# taz.de -- Ex-Police-Schlagzeuger über gute Musik: „90 Prozent ist Quatsc… | |
> Goethe lässt die Leute nicht mit den Hüften wackeln, dazu braucht es | |
> Musik: Stewart Copeland erklärt den Unterschied zwischen Orchestern und | |
> Rockbands. | |
Bild: „The Police“ mit Sting (v. l.), Stewart Copeland and Andy Summers im … | |
taz am wochenende: Stewart Copeland, Sie kommen aus der Popmusik. Was | |
fasziniert Sie an der Arbeit mit einem Orchester? | |
Stewart Copeland: Die Komplexität des Klangs. Rock-’n’-Roll-Instrumente | |
können sehr effektiv sein, aber das Vokabular eines Orchesters ist einfach | |
viel größer. Mir gefällt aber auch die Art des Musikers, die in einem | |
Orchester spielt. | |
Und welche Art ist das? | |
Ich unterteile Musiker in zwei Kategorien: Musiker des Ohres und Musiker | |
des Auges. In die erste Kategorie fallen Rockmusiker – sie können keine | |
Noten lesen und verlassen sich ganz auf ihr Gehör. Ich habe 20 Jahre als | |
Rockmusiker gearbeitet, ohne jemals ein Notenblatt zu Gesicht bekommen zu | |
haben. Rock-’n’-Roller improvisieren. Man kennt die Akkorde, aber wie | |
spielst du dazu? Das beantwortet man letztlich selbst. Ganz anders im Fall | |
der Orchestermusiker: Ihre Berufung – man könnte sogar sagen ihre Religion | |
– besteht darin, dem Notenblatt zu gehorchen. Und sie wissen: Nur wenn sie | |
exakt nach dem Blatt spielen, funktioniert das Orchester als mächtiges | |
Ganzes. | |
Welche Unterschiede gibt es noch? | |
Mit Popmusikern dauern die Proben sechs Wochen, weil alles verhandelt wird. | |
Bei einem Orchester reichen drei Stunden. | |
Gab es bestimmte Dinge, die Sie lernen mussten, als Sie anfingen, mit | |
Orchestern zu arbeiten? | |
Ja, zum Beispiel, dass die Perkussionisten eines Orchesters nicht wie der | |
Schlagzeuger in einer Rockband die Rhythmussektion bilden, die alles | |
zusammenhält. Sie sind sozusagen für die Zeichensetzung verantwortlich. | |
Nehmen wir eine Partie von Mahler oder Debussy. Kein eindeutiger Rhythmus | |
ist erkennbar, aber dann: Bumm! Die Pauke – ein Ausrufezeichen! Es dauerte | |
eine Weile, bis ich begriff, dass die Perkussionisten nicht wie ein | |
Schlagzeuger in einer Band den Boss spielen, an dem sich alle orientieren. | |
Das ist der Dirigent. Der Rest steht auf dem Blatt. | |
Wenn Orchestermusiker sich so sehr nach dem Notenblatt richten, könnten Sie | |
dann nicht irgendwann durch einen Computer ersetzt werden? | |
Das kann ein Computer schon jetzt. | |
So gut, dass man keinen Unterschied hört? | |
Es kommt darauf an. Bei den Streichern etwa gibt es Schwächen, vor allem im | |
Legato. Aber natürlich sind es noch immer die Musiker, die den Instrumenten | |
Leben einhauchen. | |
Könnte ein Computer in der Zukunft eine Form von musikalischer Schönheit | |
produzieren, wie sie ein Orchester erreicht? | |
Damit habe ich in Hollywood meinen Lebensunterhalt verdient. Computer | |
kommen schon lange zum Einsatz, um ein Faksimile zu erstellen, das man dem | |
Regisseur oder Produzenten vorspielen kann. So wissen sie, wie das | |
Endresultat in etwa klingen wird. Ich hatte allerdings auch schon mit einem | |
Regisseur zu tun, der sich so sehr mit meinem falschen Sample-Orchester | |
verbunden fühlte, dass ihm die Orchesteraufnahme, die später entstand, | |
nicht gefiel. Aber das war ein Idiot. | |
Wird ein Computer je in der Lage sein, dieselbe Art von Resonanz zu | |
