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# taz.de -- Gedenken zum D-Day: Die Front als Touristenmagnet
> Vor 75 Jahren landeten die Westalliierten in Frankreich. Zeitzeugen gibt
> es kaum noch, doch die Menschen halten die Erinnerung an den D-Day wach.
Bild: US-amerikanische Truppen erreichen am 6. Juni 1944 Omaha Beach
Caen/Turquevilletaz | Der Sturm auf die Kanalküste beginnt schon in Paris.
Am Bahnhof Saint-Lazare, von wo aus die Züge in Richtung Normandie
abfahren, erinnert eine großflächige Fotoausstellung an das Vermächtnis des
Krieges. Zu sehen sind Veteranen, die Blumensträuße entgegennehmen. Alte
Herren, die jungen Frauen die Hand küssen. Kinder, die in die Kamera
strahlen, weil sie in Freiheit leben. Die Fotos erinnern an den 6. Juni
1944 – den Tag, an dem die Alliierten im Westen die zweite Front gegen
Nazi-Deutschland eröffnen und Frankreich die Freiheit bringen.
Der D-Day, der sich 2019 zum 75. Mal jährt, ist in der Normandie
allgegenwärtig. Denkmäler, US-amerikanische Fahnen und Sherman-Panzer am
Straßenrand. An den Laternen hängen Banner, die an die gefallenen Soldaten
erinnern. Am Strand stehen Bunker, die zu modernen Museen umgebaut wurden.
Hotels verkaufen Ferngläser, Feldflaschen und Comics, die zum Einschlafen
eher ungeeignet sind. In der Normandie, wo seit einem
Dreivierteljahrhundert Frieden herrscht, ist der Krieg noch immer sehr
präsent.
Warum das so ist, wird beim Besuch im Mémorial de Caen deutlich. Das
private Museum bietet die mit Abstand aufwendigste Ausstellung zum D-Day.
Die Atmosphäre ist bewusst düster gehalten. Aus Lautsprechern heulen
Sirenen. Kinder flüchten aus brennenden Ruinen. Maschinengewehre rattern –
das alles auf Großbildleinwand. Es sind verstörende Bilder, die den D-Day
so zeigen, wie er war: heftig und brutal. Doch es geht nicht nur um
Effekthascherei. Die Gedenkstätte informiert auch über die Vorgeschichte:
den Versailler Vertrag, Hitlers Aufstieg, die Deportation der Juden.
Warum tun sich Urlauber so etwas an, während draußen der Strand wartet? Für
Franck Moulin, den Vizedirektor, schließt das eine das andere nicht aus:
„Sie können ja baden gehen. Aber vielleicht möchten sie wissen, was an
diesem schönen Strand schon passiert ist?“ Für junge Menschen seien die
Dimensionen kaum zu begreifen. „20.000 Zivilisten sind allein in der
Normandie umgekommen. Wir erinnern an die Schrecken des Krieges, damit so
etwas nie wieder passiert.“ Auch für Kinder sei die Ausstellung geeignet,
betont Moulin. „Wir sind kein Disneyland, aber wir haben Audioguides, die
sich speziell an jüngere Besucher richten.“
## Eine umfassende Erinnerungsindustrie angesiedelt
Das Gedenken boomt in der Normandie. Zwischen Kreidefelsen,
Backsteinhäusern und Bistros hat sich eine komplette Erinnerungsindustrie
angesiedelt. Jedes Jahr wird mit Fallschirmsprüngen, Volksfesten und
sogenannten Reenactments, Veranstaltungen, in denen die Kriegsszenen von
Darstellern in historischen Uniformen nachgestellt werden, der Landung
gedacht.
Insgesamt waren daran am 6. Juni 1944 mehr als 150.000 US-amerikanische,
kanadische und britische Soldaten beteiligt. Zum 75. Jahrestag werden
Donald Trump und Emanuel Macron anreisen und Kränze niederlegen. Veteranen
werden an den Gräbern ihrer gefallenen Kameraden gedenken, fotografiert von
Touristen. Der Andrang ist so groß, dass manche Hotels seit Monaten
ausgebucht sind.
