# taz.de -- Innovationsstadt Medellín in Kolumbien: Der neue Metrobürger | |
> Medellín ist das kolumbianische Silicon Valley. Nicht zuletzt ihrer | |
> Metrokultur hat die Stadt ihre neuen Strukturen zu verdanken. | |
Bild: Früher galt Medellìn als gefährlich – jetzt wurde die Stadt als „i… | |
MEDELLÍN taz | Medellín gibt es zweimal. Da ist zum einen das Medellín der | |
unzähmbaren Straße, die immer etwas dreckig und für manche bedrohlich ist. | |
Und da ist das Medellín, das zur innovativsten Stadt der Welt gewählt | |
wurde: technologisch, organisiert, kreativ-produktiv. Von der Stadt Pablo | |
Escobars mit der höchsten Mordrate der Welt noch 1991 zu einer Metropole, | |
die international mitspielen will. Einkaufszentren sind entstanden, | |
benachbart von Thinktanks und Start-ups. | |
Der vielleicht wichtigste Motor dieses schönen neuen Medellíns ist die | |
Metro – das Netz von Straßen-, Hoch- und Seilbahnen, die die kolumbianische | |
Millionenmetropole durchqueren. Gegründet wurde diese Metro im Jahr 1995 – | |
zwei Jahre nach dem Tod Escobars. Heute steht die Metro in Medellín für | |
Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung. Ein Kontrapunkt zur „dreckigen Straße“. | |
Dass das so kam, hat mit einem Verhaltenskodex zu tun, den die Stadt seit | |
nunmehr 30 Jahren in den Zügen und auf den Bahnsteigen durchsetzt: die | |
„Cultura Metro“. | |
Feierabendverkehr. Stoßzeit in der Station San Antonio, Drehkreuz des | |
Nahverkehrs. Hier treffen Geschäftsleute auf Fabrikarbeiter*innen und | |
Beamte auf Tagelöhner, bevor die einen in den reicheren Süden und die | |
anderen in den ärmeren Norden fahren. Täglich nutzen eine Million | |
Passagiere die Metro, jede*r Vierte in der Region. Der Bahnsteig ist | |
grenzwertig voll – und trotzdem warten alle in geordneten Reihen. Überall | |
ist es penibel sauber. Auch in der Metro, steril glänzen die Sitze. Im Zug | |
schweigen sich die Menschen an, Kopfhörer auf den Ohren und Blicke nach | |
unten gerichtet, wo sonst in Medellín im öffentlichen Raum laut | |
telefoniert, gelacht und gesungen wird. | |
„Sich anders zu bewegen verändert die Mentalität“, sagt Jairo Gutierres, … | |
seinem Schreibtisch sitzend. Gutierres ist dafür zuständig, die Cultura | |
Metro bei den Anwohner*innen der Stationen zu verbreiten. Gutierres hat | |
ordentlich gegelte Haare, trägt Hemd, ist glatt rasiert. Stolz sagt er: | |
„Heute ist die Metro von Medellín eine Referenz für die Stadt, das Land, | |
die ganze Welt.“ Viele Medellíner sind stolz auf ihre gepflegte Metro und | |
das vorzügliche Benehmen ihrer Fahrgäste. Als ein Graffiti-Künstler letztes | |
Jahr beim Versuch, die Metro etwas bunter zu machen, von einem Zug | |
totgefahren wird, folgte in den sozialen Medien der Shitstorm: Wer die | |
Metro verschandelt, habe das verdient, hieß es dort. | |
## Geburtsstunde der Cultura Metro | |
Die Idee zur Cultura Metro entstand schon, da war die Metro selbst noch gar | |
nicht fertig. Durch eine Pannenserie drohte das Projekt noch vor Eröffnung | |
zu scheitern. Zunächst war bei der Bauauftragsvergabe an ein | |
deutsch-spanisches Konsortium unter der Leitung von Siemens Korruption im | |
Spiel, dann verzögerte sich die Eröffnung um fünf Jahre und die Kosten | |
explodierten. Die Metro ist bereits unbeliebt, da fährt noch kein einziger | |
Wagen. Also starten die städtischen Betreiber eine „Liebe die | |
Metro“-Kampagne. Es ist die Geburtsstunde der Cultura Metro. „Wir sind von | |
Haus zu Haus gezogen und haben die Leute befragt, wie sie sich ihre Metro | |
wünschen“, erinnert sich Gutierres, „Und wenn sie das Gefühl haben, es ist | |
ihre, passen sie darauf auf und benehmen sich gut“, erklärt er. | |
Was die „Metrokultur“ sein soll, das ist in einem 70-seitigen Buch | |
niedergeschrieben. Dort heißt es: „Die Cultura Metro ist eines der | |
wichtigsten soziologischen Phänomene der jüngeren Geschichte Kolumbiens.“ | |
Das Leitbild wird wie folgt beschrieben: „In den ersten sechs Jahren des | |
Betriebs hat die Metro Verhaltensweisen wiederbelebt, die zu Ordnung, | |
Solidarität, Sauberkeit, Achtsamkeit und Disziplin führen.“ | |
Dass die Regeln eingehalten werden, wird durch sich ständig wiederholende | |
Verhaltensanweisungen sichergestellt. So sagt einer der Metropolizisten, | |
die an jeder Station stehen, alle zwei Minuten: „Bitte denken Sie daran, | |
aus Sicherheitsgründen nicht die gelbe Linie zu überschreiten.“ Die enorme | |
Polizeipräsenz in der Metro sollte anfangs den Menschen in einer unsicheren | |
Stadt das Vertrauen geben, in Ruhe das öffentliche Transportmittel nutzen | |
zu können. | |
Tatsächlich hat die Metro das Sicherheitsgefühl in der Stadt erhöht. | |
