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# taz.de -- Fusion Festival in Lärz: Glitzern mit Dreck an den Nägeln
> Viel Aufregung gab es im Vorfeld um das Musikfestival in
> Mecklenburg-Vorpommern. Unser Autor war dort und fand eine eigene Welt
> vor.
Bild: Auch ohne Polizei vor Ort blieb es friedlich auf dem Fusion Festival
Lärz taz | Die Luft ist heiß, doch du stehst in einem schattigen
Birkenwäldchen. Die Musik ist laut, du spürst den Bass im Magen, deine Füße
tauchen beim Tanzen immer wieder in den kühlen Sand ein. Auch dein
Nebenmann ist barfuß, er reicht dir einen Joint rüber. Den Becher mit Cola
in der Hand hast du gekauft, die passende Flasche Rum dazu hast du aus
deinem Zelt mitgebracht. Du willst die Musik noch mehr spüren, und als du
dich der ersten Reihe vor der Bühne näherst, gibt es keine
Security-Schränke, die dir böse Blicke zuwerfen.
Im mecklenburgischen Lärz nahe dem Müritzsee wird jedes Jahr Ende Juni der
Hippie-Traum für 70.000 Menschen Realität. Auf einem ehemaligen
Militärflugplatz, der 1993 von der russischen Armee verlassen wurde, gibt
es seit 1997 einen „Fluchtort vor kapitalistischer Marktlogik und
repressiver Ordnungspolitik“ (Die Zeit): das Fusion Festival.
Ein Musikfestival ohne Großsponsoren und Werbung, mit vegetarischen Ständen
und geringstmöglichen Einlasskontrollen. Mittlerweile kostet ein Ticket
mehr als 140 Euro. Wer sich das nicht leisten kann, geht zum
festivaleigenen Arbeitsamt und lässt sich für Schichten einteilen. Das
Line-up wird kurz vor dem Wochenende bekannt gegeben, dennoch geht die
Ticket-Nachfrage sieben Monate zuvor stets in die Hunderttausende. Ein
„Karneval der Sinne“ schwebt den VeranstalterInnen vor, Vereine aus ganz
Deutschland gehören dazu, jeder kuratiert eigene Bühnen, es gibt mehr als
25.
„Dieses Jahr sind viel weniger bekannte Bands dabei“, moniert eine
Besucherin beim Blättern durch den Zeitplan und frischt den Glitzer im
Gesicht auf. Sie sitzt irgendwo inmitten der riesigen Zeltstadt, 25 Minuten
Fußmarsch vom Kerngelände entfernt und doch akustisch ganz nahe.
Nach sehr kurzer Nacht wird man hier morgens früh um 7 zum ersten Mal im
Takt von 120 bpm wach und spürt den Bass im Gras unter sich, obwohl der für
seine unbarmherzigen Techno-Klänge berüchtigte Spielort „Bachstelzen“
mindestens 600 Meter entfernt ist. Einige der Bühnen werden von Donnerstag
bis Montag rund um die Uhr bespielt – abgesehen von einer täglichen
zweistündigen Feierpause.
## Partylastige Konzerte der Punkrocker
Was die Prominenz der KünstlerInnen angeht, hat die Feierwütige mit den
Glitzerfedern auf den Wangen unrecht: die Fusion hat nie auf große Namen
gesetzt. Performances, Installationen und Subkultur-Projekte bildeten von
Anfang an das Herz des Festivals. Doch selbst hier ist man nicht vor
Populärem gefeit: Im festivaleigenen Kino läuft das spießige Queen-Biopic
„Bohemian Rhapsody“, und richtig eng wird es tagsüber vor allem bei den
partylastigen Konzerten der Punkrocker von Feine Sahne Fischfilet und der
Techno-Marching-Band Meute.
Prominente Techno- und House-DJs bespielen die zutiefst beeindruckenden
Elektronik-Venues, visuell ragen hier die stets staubumtoste Tanzwüste und
besonders die Turmbühne heraus: Der Techno-Tempel mit den riesigen,
kreisförmig angeordneten Lautsprechertürmen mutete an, als wären die
Stonehenge-Monolithen in das Filmset von „Blade Runner“ geraten.
Leisere Töne kommen naturgemäß schwer gegen die Beatgewalt an. In den
Passagen, in denen Soulkünstlerin Hannah Williams nur mit ihren Sängerinnen
a cappella performt, wummert es von nebenan so heftig, dass man um die
Konzentration der Britin besorgt ist. Doch die Frau nimmt es locker. Wie
man überhaupt nach nicht einmal 24 Stunden auf dem Gelände selbst spürbar
heruntergefahren ist, auch ganz ohne Rauschmittel.
