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# taz.de -- Kommentar CDU und Politik der Mitte: Die Mitte. Für alle.
> Die CDU erhebt Anspruch darauf, Politik für „die Mitte der Gesellschaft“
> zu machen. Aber wer soll das eigentlich sein? Und: Ist das noch
> zeitgemäß?
Bild: Die Kanzlerin und ihre Raute: „Die Mitte.“ Mit Punkt. Ohne Widerrede
Die Mitte der Gesellschaft ist ein diffuser Ort. Ihn zu finden ist gar
nicht so einfach, sogar geografisch gesehen. Die Mitte Deutschlands liegt
irgendwo im südöstlichen Niedersachsen, im östlichen Hessen oder im
westlichen Thüringen – es ist schwer zu sagen. Das liegt daran, dass es
verschiedene kartografische Darstellungen Deutschlands gibt, und hängt
davon ab, auf welche Weise man die Inseln beziehungsweise Halbinseln in
Nord- und Ostsee in die Berechnung der Ausgangsfläche mit einbezieht.
Viele Orte erheben Anspruch auf das Label „Mittelpunkt Deutschlands“. Alle
wollen Mitte sein. Die Mitte ist schön. Die Mitte ist wichtig.
In der Politik ist das ähnlich – allerdings werfen da weniger Parteien
ihren Hut in den Ring. Lediglich Union und SPD müssen sich um die Mitte
streiten, wobei die Union das Mitte-Marketing stringenter betreibt: Da
steht sie, die Kanzlerin mit ihrer Signature-Raute, vor dünnen
Aufstellwänden mit der Aufschrift „Die Mitte.“, mit Punkt, ohne Widerrede.
Und nicht nur Angela Merkel setzt auf diese Erzählung. Zuletzt sagte
Annegret Kramp-Karrenbauer bei „Anne Will“, als es um mögliche
Koalitionsbestrebungen mit der AfD auf Landesebene ging: „Die CDU ist genau
dort, wo sie hingehört. In der gesellschaftlichen Mitte.“ Dass damit nicht
der geografische Mittelpunkt Deutschlands gemeint ist, ist klar. Alles
andere ist jedoch vollkommen uneindeutig.
## Euphemismus für bräsige Durchschnittlichkeit
Würde es um die politische Mitte gehen, ließe sich das Anspruchsverhalten
der CDU noch irgendwie erklären. Die politische Mitte ist zwar uneindeutig,
aber eben irgendwo auf dem Spektrum zwischen links und rechts. Fraglich
aber, was geschieht, wenn die eindimensionale Vorstellung einer politischen
Bandbreite von links über alles Mögliche dazwischen bis rechts nicht mehr
greift.
Wenn politische Einstellungen zu einem dreidimensionalen Mobile geworden
sind, in dem sich [1][Positionen] ständig in Abhängigkeit der jeweils
anderen neu austarieren müssen. Dann muss auch die Mitte flexibel sein,
mehr als der Pol zwischen den Extremen.
Nun geben CDUler*innen immer wieder vor, dass es nicht (nur) um die
politische Mitte gehe, sondern um die Mitte der Gesellschaft. Womöglich ist
„Mitte der Gesellschaft“ aber nicht viel mehr als ein Euphemismus für
bräsige Durchschnittlichkeit. Eine Selbstauffassung, die einen lange nicht
mehr überprüften Anspruch der Nahbarkeit und des alltagsbezogenen
politischen Auftrags in sich trägt.
Im Jahr 2019 wirken CDU und SPD vielleicht auch deshalb wie aus der Zeit
gefallen. [2][„Volksparteien“, danach sieht es gerade aus, können beide
nicht mehr sein.] Während die einen zum Gespött im Netz werden, tuckern die
anderen auf der Suche nach einer Doppelspitze ohne Kompass durch den Nebel.
