernehmungsfähig. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft
298 Fälle sexueller Gewalt, verübt an 23 Mädchen vor. V. soll Kinder zum
Teil schwer vergewaltigt haben, er missbrauchte sie meist in seinem
Campingwagen, teils vor laufender Kamera.
Allein das Verlesen der 64 Seiten langen Anklageschrift gegen den gerade
erkrankten Andreas V. beim Prozessauftakt im Juni dauerte über eine Stunde.
Die Anklageschrift gegen Mario S. umfasst über 40 Seiten.
## Eine der Schöffinnen wendet sich ab
Ein dritter Mann, Heiko V., 49, hat Kinder nicht selbst vergewaltigt, aber
mehrfach bei Taten in Live-Chats zugesehen und mehr als 30.000 Dateien mit
kinderpornografischem Material besessen. Er ist mittlerweile zu einer
[1][Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden].
Richterin Anke Grudda spielt an diesem Donnerstag auf einem Laptop zwei
Videos ab, Opferanwälte, Gerichtsangestellte und Zeugen stellen sich hinter
Grudda an den Richtertisch. Nur sie können die Videos sehen. Wie Peter
Wüller, einer der zahlreichen Opferanwälte, später berichtet, sieht man in
den Filmen, wie Mario S. „Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen und
Oralverkehr mit einem Jungen“ hat. Im Saal 165 des Detmolder Landgerichts
ist es bedrückend still. Eine der drei Schöff*innen schaut immer wieder
erschrocken zur Seite, ihr fällt es augenscheinlich schwer, den Taten zu
folgen. Selbst Jürgen Bogner, Verteidiger von Mario S., sagt: „Das ist
abgründig, das ist völlig abnormal. Es fällt schwer, das zu kommentieren.“
Richterin Grudda zeigt den Prozessbeteiligten auch Fotos. In einem
Aktenordner blättert sie Seite für Seite um und fragt den Angeklagten: „Wer
ist das Mädchen?“, „Wer der Junge?“, „Ist das Ihr Wohnwagen?“, „Ha…
die Fotos gemacht?“ Mario S. antwortet stets mit „Ja“, nennt Namen von
Mädchen und Jungen. Mehr sagt er nicht. Ein Foto zeigt Opferanwalt Wüller
zufolge zwei Kinder, die miteinander Sex haben: „Ein Mädchen, das
Oralverkehr an einem Jungen ausübt.“ Die beiden sind laut Wüller „deutlich
unter zehn Jahren“.
## Opfer haben immer Angst vor Mario S.
Vorher hatte – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – ein junger Mann
ausgesagt, ein weiteres Opfer des 34-jährigen Putzmanns. Zum Zeitpunkt des
Missbrauchs war der junge Mann minderjährig und für den Angeklagten eine
„leichte Beute“. Der heute 21-Jährige ist intellektuell eingeschränkt, er
hat Gutachten zufolge den geistigen Entwicklungsstand eines 6-Jährigen. Er
kann nicht Nein sagen, erklärt seine gesetzliche Betreuerin. Auch ein
weiterer junger Mann, der zum Tatzeitpunkt minderjährig war, sagt am
Donnerstag unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Das, was er erlebt hat,
deckt sich mit den anderen Aussagen.
Die beiden Opfer sind so stark traumatisiert, dass der Angeklagte den
Gerichtssaal verlassen muss, bevor sie die Fragen des Gerichts beantworten
und erzählen, was ihnen auf dem Campingplatz widerfahren ist. Einer der
beiden sagt, er habe immer noch Angst vor Mario S., schon seit einer Woche
fürchte er sich vor dem heutigen Termin. Beim anderen Opfer wollen sowohl
die Anwältin als auch die Betreuerin zudem eine „sekundäre Traumatisierung�…
vermeiden: Das Opfer könnte erneut in schwere psychische Abgründe geraten,
wenn es Mario S. begegnet.
An einem der vergangenen Prozesstage sagte Andreas V.s frühere
Pflegetochter aus. Die Angaben des Mädchens seien absolut plausibel, sie
habe dem Gericht all das bestätigt, was sie bereits der Polizei gesagt
habe, teilte später Cornelius Pietsch, der Anwalt des Mädchens, mit.
