# taz.de -- Die Wahrheit: Uli-Schnulli macht den Ärmchentest | |
> Nicht nur Doktortitel werden aberkannt. Wer nachträglich bei der | |
> Schulreifeprüfung versagt, hat ernste Konsequenzen zu tragen. | |
Am Freitagmorgen in der Yogastunde bemerkte ich die Veränderung. Wir | |
sollten, mit den Armen über dem Kopf auf dem Rücken liegend, mit beiden | |
Händen den jeweils anderen Ellbogen ergreifen. Für meine Mitschüler war das | |
kein Problem. Ich aber mühte mich vergeblich – die Arme mussten auf einmal | |
zu kurz geworden sein, denn bis dahin war mir das immer gelungen. Ich sah, | |
wie Carola, die Lehrerin, zu mir herüberblickte. Mit ernster Miene notierte | |
sie etwas in ein neben ihrer Matte bereitliegendes Oktavheft. | |
Während ich mich mit zunehmend rotem Gesicht abmühte, musste ich an meinen | |
Schulreifetest denken. | |
Mit fünf Jahren war ich ungewöhnlich jung dafür gewesen. Der Schularzt | |
forderte mich auf, mit dem rechten Arm über den Kopf hinweg mein linkes Ohr | |
zu berühren. Ich glaube, meine Mutter half noch etwas nach, indem sie | |
heimlich drückte. Aber so genau weiß ich es nicht mehr. Schließlich war das | |
kurz nach dem Krieg. Die ganze Welt war noch schwarz-weiß, und entsprechend | |
grau sind auch meine Erinnerungen an jene Zeit. Doch ich muss es wohl | |
geschafft haben, denn der Doktor machte ein Häkchen. Ich war stolz auf | |
meine Leistung. Bis zum Ende meiner Schullaufbahn blieb ich stets der | |
Jüngste in der Klasse. | |
## Begleiterscheinungen des Alters? | |
Nach heutigen Erkenntnissen ist es schwer zu verstehen, warum man die | |
Kinder nicht einfach fragte, was eins plus drei ist, wie das kleine Tier | |
mit den Stacheln heißt, oder ob sie überhaupt schon in die Schule wollten, | |
aber früher war das eben so: Ärmchentest. | |
Nach der Stunde kam Carola zu mir. Sie wedelte mit ihrem Notizbuch. „Ich | |
muss das melden“, sagte sie. „So leid es mir tut, aber ich komme sonst in | |
Teufels Küche. Dann machen die mir hier den Laden zu und ich kann sehen, wo | |
ich bleibe. Ich hab nun mal ein Kind zu versorgen.“ | |
Ich ahnte, dass ich tief in der Tinte steckte. Es war ja nicht so, dass | |
sich die Zeichen nicht bereits zuvor gemehrt hätten. Nur ich hatte auf | |
meine typische Art mal wieder fest die Augen vor der Realität verschlossen. | |
Denn schon seit Längerem hatte ich mich seltsam klein gefühlt. Ich kam auf | |
dem Stuhl sitzend nicht mehr so richtig mit den Füßen auf den Boden und | |
machte wieder öfter in die Hose. Das alles hatte ich auf mein Alter und | |
dessen Begleiterscheinungen zurückgeführt. Gewissermaßen hatte ich sogar | |
recht damit, allerdings anders als ich gedacht hätte. | |
## In Unmündigkeit gefangen | |
Kaum eine Woche später bekam ich Post. „Lieber Uli-Schnulli. Uns wurde | |
gemeldet, dass deine Ärmchen zu kurz sind. Du giltst somit als nicht | |
eingeschult“, stand im Schreiben. Aus nachvollziehbaren Gründen hatte man | |
sich gegen die Anrede in der Höflichkeitsform entschieden. „Des Weiteren | |
werden dir der Hauptschulabschluss, die Mittlere Reife und das Abitur | |
unehrenhaft aberkannt. Daher hättest du auch nicht an der FU Berlin | |
studieren dürfen. Ein entsprechendes Betrugsverfahren wurde von der | |
Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet. Liebe Grüße, Dr. Elisabeth Sack, | |
Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport für den Bezirk | |
Neukölln in Berlin.“ | |
Ihr Titel war fast so lang wie der ganze Brief. Doch das war es nicht, was | |
mich beschäftigte. Sondern mein Abitur. Mein schönes bayerisches | |
Landabitur, bewerkstelligt einst an einem schönen bayerischen | |
Landgymnasium, also alles vom Feinsten: Latein, Französisch, Anschreien, | |
Strammstehen. Und nicht so ein Kreuzberger Klippschulzertifikat, das den | |
