# taz.de -- „Wir bleiben mehr“ in Chemnitz: Keinen Millimeter nach rechts | |
> 50.000 Menschen feierten am Donnerstag in Chemnitz unter dem Motto beim | |
> Kosmos-Festival – und diskutierten über ihre Stadt. | |
Bild: Gute Laune bei den „Chee-eem-nitzern“ auf dem Kosmos-Festival | |
Dort, wo im August des [1][vergangenen Jahres Daniel H]. getötet wurde, | |
trägt nun ein Stein im Straßenbelag seinen Namen. Jemand hat eine rote | |
Grabkerze dazugestellt und ein Foto von ihm. Vor dem Dönerladen ein paar | |
Meter weiter steht ein DJ-Pult. Junge Leute tanzen fröhlich zu | |
elektronischer Popmusik. Unter dem Motto „Wir bleiben mehr“ feiern sie das | |
Kosmos-Festival – eine Folgeveranstaltung des Konzertes [2][„Wir sind | |
mehr“], bei dem 65.000 Menschen ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und | |
Hetze gesetzt hatten, nachdem der Tod von Daniel H. von rechten | |
Gruppierungen, Hooligans und Neonazis für rechtsextreme Demos und | |
Ausschreitungen instrumentalisiert wurde. | |
„Damals lag es auf der Hand, dass wir reagieren mussten“, sagt Jan Kummer, | |
bildender Künstler, Vater der Kraftklub-Jungs und Chemnitzer Szenegröße. | |
„Wir hatten die Infrastruktur und die Verbindung in die Popkultur. Das | |
haben wir gnadenlos ausgenutzt – und dafür auch auf den Deckel bekommen.“ | |
Auf den Deckel gab es unter anderem, weil K.I.Z und Feine Sahne Fischfilet | |
mit auf der Bühne standen, zwei provokante Bands, deren Texte sich auch mal | |
gegen die Polizei aussprechen. | |
Beim „Kosmos“ ist das nun anders. Neben Tocotronic, Großstadtgeflüster und | |
Alligatoah heißt der Headliner jetzt Herbert Grönemeyer. Ein Künstler, auf | |
den sich alle einigen können. Junge Hipster, Rentnerpärchen, auch die | |
Chemnitzer Bürgermeisterin klatscht mit. Grönemeyer spielt seine Hits von | |
„Männer“ über „Flugzeuge im Bauch“ bis „Alkohol“, und doch ist es… | |
Wohlfühl-Gig zum Mitschunkeln. | |
Der Bochumer betont immer wieder seine Botschaft: „Wir bewegen uns keinen | |
Millimeter nach rechts“, ruft er. „Wir grenzen keinen aus. Niemand wird | |
diskriminiert.“ Punkt. Grönemeyer ist gut drauf, springt auf der Bühne | |
herum, lacht und lebt und ist sichtlich bewegt von den Zehntausenden, die | |
ihre Handytaschenlampen im Takt winken. Seinen Song „Mensch“ dichtet er am | |
Ende um, singt mit allen „Chee-eem-nitz“. Ein großer Abschluss eines Tages, | |
der ein Zeichen für Weltoffenheit in einer von vielen Problemen geplagten | |
Stadt gesetzt hat. | |
## Kürzungen für linke Initiativen befürchtet | |
Da sind die [3][rechten Hooligans] beim FC Chemnitz, da ist die | |
rechtspopulistische Wählervereinigung Pro Chemnitz, die bei der | |
Stadtratswahl knapp 8 Prozent gewann, zusätzlich zu den 18 Prozent der AfD. | |
Nun fürchten viele, dass der neue Stadtrat, auch mit der Unterstützung der | |
stärksten Kraft CDU, linken Initiativen und Kulturvereinen die Gelder | |
kürzt, nachdem der lokale Aktionsplan des Bundesfamilienministeriums | |
demokratische Initiativen gerade erst stärker gefördert hat. | |
Eine, die sich sorgt, ist Anna Pöhl vom Verein „Support“, der Opfer von | |
rechter Gewalt unterstützt. Im letzten Jahr gab es sachsenweit in Chemnitz | |
die meisten Opfer zu verzeichnen. „Das hatte auch mit den Ausschreitungen | |
hier zu tun“, sagt Anna Pöhl. Im Umfeld der rechten Demos gab es viel | |
Angriffe. Aber auch jetzt erwartet sie kein ruhiges Jahr: „Vor der | |
Landtagswahl ist extrem viel los.“ Wahlhelfer und Plakatekleber werden | |
angegriffen und diejenigen, die Flyer gegen Neonazis verteilen. | |
Auch Gabi Engelhardt vom Bündnis Aufstehen gegen Rassismus warnt, dass es | |
vor der Sachsen-Wahl im September schlimmer werde. Die Chemnitzerin und | |
ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter würden mit Anzeigen überhäuft werden. | |
Schon kommen an ihrem Stand auf dem Kosmos vier Polizisten in voller Montur | |
vorbei. Grund: Ein Poster mit Björn Höcke, der den Hitlergruß zeigt. | |
Darunter der Satz: „Nie wieder! Keine Bühne der AfD.“ | |
## Zeichen der Liebe | |
Es gab eine Anzeige wegen des Verdachts auf Verwenden | |
verfassungsfeindlicher Zeichen. Nach einer Prüfung der Polizei darf es dann | |
doch verteilt werden. „Alerta, alerta Antifascista“, rufen einige Fans beim | |
Konzert der Hiphopper Zugezogen Maskulin. Wegen solcher Parolen war das | |
Konzert vom letzten Jahr im sächsischen Verfassungsschutzbericht in der | |
Rubrik „linksextrem“ gelandet. | |
Der Singer/Songwriter Joris stand letztes Jahr im Publikum, diesmal steht | |
er auf der Hauptbühne und freut sich, dass „Zeichen der Liebe von hier | |
ausgehen“. Neben ihm tanzt eine Übersetzerin sein Konzert in | |
Gebärdensprache. Zeichen der Liebe und der Freude sieht man in der ganzen | |
Innenstadt. | |
Es gibt verschiedene Bühnen, die von Punk an der Straßenecke über | |
Chemnitzer Newcomerbands bis zu Techno beim angesagten Boiler Room reichen. | |
Bei Diskussionsrunden erzählen Jugendliche von ihren Erfahrungen auf dem | |
sächsischen Land. In einem Waschsalon erkunden junge Ostdeutsche die | |
Gedanken und Geschichten ihrer älteren Nachbarn. Das Museum Gunzenhauser | |
hat kostenlos geöffnet, die Chemnitzer Filmnächte machen mit, der | |
Chemnitzer Basketballverein Niners hat ein kleines Spiel mit Kraftklub- und | |
anderen Musikern organisiert, und vor der Jacobikirche hat die Pfarrerin | |
Dorothee Lücke Wasser und Wein auf Stehtische gestellt. | |
## Chemnitz bewirbt sich als Kulturhauptstadt | |
Sie lädt Chemnitzerinnen und Chemnitzer ein, darüber zu reden, wie sie in | |
dieser Stadt leben wollen. „Ich versuche, Gesprächsangebote zu machen“, | |
sagt sie über ihren Umgang mit den rechten Vorfällen in der Stadt. Sie kann | |
ihnen aber auch etwas Positives abgewinnen: „Das Gute ist, dass hier alle | |
politisierter sind als in Dortmund.“ Es wird viel diskutiert. „Man kriegt | |
hier mehr mit als in Freiburg oder Kreuzberg“, sagt auch Jan Kummer. | |
Nun bewirbt sich Chemnitz als Kulturhauptstadt für das Jahr 2025. „Diese | |
Bewerbung hat eine Gewissensfrage in Gang gesetzt: In welcher Stadt leben | |
wir?“, sagt René Szymanski vom Kulturhaus Arthur, das Kunst, Kultur und | |
bildungspolitische Arbeit zusammenbringen will. „Wir sind mehr“ sieht er | |
vor allem als Prozess, der immer weiter gehen muss. „Es ist wichtig, dass | |
es so einen Tag gibt und dass es funktioniert“, sagt er übers Kosmos. | |
Am Freitag folgt direkt das Kosmonautfestival am Rande der Stadt, wo | |
Zehntausende seit 2013 jedes Mal aus dem ganzen Land anreisen. „Bei einem | |
Festival wie dem Kosmonaut ist ein Zaun drum, ein ‚Kein Mensch ist | |
illegal‘-Schild am Eingang, da hat alles seine Ordnung“, sagt Jan Kummer. | |
„In der Stadt ist das eine andere Nummer.“ In sie müsse man hineinwirken, | |
sie ist kein geschützter Raum. | |
Das sieht man auch an der Kerze für Daniel H. Mit Kreide wurden Worte wie | |
„Respekt“ und „Weltoffenheit“ auf die Straße gemalt. Eine Frau kommt u… | |
zündet die vom Wind erloschene Kerze wieder an. Ihr Freund versucht derweil | |
wütend, mit dem Fuß die Worte „Toleranz“ und „Rücksicht“ wegzuwische… | |
Grönemeyers Worte reichen nicht bis hier. | |
5 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-um-Messerstiche-gegen-Daniel-H/!5577860 | |
[2] /Wir-sind-mehr-Festival-in-Chemnitz/!5532422 | |
[3] /Geschichte-des-Hooliganismus/!5599356 | |
## AUTOREN | |
Juliane Streich | |
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