# taz.de -- Arbeitsbedingungen in Nagelstudios: Schlimme Finger | |
> Die Arbeit in Nagelstudios liegt in Berlin in vietnamesischer Hand. Nach | |
> Medienberichten über moderne Sklaverei ist die Branche in Verruf geraten. | |
Bild: Hauptsache, die Hände sind gepflegt | |
Öffnet man die Tür, riecht es nach Lösungsmitteln. Hinter den Tischen | |
arbeiten die jungen Frauen an den Händen und Füßen der Kundinnen. Es sind | |
kleine Kunstwerke aus haltbarem Gel, die sie auf die Nägel auftragen. | |
Blüten, Vogelfedern, abstrakte Muster in Weiß, Pink und Bunt. | |
Gut 1.000 Nagelstudios gibt es laut der Industrie- und Handelskammer in | |
Berlin, und oft sind es Vietnamesinnen, die dort arbeiten. Seit der RBB im | |
Juni über die Versklavung und das Verschwinden [1][vietnamesischer | |
Flüchtlingskinder] in Europa berichtete, bei der Nagelstudios | |
offensichtlich eine Rolle spielen, steht die Branche im Verruf. | |
Stellt man sich als Presse in einem Nagelstudio vor, will niemand sprechen. | |
„Ich kann kein Deutsch“, sagt eine Studioinhaberin aus Lichtenberg zur | |
Begründung. Die taz hat viele Türen von Nagelstudios geöffnet. Nirgendwo | |
gibt es Antworten. | |
Der Grund für die Verschwiegenheit lässt sich erahnen, wenn man in | |
Facebook-Gruppen Berliner Vietnamesen liest: Dort werden die Berichte über | |
verschwundene vietnamesische Kinder, über Schwarzarbeit in Nagelstudios | |
und über das [2][Dong Xuan Center] in Lichtenberg als Drehscheibe des | |
Menschenhandels als Fake News abgetan. Dahinter stecke eine böswillige | |
Strategie der deutschen Medien, um die von Vietnamesen dominierte | |
Nagelstudiobranche systematisch zu zerstören. | |
## Eine schwere Arbeit | |
Dann findet die taz doch einen Mann, der sprechen will. Er arbeitet als | |
Buchhalter, viele seiner Kundinnen sind Nageldesignerinnen. Die Autorin | |
kennt den Mann seit Jahren flüchtig, er hat sich erbeten, dass sein Name | |
nicht genannt werden darf. Nennen wir ihn Nhat. | |
„Das ist eine sehr schwere Arbeit“, sagt Nhat über die Branche. „Man | |
braucht großes Fingerspitzengefühl. Die Augen müssen hundertprozentig in | |
Ordnung sein. Und man muss bereit sein, sich selbst auszubeuten.“ Denn bei | |
Preisen um die 10 Euro für eine halbe Stunde Maniküre und 23 bis 30 Euro | |
für künstliche Fingernägel bleibt den Nageldesignerinnen nicht viel übrig. | |
Gesetzlicher Mindestlohn? Nicht machbar, findet der Mann. „Man muss weniger | |
Arbeitsstunden aufschreiben als die 50 Wochenstunden, die in vielen Fällen | |
geleistet werden, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen.“ | |
Warum dennoch viele Vietnamesinnen diese Arbeit verrichten, weiß Nhat | |
auch: Von den Endkundinnen abgesehen, liege die Branche von A bis Z in | |
vietnamesischer Hand. Wer hier arbeitet, muss nicht Deutsch sprechen. Und | |
das können viele Vietnamesinnen nicht. Ein Recht auf Integrationskurse | |
oder gar eine Verpflichtung dazu gibt es in Deutschland erst seit 2005. | |
Vorher hieß es: Ein Aufenthaltsrecht bekommt nur, wer seinen | |
Lebensunterhalt selbst verdient. Wer also schon länger hier lebt, hat in | |
der Regel nie richtig Deutsch gelernt. Und auch manche neuere Zuwanderinnen | |
tun sich schwer damit. | |
Da ist es praktisch, dass man die Chemikalien und Ladenausrüstungen bei den | |
vietnamesischen Landsleuten im Dong Xuan Center kaufen kann. Auch die | |
Ausbildung findet bei Landsleuten statt. Das heißt, Nageldesignerin ist | |
eigentlich kein klassischer Ausbildungsberuf. Normalerweise wäre so eine | |