Hier hat man Zeit. Um mit der Kassiererin im festivaleigenen, in drolliger
DDR-Nostalgie „Konsum“ getauften Supermarkt über die Vorzüge bestimmter
Substanzen zu diskutieren. Um sich auf dem Weg aufs Gelände von
freundlichen Ordnern mit kühlendem Wasser aus Sprühflaschen benetzen zu
lassen. Um im letzten Abendlicht zwischen „Sonnendeck“ und „Loser’s Arc…
eine Partie Tischtennis zu spielen.
## Geplant waren Räumpanzer und Wasserwerfer
Doch so sehr in Gefahr wie 2019 war die Utopie noch nie. Der
brandenburgische Polizeipräsident Nils Hoffmann-Ritterbusch hatte im Mai
wie aus dem Nichts heraus gefordert, [1][eine Polizeiwache auf dem
Fusion-Gelände errichten zu können.] Die Beamten hätten stets „anlasslose
Bestreifungen“ vornehmen sollen, Räumpanzer und Wasserwerfer waren geplant
– Vorhaben, die die 70.000 Menschen mit Sicherheit in zusätzliche Gefahr
gebracht hätten. Die Fusion blieb unnachgiebig, die Pläne zerschlugen sich.
„Noch vor zwei Monaten standen wir vor der Sorge, dass dies die letzte
Fusion sein könnte und dem Festival für immer sein Charakter genommen
würde“, sagt Presse-Koordinator Linus Neumann. „Diese Sorgen sind wir fürs
Erste los, weil wir nach längerem Ringen einen zukunftsfähigen Kompromiss
erreicht haben“.
Harmonie aller Orten also, und nachdem man Drogenkontrollen passiert und
sein Gepäck über das Lärzer Rollfeld geschleppt hat, sieht man von der
Polizei tatsächlich: nichts. KünstlerInnen und Publikum können es sich
leisten, das Thema komplett zu ignorieren, von Aufklebern mit „Love is
where the Nils is not“ einmal abgesehen. [2][Der Tod eines in seinem Zelt
aufgefundenen 28-Jährigen trübte allerdings den harmonischen
Gesamteindruck], das Festival gedachte seiner mit 15 Schweigeminuten.
## Virtuose Laser- und Lichtinstallationen
Wer dieses Festival besucht hat, weiß: Das Mysterium Fusion ist nicht so
nebulös, wie es scheint. Weder passieren unsagbare Dinge auf dem
Dancefloor, noch schmeißt sich hier jede zweite eine Apothekertasche voller
Pillen ein. Die Faszination Fusion machen die sehr freundlichen, trotz
Augenringen sehr ausgeruhten Menschen aus. Die Musik hat trotz des
fantastischen Sounds keinen Vorrang, vielleicht spielt sie sogar noch eine
zu große Rolle. Denn dieses Festival ist zuvorderst ein Wunder des
Handwerks: Zu bestaunen sind virtuose Laser- und Lichtinstallationen,
wundersamer Baumschmuck und grandiose Podeste, Treppen und
Sitzgelegenheiten, geschaffen von selten begabten Zimmermännern. Schöner
hat man Holz nie verarbeitet gesehen.
Auch auf dem Fusion Festival gibt es sie, die Mädchen mit dem verklärten
Blick und die Jungs mit den glasigen Augen. Aber hier belästigen sie
niemanden. Keine Aggressivität. Während eines fünftägigen Festivals nicht
einmal angerempelt zu werden – das ist unter 70.000 sonst unmöglich. Steht
man auf dem Heimweg mit Glitzer auf der Stirn und Dreck unter den
Fingernägel im Bratwurstdunst an der Raststätte ab, mutet die
9-to-5-Gesellschaft seltsam an.
Die Fusion zeigt: Eine andere Welt ist möglich. Eine Welt ohne
Handyempfang, in der keiner Tiere isst und köstlichstes Essen dennoch
jederzeit erhältlich ist, eine Welt mit geringsten Verboten, die dennoch
stressfrei funktioniert: weil sie eine Welt der Rücksichtnahme ist. Eine
Welt, in der jede im geringeren Tempo unterwegs ist und dabei Ziele neu
justiert. Eine Welt, in der man sich auch einmal daneben benehmen kann,
solange man dabei keinem anderen schadet. Eine weniger pünktliche Welt mit
schmutzigen Füßen und sehr viel Bass.
2 Jul 2019
## LINKS
[1] /Die-Zukunft-des-Musikfestivals/!5595050
[2] /Polizei-auf-dem-Fusion-Festival/!5604008
## AUTOREN
Jan Paersch
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