erzeugen, wie sie zwischen Musikern und Publikum entsteht? | |
Hier ist eine unangenehme Nachricht für alle, die glauben, dass Musiker nie | |
durch Computer ersetzbar sein werden: Die Art von Musik, die Menschen am | |
ehesten dazu bringt, sich in der Öffentlichkeit ihre Geschlechtsteile | |
entgegenzuschwingen, wird von Maschinen produziert. Elektronische Tanzmusik | |
ist nicht ohne Grund so populär. | |
Das ist aber vielleicht auch ein etwas geringer Anspruch, oder? | |
Sicher, Sex – wie viel weniger anspruchsvoll kann etwas sein? Reiner | |
Instinkt, mehr braucht es nicht. Weg vom menschlichen Intellekt und hin zum | |
Tiergehirn. Darin liegt aber meiner Meinung nach auch das Wesen der Musik. | |
Sie ist die einzige Kunstrichtung, die den Intellekt umgeht und die | |
motorische Steuerung des Körpers an sich reißt. Musik bringt dich dazu, in | |
der Öffentlichkeit eine offenkundig sexuelle Handlung zu vollziehen, | |
sprich: zu tanzen. Was Musik mit Menschen anstellt, geht viel tiefer, als | |
wir normalerweise annehmen. Wem glauben Sie eher: Ihren Augen oder dem | |
Moll-Akkord? Ihre Augen sagen Ihnen, was Sie denken sollen. Aber was viel | |
wichtiger ist: Musik sagt Ihnen, was Sie fühlen sollen. | |
Ein Phänomen, das beim Film ausgiebig genutzt wird. | |
Genau, manchmal negiert die Musik sogar den Dialog. Wenn der gut aussehende | |
Kerl sagt: „Ich liebe dich“, die Zuschauer das aber bezweifeln sollen, | |
kommt der Filmkomponist ins Spiel. Wir glauben der Musik, nicht Tom Cruise. | |
Was sagt uns das über Musik? | |
Hier ist meine Theorie: Musik ist ein Federkleid – wie bei einem Vogel. Sie | |
bringt Menschen dazu, ihre Hemmungen abzulegen. Musik sagt einem: Es ist | |
okay, mich sexuell zur Schau zu stellen. Wenn wir uns zur Musik bewegen, | |
ist es in Ordnung, körperlichen Kontakt in einer Art zu haben, die | |
eindeutig sexuell ist. Musik enthemmt. Dabei öffnet sie uns aber | |
gleichzeitig auch für andere Dinge und lässt uns glauben, dass diese der | |
eigentliche Grund dafür sind, warum wir sie mögen. Nehmen wir die Religion: | |
Gott liebt die Musik, weil sie uns das Gefühl von Transzendenz gibt. | |
Einige Religionen verbieten die Musik. | |
Aber selbst der IS spielt Musik in seinen Propagandavideos. Einerseits | |
verbieten die Islamisten Musik, aber wenn man sie beim Trainieren sieht, | |
wollen sie doch nicht darauf verzichten. Musik ist ein sehr wichtiges | |
Merkmal des Menschen. Als Kunst ist sie einzigartig. Rembrandt bringt dich | |
nicht dazu, mit den Hüften zu wackeln. Auch Goethe schafft es nicht, deine | |
motorischen Funktionen an sich zu reißen. Es kann sogar ein sozialer | |
Nachteil sein, sich da zu verweigern. Wenn dein Fuß bei guter Musik nicht | |
mitwippt, wirst du vielleicht sogar schief angeguckt. Wir haben diesen | |
fundamentalen Instinkt genommen und erweitert. In ganz andere Bereiche: um | |
Menschen zu überzeugen, um Produkte zu verkaufen und so weiter. | |
Wenn Musik einen Instinkt in uns anspricht, kann es dann Musik geben, die | |
objektiv besser ist als andere? | |
Ich denke nicht. Dafür sind wir zu unterschiedlich gestrickt. Wir sind | |
keine Geparden, bei denen jedes Individuum der Spezies mit jedem anderen | |
fast identisch ist. Geparden haben eine der geringsten genetischen | |
Varianzen in der Tierwelt. Menschen sind da viel mannigfaltiger. | |