grenzdebilen Absolventen mit gleitfähigen Leistungsfächern wie Origami oder | |
Poledance nahezu ruckfrei in den Popo geschoben wurde. | |
## Mit Exkrementen beworfen | |
Man hatte mir die Schulreife entzogen. Und was noch schwerer wog: | |
ausdrücklich unehrenhaft. Das hatte zur Folge, dass ich selbst nach einer | |
Sperrfrist sowie bestandener MPU keinen neuen Anlauf auf den Erwerb des | |
Abiturs unternehmen dürfte, sondern auf einer schwarzen Liste landete, die | |
mir lebenslänglich den Besuch sämtlicher Lehreinrichtungen verwehrte – | |
Baum- und Delfinschulen inklusive. Symbolisch würde dieser Amtsbeschluss | |
besiegelt, indem man mein Abiturzeugnis coram publico an das Portal einer | |
entweihten Kirche nagelte und von saarländischen Sonderschülern mit | |
Exkrementen bewerfen ließ. Auch wenn ich eines Tages entgegen aller | |
Prognosen mit dem Arm doch wieder das Ohr erreichen sollte, bliebe ich auf | |
alle Zeit in Unmündigkeit gefangen. Das alles hatte ich der Yogalehrerin zu | |
verdanken. | |
Und noch vieles mehr. Am nächsten Tag kamen Mitarbeiter des Ordnungsamts, | |
die Personalausweis, Führerschein und Kreditkarte einzogen und im Hof mein | |
Fahrrad „anpassten“, wie sie sich ausdrückten. Der Sattel wurde tiefer | |
gestellt und die 26-Zoll-Reifen durch 18er ersetzt. Ich war nun offiziell | |
nicht mehr erwachsen. Auch mein Mietvertrag war ungültig geworden. | |
„So, kleiner Mann“, sagte einer der Männer nach Beendigung der Arbeiten und | |
strich mir unbeholfen über den Kopf. „Jetzt kannst du wieder zum Spielplatz | |
fahren.“ | |
## Wenig Stress und viel Petersilie | |
Ich fuhr aber nicht zum Spielplatz, sondern zum Supermarkt. Tränen der | |
Demütigung standen mir in den Augen. Sie hatten mir fast alles Geld | |
abgenommen, um es „für meine Zukunft“ auf ein Sparbuch bei der Volksbank | |
einzuzahlen, doch fünf Euro monatliches Taschengeld hatten sie mir | |
gelassen. Für den billigsten Fusel würde das eben noch reichen. | |
An der Kasse des Discounters erwartete mich die nächste Enttäuschung. Die | |
Kassiererin nahm die Flasche „Bautzener Benzin“ vom Band und wies auf ein | |
Schild, das den Verkauf von Alkohol und Tabakwaren regelte: „Man sieht | |
Ihnen Ihr Alter gar nicht an!“ Genau das war hier jetzt leider mein | |
Problem. Wenig Stress, viel Petersilie und jeden Freitag Yoga im Kulturcafé | |
hatten mein Antlitz kindlich straff gehalten. Dabei hätte ich mich doch so | |
gerne wenigstens betrunken. | |
## Zugticket vom Amt | |
Obwohl ich bettelte und weinte, hielten sie mich auf der Stelle fest. Die | |
Polizei kam. Ich wurde in einer Noteinrichtung untergebracht, bis das | |
Jugendamt meine Eltern erreichte. Das Gespräch dürfte kurz gewesen sein. | |
Die Aussicht, bis an ihr Lebensende auf ein dreiundfünfzigjähriges | |
Vorschulkind aufzupassen, ließ die über Achtzigjährigen nicht gerade vor | |
Begeisterung im Kreis humpeln. Dazu hatte meine Mutter damals nicht den | |
Schularzt überlistet. Aber sie hatten keine andere Wahl, denn sonst käme | |
ich ins Heim. Immerhin wurde das Zugticket vom Amt bezahlt. | |
Und wieder bin ich der Jüngste. Zuhause wartet mein Kinderzimmer. | |
Hoffentlich sind die Schlümpfe noch da. Mit brennenden Augen blicke ich aus | |
dem Fenster des Schnellzugabteils, das für allein reisende Kinder | |
reserviert ist. Nur eine Schwester der Bahnhofsmission begleitet uns. Sie | |
achtet darauf, dass wir rechtzeitig aufs Zugklo gehen und uns hinterher die | |
Hände waschen. Draußen zieht die Endmoränenlandschaft vorüber, braune | |
Wiesen und schmutzig orangefarbene Heimwerkerbaumärkte. Am Rande einer | |
Bundesstraße streiten sich Krähen um die Filetstücke eines überfahrenen | |
Waschbären. Mama, ich komme. | |
8 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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