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# taz.de -- Film über die Zerstörung der Erde: Bestandsaufnahme der Verwüstu…
> Nikolaus Geyrhalter dokumentiert in „Erde“ den Raubbau an der Natur und
> konfrontiert Menschen mit ihren Widersprüchen.
Bild: Dystopien der Gegenwart: Geyrhalters Film „Erde“ dokumentiert die Zer…
216 Millionen Tonnen Material werden Tag für Tag an der Erdoberfläche
bewegt. 156 Millionen Tonnen davon bewegt der Mensch. Diese Zahlen werden
in „Erde“, dem neuen Film des österreichischen Dokumentarfilmers Nikolaus
Geyrhalter, gleich zu Beginn genannt, bevor er uns nach Kalifornien führt.
Nach San Fernando Valley, nordwestlich von Los Angeles, um genau zu sein.
Dort arbeiten Bauarbeiter mit schwerem Gerät daran, „Berge zu versetzen“.
Auf einer Fläche von 2.000 Hektar wird Erdmaterial abgetragen und
umverteilt, um Platz zu machen für den Bau einer neuen Siedlung. Die
riesigen Bulldozer wirken wie Ameisen auf den Erdmassen.
Während seine Kollegen davon schwärmen, dass es für die menschliche Kraft
der Veränderung keine Grenzen gibt und dass sie sich vorkommen wie ein
großes Kind in einem riesigen Sandkasten, ist einer der Arbeiter
zögerlicher. Der gebürtige Kalifornier sieht die Landschaften seiner Jugend
weichen. Wo jetzt eine Stadt entstehen soll, war früher ein Dorf, das der
Baustelle weichen musste. Mehr Grün wäre schön, wenigstens ein bisschen um
die Häuser, aber das scheint ihm – kaum hat er es ausgesprochen – nicht
realistisch.
Geyrhalter entwirft in „Erde“ ein Panorama des globalen Materialabtrags. In
den verschiedenen Formen des Abbaus wiederholen sich die Bilder. Wenige
Menschen bauen mithilfe gigantischer Maschinen Erd- und Gesteinsmassen ab.
Die Tunnelbohrmaschine im Brennerbasistunnel wetteifert mit einem riesigen
Tagebaubagger nahe dem ungarischen Gyöngyös um die Größe, die Bagger im
Marmorsteinbruch im toskanischen Carrara wirken im Kontrast vertraut und
klein.
Bisweilen droht die Gewalt der Bilder erschlagend zu wirken. Doch „Erde“
ist nicht DMAX – die Größe der Maschinen kein Selbstzweck; Geyrhalters Film
schwelgt nicht in Gigantomanien der Mechanik, sondern unternimmt eine
Bestandsaufnahme der Verwüstung des Planeten.
## Präzision und weiter Blick
Geyrhalter rhythmisiert seinen Film durch wiederkehrende Strukturen. Zu
diesen gehört das Aufeinandertreffen zweier Arten von Arbeitern. Jenen, die
die menschliche Kraft der Veränderung preisen und jenen, denen die
Ambivalenz ihres Tuns bewusst ist. Einer der Arbeiter, die den
Schaufelradbagger im Tagebau Visonta nahe dem ungarischen Gyöngyös
bedienen, erzählt hoch oben in der Schaltzentrale des Baggers, dass er im
Urlaub in den Bergen war und das Gletscherschmelzen nun selbst gesehen hat.
Unumwunden gibt er zu, dass der Braunkohleabbau ein Faktor ist, der dazu
beiträgt. Ein paar Meter unter ihm, am Strom des abgebauten Gerölls,
erklärt ein Arbeiter: „Ehrlich gesagt, fühle ich mich kaum mit dem Baum
verbunden. Er ist ein Gegenstand, der weggebaggert werden muss.“ Zwei
Menschen und ihre Gedanken inmitten einer Mondlandschaft.
Die Kupferminen im andalusischen Minas de Riotinto kommen ohne
Großmaschinen aus. Stattdessen sehen wir die Arbeiter hinter dem jeweils
größtmöglichen Gegenstand in der Landschaft Deckung suchen, wenn der
hügelige Boden aufgesprengt wird, um an das Kupfererz zu gelangen. Eine
leitende Angestellte lobt die Veränderungen im Bergbau. Früher habe man die
Abwässer einfach ins Meer gekippt, das werde heute weniger.