Ausbildung kostenpflichtig. „Vietnamesinnen behelfen sich da anders“, weiß | |
Nhat. „Man lernt voneinander. Man ist in der Praxis Azubi im Nagelstudio in | |
Vollzeit, wird aber nur als Minijobber bezahlt.“ Doch dieses „Behelfen“ | |
verstößt gegen deutsches Recht. | |
## Viele Abbrecher | |
Laut Nhat brechen viele angehende Nageldesignerinnen ihre Ausbildung wieder | |
ab. Weil ihnen die Fingerfertigkeit fehle, weil sie allergisch auf die | |
Chemikalien reagieren oder auch weil das Jobcenter etwas anderes mit ihnen | |
vorhat. | |
Denn für das Jobcenter sind die Auszubildenden eben Minijobberinnen, die | |
ergänzende Sozialleistungen beziehen. Sehr oft werden sie zu Maßnahmen | |
eingeladen. Während der Tage, an denen ihre Arbeit nicht durch einen | |
Arbeitsvertrag abgedeckt ist, sollen sie ihren Sprachstand und ihre | |
sonstigen Kenntnisse für Jobs testen lassen, für die in Berlin dringend | |
Arbeitskräfte benötigt werden, und Deutsch lernen. Das ist dann Pech für | |
die Chefs im Nagelstudio: Statt an sechs Tagen in der Woche kämen die | |
Auszubildenden dann nur noch an zwei Tagen ins Nagelstudio. | |
Viele Chefinnen würden dann plötzlich einen vollen Arbeitsvertrag | |
ausstellen. Eine gute Lösung auch für das Jobcenter, das dann eine | |
Transferleistungsempfängerin weniger hat. Und für andere angehende | |
Nageldesignerinnen tun sich durch die Angebote der Jobcenter plötzlich | |
andere Berufsperspektiven auf. Sie sind weg. „Geringfügig beziehungsweise | |
in Teilzeit beschäftigte Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II werden hier | |
gezielt unterstützt, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, um ein existenzsicherndes | |
Einkommen zu erzielen“, sagt Andreas Ebeling von der Bundesagentur für | |
Arbeit der taz. Bei der Zielgruppe funktioniere das meist über Sprachkurse. | |
## Spuren nach Berlin | |
Aber werden dann, wenn die Mitarbeiterinnen weg sind, in den Nagelstudios | |
die Kinder und Jugendlichen eingestellt, die in der Illegalität leben? | |
„Dazu möchte ich nichts sagen“, erklärt Nhat. Die Fälle, in denen Medien | |
über dieses Phänomen berichteten, stammen aus dem Westen Deutschlands, aber | |
Spuren sollen dem Zoll zufolge nach Berlin führen. Als Beamte des | |
Hauptzollamts Krefeld im Mai 27 Nagelstudios in ganz Nordrhein-Westfalen | |
kontrollierten, trafen sie 26 vietnamesische Frauen an, die in Deutschland | |
weder eine Aufenthaltserlaubnis hatten noch einen Asylantrag gestellt | |
hatten. Fünf von ihnen waren unter 18 Jahre alt. Nur ein Beispiel unter | |
vielen. Die niedrigen Preise im Nagelstudio kommen nicht von ungefähr. | |
In sozialen Netzwerken Berliner Vietnamesen wird die These, dass hier | |
Kinder in sklavereiähnlichen Verhältnissen ausgebeutet werden, vehement | |
zurückgewiesen. Aber das passiert ausschließlich in vietnamesischer | |
Sprache. Mit der Presse will niemand darüber sprechen. Erstens seien das | |
keine Kinder und Jugendlichen, sondern junge Erwachsene, die behaupten, | |
minderjährig zu sein, so ein häufiges Argument. Minderjährigkeit bringe im | |
Asylrecht Vorteile. Und zweitens handle es sich nicht um Ausbeutung, | |
sondern um Hilfe für Neuankömmlinge. Oft würden Arbeitgeber und illegal | |
Beschäftigte einander bereits aus Vietnam kennen und sich einander | |
verpflichtet fühlen. | |
19 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Vermisste-vietnamesische-Fluechtlinge/!5602329 | |
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## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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