Metrovertreter Gutierres berichtet, wie jüngst neben ihm eine Mutter ihr | |
Kind in der Station zurückließ, um einkaufen zu gehen. Neben den Polizisten | |
patrouilliert an jeder Station eine Putzkraft. Die Idee: An einem sauberen | |
Ort verhalten sich die Menschen auch sauberer. Anfangs braucht es noch die | |
Androhung von Strafe, später verinnerlichen die Leute die Normen. | |
## Die Cultura Metro | |
Wer heute in der Metro isst, der wird von den anderen Fahrgästen auf das | |
Fehlverhalten hingewiesen, und an der Station San Antonio warten die | |
Menschen bereits in ordentlichen Reihen, nur noch selten braucht es dafür | |
den Hinweis eines „Cultura-Metro-Promoters“, der mit einem freundlichen | |
Lächeln den Fahrgästen an den zentralen Stationen die Regeln erklärt,. „Wir | |
sind eine öffentliche Firma und die Cultura Metro wurde von den Bürgern | |
selbst gefordert“, meint Gutierres. „Die sagten: ‚Wunderbar, bringt uns | |
bei, wie wir uns in der Metro verhalten sollen‘.“ | |
Die Cultura Metro funktioniert in den Anfangsjahren so gut, dass sie zum | |
Vorbild für ganz Medellín wird. „Wir zeigen, dass ein anderes Benehmen | |
möglich ist“, sagt Gutierres. Die Cultura Metro radikalisiert sich, ab | |
sofort soll sie auch außerhalb des Metrosystems gelebt werden. Das Programm | |
„Metrofreunde“ für Kinder wird gestartet und in den Vierteln der Stadt | |
werden Jugendliche zu „Multiplikatoren der Cultura Metro“ ausgebildet. | |
Während in den traditionellen Bussen die Fahrer ihre Boxen schon mal mit | |
Reggaeton ausreizen, erklingen in der Metro dezent Klassiker der englischen | |
Popmusik. „Ooh baby, baby its a wild world“, säuselt Cat Stevens zwischen | |
zwei Drehkreuzen. Die „wild world“ ist draußen, außerhalb des Metrosystem… | |
Drinnen lässt ihr die Metropolizei keinen Platz. „Señor, den Kaffee können | |
sie nicht mitnehmen“, sagt ein Metropolizist. Und an der nächsten Station | |
sagt ein anderer zu einem weinenden Mädchen „Señorita, beruhigen Sie sich | |
bitte etwas, bevor Sie einsteigen.“ | |
In der Metrobibel liest man: „Es ist oft zu sehen, dass Personen an | |
besonderen Orten wie Kirchen, Krankenhäusern oder Friedhöfen ein korrektes, | |
gut erzogenes und harmonisches Verhalten an den Tag legen. Wenn sie diese | |
Orte verlassen und auf die Straße gehen, fallen sie zurück in eine | |
ungeordnete, aggressive und nachlässige Verhaltensweise.“ Gutierres sagt: | |
„Die Pathologien der Stadt sind Überfälle, Betteln und Obdachlosigkeit.“ | |
Stattdessen solle „ein neuer Metrobürger entstehen“. | |
## Dauerhafte Überwachung | |
„Cultura Metro ist neoliberale Stadtpolitik“, sagt Melissa Saldarriaga, | |
Professorin für Politikwissenschaft an der Universidad de Antioquia. Auch | |
sie nimmt für ihren täglichen Weg zum Campus im Zentrum die Metro. | |
Saldarriaga forscht zu marginalisierten Gruppen in Medellín und hat ein | |
Faible für das Improvisierte, Spontane und Selbstorganisierte in der | |
Stadt. Ihr mache es Angst, wie die Cultura Metro und ihre Promoter die | |
Bürger*innen nach ökonomischen Interessen umerziehen wolle. „Die Leute | |
sollen homogenisiert werden.“ | |
Wenn Saldarriaga in der U-Bahn steht, versucht sie sich gegen die | |
Anweisungen der Metrokultur zu sträuben, das sei aber hoffnungslos, sagt | |
sie: „Wenn du ständig hörst, was du machen sollst – machst du’s irgendw… | |
Dagegen kannst du dich gar nicht wehren.“ Normen würden subtil | |
indoktriniert, verinnerlicht und reproduziert. „Nicht nur die Kameras | |
überwachen uns, sondern auch wir uns selbst.“ | |
Gleichzeitig sei die hier propagierte Form von Entwicklung ausschließend, | |
meint die Professorin. Nicht nur innerhalb der Metro. So sei beim jüngsten | |
Bau einer Straßenbahnlinie dafür gesorgt worden, dass das öffentliche Leben | |
der Straße mit seinen informellen Tätigkeiten, der Prostitution und den | |
Bettlern auch aus der Umgebung der Bahn verschwinde. Die Metro ist | |
ausgerichtet an Investoren und Touristen. Obdachlosen und Betrunkenen | |
hingegen wird der Zutritt verwehrt. | |
Jene, die die straffe Ordnung einengend finden, bekommen die Grenzen der | |
Metrotoleranz zu spüren: Als 2014 ein Geiger in der Metro spielte, warfen | |
ihn Polizisten aus der Bahn. Das Video landete im Internet, und da meldeten | |
sich jene, die kein Verständnis für die Cultura Metro haben, und posteten | |
ihre Erfahrungen mit der Cultura Metro. Darunter ein Vater, der seinem | |
schreienden Kind das Fläschchen gab und von einem Polizisten erinnert | |
wurde: Das Trinken ist in der Metro nicht erlaubt. | |
9 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Fabian Grieger | |
Katharina Rodriguez | |
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