Peter Shaffer scheint in seinem Bühnenstück „Amadeus“, das vom Miloš For… | |
verfilmt wurde, etwas anderes ausdrücken zu wollen. Er lässt dort Salieri | |
über Mozarts Musik sagen: „Verändert man nur eine Note, dann mindert man | |
die Qualität, verändert man eine Phrase, bricht die gesamte Struktur | |
zusammen.“ | |
Wie gesagt, da spricht Salieri. Mozart hätte gesagt: Ich kann es so | |
spielen, aber auch so. Oder so oder so. Dieses Zitat ist die Art von Satz, | |
den ein nichtkünstlerisches Genie sagen würde. Musikalisches Talent ist | |
vielschichtig. Meine Brüder haben zum Beispiel ein besseres Gehör für Musik | |
als ich, aber ihnen fehlt die Fingerfertigkeit. | |
Aber wie viel kann man verändern, ohne dass die Qualität gemindert wird? In | |
einem Genre wie dem Jazz zum Beispiel, der stark durch die Improvisation | |
geprägt ist, scheint die Antwort zu sein: So gut wie alles. | |
Eines vorweg: Ich liebe Jazzfans, auch wenn ich gern über ihre Musik | |
lästere. Sie kommen zum Konzert und wollen sehen, was du drauf hast. Das | |
Jazz-Publikum möchte erleben, wie man sich gehen lässt. Das meiste im Jazz | |
ist Fingergewackel. Es gibt aber Ausnahmen: Miles Davis, John Coltrane, | |
Stanley Clarke … Die haben Musik gemacht, und der Umstand, dass sich dabei | |
ihre Finger bewegten, war nur ein Nebeneffekt. Ansonsten gilt allerdings: | |
Wenn du unbedingt Musiker werden willst, aber kein Talent hast, dann ist | |
Jazz genau das Richtige für dich. Du musst nur 12 Stunden am Tag üben und | |
lernen, deine Finger schnell zu bewegen. | |
Ein harsches Urteil. | |
Genau genommen sind 90 Prozent der Musik in jedem Genre Quatsch. Außer beim | |
Blues, wo es sich exakt umgekehrt verhält. Ich kann mir jeden Idioten | |
anhören, der Blues spielt, und es gefällt mir. Jazzfans wollen nicht, dass | |
du den Song respektierst, dich zurücklehnst und den Sänger sein Ding machen | |
lässt. Sie wollen, dass alle auf der Bühne zu jeder Zeit alles zeigen, was | |
sie können – und bitte noch ein bisschen mehr davon! | |
Ganz anders sieht es im Pop aus. | |
Mein Leben als Popmusiker hat mir die Disziplin gegeben, immer dem Song zu | |
dienen. Das Stück steht im Mittelpunkt, ich am Rande. Und damit bin ich | |
glücklich. Dasselbe gilt für Orchestermusiker: Ein Orchester klingt nur | |
deshalb so wunderbar, weil jeder Musiker seinen Teil beiträgt. | |
1 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Florian Friedman | |
## TAGS | |
Orchester | |
Rockmusik | |
Schlagzeuger | |
Oper | |
Clubkultur | |
Pop-Kultur | |
Oper | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Oper über die Erfinder Tesla und Edison: „Sie werden dem Moll glauben“ | |
In Weimar wird Stewart Copelands Oper „Electric Saint“ uraufgeführt. Ein | |
Gespräch über Akkorde, Angst und die Bedeutung großer Erfinder. | |
Rockfabrik in Ludwigsburg: Fans fürchten um Kult-Rockclub | |
Weil ein Investor den Club loswerden will, solidarisieren sich Zehntausende | |
in einer Petition. In der Rockfabrik spielten schon diverse Szenegrößen. | |
Ausstellung zu Kunst und Musik: Mit Baxxter ins Berghain | |
Kunst und Musik und was sie miteinander zu tun haben: Die Ausstellung | |
„Hyper!“ vermeidet erfreulich viele Klischees. | |
Kuriosität der Operngeschichte: Verklemmter Samenstau | |
Die Deutsche Oper Berlin hat eine vergessene Oper von Erich Wolfgang | |
Korngold ausgegraben. Sehr schöne Musik, aber dieser Text! Grauslich. |