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# taz.de -- Polizei im Nationalsozialismus: Rendezvous mit der Vergangenheit
> Künftige Beamte werden in Bayern mit der Geschichte der Behörde
> konfrontiert. Denn oft wird die Nazi-Zeit an den Akademien nicht genug
> behandelt.
Bild: Deportation von Jüdinnen und Juden im Oktober 1940
Die junge Polizistin ist den Tränen nah, als sie im Unterricht für
Polizeigeschichte erfährt, dass ihre Vorgänger in Uniform massenhaft
Zivilisten umgebracht haben. Die Klasse mit 30 [1][angehenden Kommissaren]
des bayerischen Staates bekommt hier in ihrer Ausbildungsstätte im
oberpfälzischen Sulzbach-Rosenberg zum ersten Mal Dinge zu hören, die seit
Langem bekannt, aber nicht Allgemeinwissen sind.
Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen
Polizisten, mit polizeilichen Methoden systematisch wehrlose Menschen zu
töten. Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis: Die uniformierte
Staatsgewalt beteiligte sich an der Ermordung von über zwei Dritteln aller
jüdischen Opfer, wobei sie selbst etwa eine Million Menschen direkt
erschoss. [2][Ohne die Polizei wäre der Holocaust nicht möglich gewesen.]
Dieser erschütternde Befund zur Rolle der Polizei im „Dritten Reich“
scheint all jene zu bestätigen, die glauben, dass der „Freund und Helfer“
heute noch auf dem „rechten Auge“ blind sei. Skandale der jüngsten
Vergangenheit geben ihnen anscheinend recht: So wird ein Frankfurter
Polizist verdächtigt, 2018 einer türkischstämmigen Rechtsanwältin in der
Mainmetropole Drohfaxe geschickt zu haben, [3][von denen zumindest eines
mit „NSU 2.0“ unterschrieben war].
Mit Kollegen soll er sich auch in einer Chatgruppe befunden haben, in der
Hitlerbilder und Hakenkreuze kursierten. Wegen des Verdachts auf
Rechtsextremismus wird allein in Hessen gegen insgesamt 38 Beamte
ermittelt.
## Der Geist der deutschen Polizei
Auch mehrere Münchner Polizisten machten im März 2019 von sich reden, weil
sie über WhatsApp antisemitische Videos geteilt hatten. Eine Gruppe von
ehemaligen und aktiven Elitebeamten aus Mecklenburg-Vorpommern hortete
Unmengen an Munition aus den Beständen des Landeskriminalamts. Sie
erstellten Listen mit unliebsamen Politikern, die sie offenbar bei einer
Staatskrise am „Tag X“ liquidieren wollten.
Für solche besorgniserregenden Zustände werden allerhand Gründe ins Feld
geführt: eine tendenziell eher konservativere Grundhaltung von
Polizeibeamten, Überforderung durch viele Überstunden und Personalmangel,
negative Erfahrungen mit Ausländern, steigende Gewalt gegenüber Polizisten.
Doch damit lassen sich derartige Auswüchse nicht erklären – und
rechtfertigen schon gleich gar nicht. Zusammen mit weiteren Missständen,
Einsatz- und Ermittlungspannen legen die oben genannten Vorfälle eher den
Schluss nahe, dass etwas mit dem Geist in der deutschen Polizei nicht
stimmt. Befinden sich aber deshalb gleich alle rund 300.000 Beamten
bundesweit in einer politisch-moralischen Krise? Keineswegs!
## Ein Blick in die Vergangenheit
Als Dozent für Polizeigeschichte spreche ich mit den angehenden bayerischen
Kommissaren auch über aktuelle Skandale in der Polizei und stelle sie in
einen historischen Kontext – soweit es die knapp bemessene Zeit zulässt.
Die Reaktionen zeigen, dass das Verhalten ihrer Berufsgenossen auch für sie
unfassbar ist.
Von der Weimarer Demokratie bis in die Bundesrepublik liefert der
Unterricht einen Überblick über die häufig unrühmliche Geschichte der
deutschen Polizei – seit Frühjahr 2018 ein Novum im Freistaat.
Im Zentrum steht die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus. Dabei
spielen sich in jedem Semester nahezu die gleichen Szenen ab: In meinen
Klassen sitzen etliche Studenten, die anfangs recht amüsiert sind und
kichernd miteinander tuscheln. Wahrscheinlich denken sie sich: „Jetzt will
ausgerechnet ein Historiker uns Polizisten etwas über die Polizei
erzählen!?“
Dementsprechend nehmen einzelne die Lehrveranstaltung zunächst auf die
leichte Schulter, während die Mehrheit ihrer Kommilitonen gespannt ist, was
auf sie zukommt. Es ist ein Rendezvous mit der Vergangenheit ihrer eigenen
Institution. Deren Beteiligung am Holocaust ist ein elementarer Teil des
Unterrichts.
Dieser zielt aber keineswegs darauf ab, den künftigen Führungskräften der
Polizei einen Kulturschock zu verpassen. Er wirft schlicht wichtige Fragen
auf: Wie wurde die Polizei zu dem, was sie heute ist? Welche Lehren kann
ich aus der Geschichte ziehen? Ist das alles längst vergangen oder hat das
auch etwas mit mir zu tun? Wie hätte ich mich in der jeweiligen Situation
verhalten? Hätte ich mitgeschossen oder mich dagegen entschieden?