## Der erstrebenswerte Ort der Vernünftigen
Der Zustand der ehemals tonangebenden Parteien erinnert an
Traditionsunternehmen, die es im letzten Jahrzehnt verpasst haben, sich an
neue Bedürfnisse des Personals und Lebensrealitäten potentieller Kund*innen
anzupassen. Beim beiläufigen Blick durch die Jalousien vor den Fenstern der
Parteizentralen lässt sich noch glauben, da draußen sei alles wie immer.
Drinnen ist ja schließlich auch noch vieles gleich: die Kolleg*innen, die
Hierarchie, das Faxgerät.
Die Mitte, das ist der erstrebenswerte Ort der Vernünftigen. Er steht für
etwas Urdemokratisches: für Grautöne, für Differenziertheit, Besonnenheit,
Kompromiss. In der Mitte ist man sich der irdischen Grausamkeiten und der
gesellschaftlichen Verwerfungen bewusst. Man schaut betroffen, wenn wieder
irgendwo Krieg ist. Man schüttelt den Kopf, wenn Donald Trump etwas Dummes
sagt. Man beobachtet und analysiert, weil man sich die Distanz leisten
kann.
Die Mitte ist auch der Wohlfühlort, an den sich Menschen mit ausreichend
Privilegien gern zurückziehen, um die Ränder beliebig aus- und einblenden
zu können. Wo Kompromiss vielleicht kurz zwickt, aber nicht wirklich
wehtut. Das Problem ist aber: Es stellen sich zunehmend Fragen, deren
Antwort nur Kompromisslosigkeit sein kann, wenn man sie ernsthaft angehen
will.
Die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, die drängenden
Herausforderungen der alternden Gesellschaft, die bedrohlichen Auswirkungen
der Klimakrise und die zu lange beiseitegeschobenen Angriffe rechter
Gewalttäter*innen auf diese Gesellschaft sind nur ein paar Beispiele. Auf
diese Fragen hat die CDU, die „Partei der Mitte“, keine kompromisslosen
Antworten. Weil sie Angst hat, mindestens die Hälfte ihrer
Wähler*innenschaft zu vergraulen?
## Wer gehört dazu, wer wird angesprochen?
Die Mitte der Gesellschaft sollte ein sicherer Ort sein, und zwar für alle.
Viele Unions-Politiker*innen vermitteln mit ihren Worten das Gegenteil. Da
sagt eine Annegret Kramp-Karrenbauer beim Politischen Aschermittwoch,
Toiletten für das dritte Geschlecht seien was für „Männer, die noch nicht
wissen, ob sie schon stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen“.
Und der [3][ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen],
CDU-Mitglied, tönt bei einer Rede vor der sich selbst als konservativ
bezeichnenden Werteunion, er sei „vor dreißig Jahren nicht der CDU
beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen“.
Aha. Denkt so die Mitte der Gesellschaft?
Klar, sie könnte. Und mit dieser Erkenntnis wird schließlich klar, wonach
man bei der Suche nach der Mitte zuerst fragen muss. Nämlich nach der
Gesellschaft selbst. Wer ist diese Gesellschaft, in deren Mitte
CDUler*innen angekommen sein wollen? Wer gehört dazu, wer wird
angesprochen, wer wird gehört und für wen werden Witze auf Kosten anderer
gemacht?
Eine Partei, die von sich selbst behauptet, die Mitte abzubilden, lohnt es
sich infrage zu stellen. Weil es beim Kampf um die Mitte immer auch um
Deutungshoheit und Macht geht. Und dann verhält es sich doch erstaunlich
ähnlich wie mit dem geografischen Mittelpunkt: Es macht einen Unterschied,
wer misst.
2 Jul 2019
## LINKS
[1] /Groko-und-Klimapolitik/!5596832
[2] /Debatte-Sozialdemokratie-in-der-Krise/!5596801
[3] /Rechter-Fluegel-der-Union/!5590887
## AUTOREN
Lin Hierse
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Bürgerliche Mitte
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