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# taz.de -- Die Grünen als Demokratielabor: Der lange Weg zur Macht
> Um das Land zukunftsfähig zu machen, müssen politische Entscheidungen
> breiter getragen werden. Die Grünen könnten das schon mal üben.
Bild: Das grüne Spitzen-Traumduo könnte auch demokratisch neue Akzente setzen
Sie „sehen sich an. Sie lächeln. Sie gucken wieder nach vorn“, und das „…
Eloquenz und Augenmaß, mit Empathie und Visionen“. Nicht nur im Stern
[1][schwärmt das progressive Deutschland] für sein demokratisches
Königspaar Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne).
Aber die Gegner schlafen nicht. Nicht die vom Focus, wo der altgediente
Bild-Kolumnist Müller-Vogg zum Feministen wird und die Fans von Annalena
aufstachelt; nicht die brandenburgische Verfassungsrichterin Juli Zeh, die
in der Radikalität beim Klimaschutz eine die Gesellschaft spaltende Gefahr
sieht; nicht die Bild-Zeitung, die den Chef (!) der Meckerpartei in
Neuwahlen treiben möchte; nicht Bernd Stegemann, der Gründer von
„Aufstehen“, der der grünen Konkurrenz billigen Populismus vorwirft. Und
selbst ein Kommentator der Zeit bescheinigt ihnen „kokette Unklarheit“.
Wer wird Kanzlerkandidat? Mit wem wird eine siegreiche grüne Partei
koalieren? Was kosten ihre Versprechen? Es sind die immer selben Fragen,
die seit den Erdrutsch-Erfolgen an den Grünen nagen und jede inhaltliche
Debatte überlagern. Natürlich fragt man sich da, wie lange die Partei und
ihr Spitzenpersonal [2][den Hype aushalten]. Bis jetzt hat er im Innern der
Partei noch keine neuen Fronten aufgerissen.
Erfolg macht diszipliniert und einig, jedenfalls an der Oberfläche. Aber
bis zum Herbst 2021 ist es noch lange hin – und ob der Applaus anhält, den
Baerbock und Habeck zurzeit selbst bei Industriellenverbänden und
Handwerkskammern kassieren, ist fraglich, wenn es konkreter werden muss.
Und das wird sich kaum vermeiden lassen.
## Gefangen im real existierenden Parlamentarismus
Tatsache ist: Es müssen ganze Systeme umgebaut werden, wenn dieses Land
zukunftsfähig werden soll. Das Drehen an kleinen Rädern reicht nicht mehr:
nicht beim Klimaschutz, sprich bei Landwirtschaft und Verkehr; nicht bei
den Grundstückspreisen in den großen Städten; nicht bei der Digitalisierung
und ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt; nicht in einer rasant alternden
Gesellschaft; nicht bei der Regulierung der Migration.
Überall geht es um Systemwechsel, um die schmerzhafte Korrektur von
eingespielten Erwartungen und Gewohnheiten. Und selbst, wenn man davon
ausgeht, dass „es eine Sehnsucht danach gibt, dass etwas passiert, auch
etwas Großes, woran man freudig teilhat“ (Habeck), nach einem Aufbruch
also, dann ist es angesichts der zu erwartenden Weiterungen eines solchen
Aufbruchs riskant, konkret zu werden.
Jedenfalls, wenn man in den Strukturen des real existierenden
Parlamentarismus gefangen bleibt. Solange Wahlen aufgrund von
konkurrierenden Wohlfahrtsversprechen gewonnen wurden, konnten die alten
Volksparteien die großen Probleme nicht in der gebotenen Radikalität
thematisieren, geschweige denn mit großen Reformen angehen.
Auch in sich waren sie gespalten: die CDU in Wertkonservative, Anhänger der
christlichen Soziallehre und Wachstumsgläubige; die SPD in ökologisch
Aufgeklärte, traditionelle Sozialpolitiker und New-Labour-Linke; und auch
die Grünen: in Realos und Fundis, Freunde des grünen Wachstums und
Radikalökologen.
## Aufbruch braucht Bruch
Niklas Luhmann erkannte bereits 1994, dass diese Parteienordnung zu großen
Reformen nicht fähig sei. Man müsste, so folgte es aus seiner Analyse, die
existierenden Parteien gleichsam in der Mitte durchschneiden und neu
zusammensetzen: in eine Partei der Weitermacher und eine, die es schafft,
die Sorgen in Politik zu verwandeln, „die in den neuen sozialen Bewegungen
zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme,
oder Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender
Gewaltbereitschaft, mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“.
Angesichts der Eigenlogik des Parteiensystems bleibt das freilich
abstraktes Gedankenwerk.
Ein echter Aufbruch setzt einen Bruch mit der herrschenden Variante der
politischen Entscheidungsfindung voraus. Große Systemveränderungen lassen
sich nicht mit einfachen parlamentarischen Mehrheiten durchsetzen, sie
bedürfen gesellschaftlich breit getragener Konsense. Und die erzeugt man
nicht durch zweistündige Bürgerforen, aus denen die Spitzenpolitiker
„Anregungen mitnehmen“. Sondern, indem man die Vertreter konfligierender
Interessen zur Zusammenarbeit bringt, wie es der Soziologe Armin Nassehi
erst [3][jüngst in der taz] vorschlug.
Wie könnte das aussehen – schon vor einem Wahlsieg? Ich stelle mir einen
über zwei Jahre sich streckenden Probelauf für „grünes Regieren“ vor. In
ihm würde die Partei, quer zu Organisationsgrenzen, Zukunftswerkstätten
abhalten, in denen Spezialisten und Bürger mögliche Lösungen für die großen
strukturellen Probleme erarbeiten, Zwänge und Ziele aneinander messen,
Pfade der Reform erkunden. Einladen müssten die Grünen dazu die
Aufbruchswilligen aus Verbänden, Gewerkschaften und Verwaltungen – denn die
sind, wie die Parteien, schon lange gespalten in Strukturkonservative und
Changemaker.
So könnten aufgeklärte Unternehmer und Gewerkschafter, Soziologen und
Ökonomen sich ergebnisorientiert Gedanken über die Zukunft der Arbeit
machen; Klimaforscher, Konsumenten, Landwirte und Ökologen über eine
zukunftsfähige Agrikultur; Architekten, Investoren, Verkehrsexperten,
Genossenschaftsgründer und Städtebewohner zusammen über den Umbau der
Städte nachdenken.
Ein solcher langer Wahl-„Kampf“ der bürgerschaftlichen Vernunft schlösse
die Lücke zwischen den Funktionseliten, den Bürgern und der Politik. Die
Partei, die das unternähme, wäre, ganz im Geist des Grundgesetzes,
Initiatorin verbindlicher gesellschaftlicher Willensbildungen. Das könnte
eine neue Form des Regierens vorbereiten – notwendig in Zeiten großer
Veränderungen. Professionell in Szene gesetzt, könnte das den Druck von den
beiden Superstars nehmen, die gesellschaftliche Basis der Grünen erweitern
und die dümmsten Attacken delegitimieren.
10 Jul 2019
## LINKS
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-waehlen-robert-habeck-und…
[2] https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/gruenen-und-rob…
[3] /Soziologe-ueber-Klimawandel/!5600327
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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europawahl Politik
Schwerpunkt Klimawandel
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