Als Polizeihistoriker befasse ich mich schon seit vielen Jahren mit Fragen
rund um die dunkle Vergangenheit der deutschen Staatsgewalt. In meiner
Doktorarbeit untersuchte ich anhand der Polizeischule Fürstenfeldbruck, an
der ich heute ebenfalls unterrichte, wie die Nationalsozialisten die
Führungskräfte der Ordnungspolizei ausbildeten und welche Folgen das hatte.
Hunderte Männer aus ganz Deutschland und Österreich besuchten in der
oberbayerischen Bildungsstätte spezielle Lehrgänge, aus denen sie als
Polizeioffiziere hervorgehen sollten. Diese Kurse zielten besonders darauf
ab, sie auf ihren Kriegseinsatz und vor allem auf den Kampf gegen „Banden“
vorzubereiten.
Erschreckend viele Schüler, aber auch Lehrer und sogar Schulleiter
verübten in den besetzten Gebieten zahlreiche Gräueltaten an Juden und
anderen Opfern. Ihre Taten reichten von Massenerschießungen über
Sexualverbrechen an Kindern bis zur Vernichtung ganzer Dörfer.
## Radikalisierung in Grüppchen
Für meine Studenten ist das kein leicht verdaulicher Lehrstoff; und sie
reagieren ganz unterschiedlich. Die einen lassen den Unterricht über sich
ergehen, verfolgen ihn teilnahmslos und fragen sich wohl bis zum Schluss,
was ihnen das eigentlich bringen soll. Andere zeigen sich deutlich
interessierter: durch aktive Mitarbeit, Wortbeiträge und Nachfragen.
Mehrfach kamen einzelne auf mich zu, um mir für den Unterricht zu danken.
Junge Polizisten reagieren also durchaus engagiert, wenn sie von der
mörderischen Historie ihres Dienstherrn erfahren – und das ist keineswegs
selbstverständlich. Denn schließlich sind sie Nachfolger der einst eben
hier im nationalsozialistischen Ungeist unterrichteten Offiziersanwärter.
Seither hat sich die Mentalität innerhalb der Polizei enorm zum Guten
gewandelt. Sie bemüht sich sehr darum, ihren Angehörigen demokratische
Werte zu vermitteln. In der Theorie ist jeder Polizist ein Musterdemokrat
– zumindest, wenn es nach der Exekutive selbst geht. Für die absolute
Mehrheit der uniformierten Staatsdiener trifft das auch zu.
Die Praxis zeigt jedoch auch, dass sich einzelne Beamte nicht so verhalten,
wie man es von Demokraten in Uniform erwarten muss. Im Gegensatz zu den von
ihrer Institution vorgegebenen Normen pflegen sie eine inoffizielle
Polizistenkultur, die wesentlich durch eigene Erfahrungen im Einsatz und
die Kameradschaft geprägt wird.
## Die Polizeigeschichte der Zukunft
Schlimmstenfalls bilden sich so Grüppchen innerhalb der Polizei, die sich
gemeinsam radikalisieren und ein übersteigertes Freund-Feind-Denken
entwickeln. Werden einzelne meiner Studenten irgendwann einmal auch zu
ihnen zählen? Obwohl ich es mir nur schwer vorstellen kann, wird es die
Zeit zeigen. Als angehende Führungskräfte der bayerischen Polizei werden
sie nicht zuletzt für das Befinden ihrer Untergebenen verantwortlich sein
und solche Vorgänge zu verhindern haben.
Jeder von ihnen hat es in der Hand, an den künftigen Kapiteln der
Polizeigeschichte mitzuschreiben. Im Rahmen seiner Möglichkeiten kann jeder
Einzelne für sich bestimmen, wie diese aussehen sollen.
Die Vergangenheit zeigt, welche katastrophalen Folgen es haben kann, wenn
Polizisten ihre Macht missbrauchen, Befehle blindlings befolgen und ihre
Karriere über Menschenleben stellen. Dahingehend müssen die Gesetzeshüter
von heute und morgen sensibilisiert werden.
An ihren Lehranstalten dominieren jedoch andere Themen, die Geschichte
ihrer Institution kommt in der Ausbildung viel zu kurz. Ein Allheilmittel
ist sie nicht. Wer sich als Gesetzeshüter mit ihr auseinandersetzt, ist
nicht davor gefeit, politisch abzudriften, selbst gegen das Gesetz zu
verstoßen und eine Gefahr für Bürgerinnen und Bürger zu werden, statt sie
zu schützen.
[4][Aber die Erinnerungskultur muss gerade innerhalb der Polizei intensiver
gepflegt werden], um ihre Angehörigen und damit auch uns so gut wie nur
möglich davor zu bewahren, selbst zum Gegenstand weiterer dunkler Kapitel
ihrer Geschichte zu werden.
19 Jul 2019
## LINKS
[1] /Polizeiausbildung-in-Berlin/!5512632
[2] /Ausstellung-zu-Polizei-und-Holocaust/!5590337
[3] /Drohungen-gegen-Seda-Baay-Yildiz/!5607827
[4] /Offener-Brief-zu-Gestapo-Gedenkort/!5514192
## AUTOREN
Sven Deppisch
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Polizei
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Geschichte
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Schwerpunkt Rechter Terror
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