Um den Besuchern etwas zu bieten, investieren viele Museen in ihre
Ausstellungen. Allein das Mémorial de Falaise, das die Erlebnisse der
Zivilisten dokumentiert, hat einhundert Interviews mit Zeitzeugen
aufgenommen. „Es ist wahrscheinlich das letzte Jahr, dass Veteranen bei den
Feierlichkeiten dabei sind“, befürchtet Franck Moulin. „Wir befinden uns an
einem Wendepunkt, an der Grenze zwischen Erinnerung und Geschichte.“
Noch aber gibt es Menschen, die ihre Erlebnisse an künftige Generationen
weitergeben können. Gérard Verdonk zum Beispiel. Der 93-Jährige wirkt noch
immer sehr agil – graue Haare, wache Augen, weiße Hose. Flotten Schrittes
öffnet er die Tür seines Hauses, in dem er seit dem Tod seiner Frau allein
lebt. „An den 6. Juni 1944 kann ich mich gut erinnern“, sagt Verdonk.
„Alles war ganz normal. Morgens hat mein Vater noch mit dem Bürgermeister
Kaffee getrunken.“ Dass die Alliierten gelandet waren, erfuhr er durch
Zufall. „Wir hatten zwei deutsche Offiziere belauscht, die sich
unterhielten.“ Die Wehrmacht ahnte nicht, dass Verdonk Deutsch verstand –
seine Familie war aus den Niederlanden eingewandert.
Von Bombardierungen und Gefechten blieb die Familie verschont, weil sich
ihr Bauernhof abseits der Städte befand. Im Laufe des Tages sei ihm ein
kanadischer Soldat begegnet, berichtet der Zeitzeuge. „Der war schwarz
bemalt, alles in Tarnfarben.“ Während sich der Strand mit Tausenden von
Booten füllte, hätten sich die Deutschen aus dem Staub gemacht. Empfand er
den Tag als Befreiung? „Es war eben Krieg“, meint Verdonk nüchtern.
Was die Bewertung der Geschichte angeht, hält sich der alte Mann zurück.
Auffällig positiv spricht er über die deutschen Besatzer. „Bei uns im Dorf
haben sie keine Verbrechen verübt. Natürlich haben wir mit ihnen geredet.“
War er ein Kollaborateur? „Nein, nein, wir waren alle in der Résistance“,
beteuert Verdonk. Regelmäßig habe seine Familie Informationen an die
Alliierten weitergegeben. „Ich hatte trotzdem keine schlechten Erlebnisse
mit den Deutschen“, sagt er noch einmal. „Ich empfinde – nichts.“
## Ein bewegender Moment
Es sind solche Gespräche, die Normandie-Besucher in Zukunft kaum noch
führen können. Die kleinen Widersprüche, die Nachfragen, das Deuten –
schwierig, wenn man einer Videoaufzeichnung gegenübersitzt. Umso lebendiger
ist die Geschichte ausgerechnet an einem Ort des Todes. Auf dem
amerikanischen Soldatenfriedhof legen Armeeangehörige täglich einen Kranz
nieder.
„Schauen Sie bitte jetzt auf die Fahne“, sagt ein Guide, während im
Hintergrund die US-amerikanische Nationalhymne per Glockenspiel erklingt.
Manche salutieren, andere weinen in ihre Taschentücher. Ein bewegender
Moment, selbst für diejenigen, die nie im Krieg waren.
Fünfzig Kilometer weiter westlich, in Turqueville, bindet sich Francisca
Muntinga einen Schal mit den Stars and Stripes der amerikanischen Flagge
um. Die 69-Jährige betreibt mit ihrem Mann Tonnis eine
Bed-and-Breakfast-Pension, die jedes Jahr eine D-Day-Feier ausrichtet. Mit
den amerikanischen Stammgästen ist das Ehepaar inzwischen gut befreundet.
„Ein Pilot hat mir seine Bomberjacke geschenkt“, erzählt Tonnis Muntinga
voll Stolz. Veteranen, die beim D-Day dabei waren, dürfen kostenlos bei
ihnen übernachten. „Für uns ist das ein Zeichen des Respekts. Diese Leute
haben ihr Leben für unsere Freiheit riskiert.“
## Die Sonne trocknet die Tränen
In Arromanches, wo die Alliierten im Juni 1944 einen künstlichen Hafen
errichteten, ragen noch heute einige Betonblöcke aus dem Wasser. Doch das
Leben geht weiter. Am Strand spielen Kinder Fußball, im Restaurant
unterhalten sich junge Amerikaner über französischen Wein. In diesem Moment
scheint das Zitat zu stimmen, das auf einem Museumsbanner steht: „Seht nur
die Kinder lachen und spielen. Die Sonne von heute trocknet die Tränen von
gestern.“
6 Jun 2019
## AUTOREN
Steve Przybilla
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
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Normandie
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Lesestück Recherche und Reportage
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