Der Aufbau der einzelnen Episoden bleibt weitgehend gleich: Geyrhalter
etabliert den Ort, skizziert die jeweiligen Verrichtungen und Abläufe,
befragt einige Arbeiter. Wie in früheren seiner Filme mit episodischer
Struktur wie „Elsewhere“ (2001) oder „Homo Sapiens“ (2016) steht das
Scheitern durch Beliebigkeit auch in „Erde“ immer wieder mal im Raum.
Geyrhalter bewahrt auch seinen neuen Film vor dem Kippen ins Beliebige
durch die Präzision der Bilder und Interviewmomente, in denen alles, was
über die Situation zu sagen wäre, von den Befragten gesagt wird.
Geyrhalter bleibt sich treu in „Erde“. Das betrifft die Gestaltung des
Films, aber auch den Inhalt. Auch „Erde“ arbeitet wie die bisherigen Filme
Geyrhalters den roten Faden in jeder Episode aufs Neue aus den Bildern des
Gezeigten heraus, ohne dass ein Kommentar notwendig wäre. Die Bilder sind
meist mit kurzen Brennweiten gedreht, die die Weite des Blicks betonen.
Schnitte in den Interviewsequenzen werden nicht mit Zwischenschnitten
überdeckt, sondern durch kurzes Schwarzbild markiert. Die Gemachtheit der
Bilder wird deutlich.
## Dystopien der Gegenwart
Vor einigen Jahren hat Alejandro Bachmann einen Sammelband mit einem
Überblick über Geyrhalters Werk vorgelegt. Dort beobachtet Bachmann gleich
eingangs: „Man sieht überdeutlich immer durch eine bestimmte Form auf die
Welt, die Welt erscheint uns immer durch diese Form. Weil sie es betonen,
fasziniert an den Filmen Nikolaus Geyrhalters genau das, was am Kino
ohnehin das Spannendste […] ist: jener (nur scheinbare) Widerspruch
zwischen seinem Potenzial, die Welt aufzuzeichnen und den Möglichkeiten des
formalen, künstlerischen Eingriffs – Dichtung und Wahrheit.“ Die Bilder in
„Erde“, wie die in den anderen Filmen Geyrhalters, dokumentieren Gesehenes
und verfertigen in der Montage daraus Gedachtes.
Die Dystopien der Gegenwart ziehen sich durch Geyrhalters Werk von
„Pripyat“, dem Porträt der Stadt fünf Kilometer neben Tschernobyl, über …
Blick auf die industrialisierte Nahrungsmittelindustrie in „Unser täglich
Brot“ und den erfreulicherweise ungebauten Grenzzaun am Brenner, den „Die
bauliche Maßnahme“ von 2018 begleitet. Wie die Labore in „Unser täglich
Brot“ (2005) sind auch die Mondlandschaften nach erfolgtem Abtrag in „Erde�…
ein globales Phänomen.
Einmal weicht Geyrhalter dezidiert von der üblichen Struktur der Episoden
ab. Im ehemaligen Salzbergwerk Asse bei Wolfsbüttel ist der Abbau
abgeschlossen. Seit 1965 wird dort nicht länger Salz abgebaut, sondern
Atommüll eingelagert. Die Forschungseinrichtung wurde über 30 Jahre in ein
Quasi-Endlager umgewandelt, ohne dass die Voraussetzungen dafür gegeben
gewesen wären. Seit 2013 ist beschlossen, dass der Atommüll zurückgeholt
werden soll. Die Einfahrt in den Schacht der Asse mit einem Fahrstuhl
läutet gleichsam einen Einschub in dem Film ein, der die Hybris der
Planbarkeit extrem langfristiger Prozesse umkreist.
„Erde“ von Nikolaus Geyrhalter ist eine bildgewaltige Momentaufnahme der
Zerstörung. Der Chef des Marmorsteinbruchs von Carrara erklärt im Gespräch,
seitdem Bagger beim Marmorabbau eingesetzt würden, verändere sich der
Steinbruch so schnell, dass man ihn nach zwei Wochen nicht wiedererkenne.
„Erde“ zeigt die Instrumente für eine Welt, die wir bald nicht
wiedererkennen könnten.
4 Jul 2019
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Dokumentarfilm
Bergbau
Erde
Umwelt
Indien
Atommüll
Afrika
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