Die heutige Achtjährige war trotz Warnungen des Jugendamts in Lippe in
Nordrhein-Westfalen für zweieinhalb Jahre bei V. untergebracht worden. Die
Mitarbeiterinnen hatten vorher gewarnt, das Kindeswohl sei in dem
vermüllten Wohnwagen gefährdet. Damals war das Mädchen fünf Jahre alt,
Andreas V. hatte uneingeschränkten „Zugriff“ auf das Kind. Laut den
Ermittlungen ist das Mädchen mehr als hundert Mal missbraucht worden. Es
ist schwerst traumatisiert und wird professionell betreut. Um das Kind
nicht erneut zu schädigen, mussten die Angeklagten und die Öffentlichkeit
bei der Aussage des Mädchen den Gerichtssaal verlassen.
Der Prozess beschäftigt auch die Öffentlichkeit. Eine junge Frau ist an
diesem Donnerstag extra aus Hamburg nach Detmold gekommen. „Das ist
unfassbar“, sagt sie: „Gegen sexuellen Missbrauch muss man dringend etwas
tun.“ Später will sie sich der Demo „Gegen Kindesmissbrauch“ anschließe…
die von der Innenstadt zum Gerichtsgebäude führt.
Organisiert hat sie Markus Diegmann, 53, kahler Schädel, dunkle
Sonnenbrille. Er hat früh am Morgen in der Fußgängerzone sein Wohnmobil
abgestellt und ein Zelt aufgebaut. Auf das Auto hat er Faksimiles von
Zeitungstexten über Missbrauch geklebt. „Kinderarzt soll 21 Jungen
missbraucht haben“ steht da. Oder „Bayer vergewaltigt Mädchen im Vogtland�…
## Härtere Strafen gefordert
Diegmann ist selbst Missbrauchsopfer von drei Männern geworden, erzählt er.
Er war fünf, als das Martyrium begann. Jahrzehntelang hat er das Erlebte
verdrängt, bis es 2013 aus ihm „herausbrach“. Seitdem tourt er durch
Deutschland, berät Betroffene und fordert, dass sexuelle Gewalt an Kindern
strafrechtlich nicht verjährt. Derzeit verjährt sexueller Missbrauch nach 5
bis 20 Jahren, bei Missbrauch mit Todesfolge nach 30 Jahren.
Diegmann sagt: „Auch Bewährung bei solchen Taten darf es nicht geben.“
Damit zielt Diegmann auf das Urteil ab, das Richterin Grudda Mitte Juli
gegen Heiko V. gefällt hatte. Der dritte Täter im Lügder
Missbrauchsprozess, der zwar nicht aktiv an den Taten beteiligt war, aber
die beiden anderen zur massiven sexuellen Gewalt angestiftet und die Taten
mehrfach live im Internet verfolgt hat, hat als „freier Mann“ den
Gerichtssaal verlassen. So jedenfalls werten viele Beobachter*innen das
zweijährige Bewährungsurteil.
Das Urteil war in Fachkreisen als zu mild kritisiert worden, mit der
Begründung, auch passive Täter wie V. seien harte Täter. Sie würden die
Kinderpornoindustrie anheizen, indem sie Videos, Bilder und anderes
Material im Internet kauften oder herunterluden.
## Auch der „Anstifter“ soll härter bestraft werden
Die Staatsanwaltschaft Detmold hatte unmittelbar nach der Urteilsverkündung
Revision eingelegt. Sie hatte eine Strafe von zwei Jahren und neun Monaten
gefordert. Mit diesem Strafmaß wäre eine Bewährungsstrafe nicht möglich
gewesen.
Zeliha Evlice, Anwältin eines der Mädchen, die Opfer von Videoaufnahmen
wurde, hat sich als Nebenklägerin der Revision angeschlossen. Sie hält das
Urteil für zu schwach: „Das Gesetz bestraft ja auch den Besitz von
kinderpornografischem Material.“
An diesem Freitag soll der erkrankte Andreas V. wenige Minuten lang
aussagen. Am 15. August sollen möglicherweise wieder beide Angeklagten
zusammen vor Gericht erscheinen. So jedenfalls forciert es die Richterin.
Um das Verfahren nicht unnötig in die Länge zu ziehen, sagt Grudda. Für
Bogner, Verteidiger des mutmaßlichen Täters Mario S., wäre das „ein gutes
Bild“: „Die Taten haben mit beiden auf dem Campingplatz stattgefunden, also
sollten auch beide zusammen abgeurteilt werden.“
1 Aug 2019
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[1] /Erstes-Urteil-im-Luegde-Prozess/!5612396
## AUTOREN
Simone Schmollack
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