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# taz.de -- Vagabunden-Kongress: „Generalstreik ein Leben lang“
> Vor 100 Jahren versuchten selbst ernannte Vagabunden, eine autonome
> Lebensweise zu etablieren. Nun soll ein Kongress die Bewegung wieder
> aufleben lassen.
Bild: „Wo der Bürger aufhört ..„: Schuhe vor einer Obdachlosenhütte in B…
Die schwimmenden Stege der Floating University auf einem kleinen See am
Rand der Hasenheide sind aus unzähligen Spanholzplatten zusammengezimmert
und mit neonfarbenem Klebeband verziert. Hier treffen sich Marcus, Tanja
und Beat – ihre Nachnamen wollen sie nicht nennen – um einen
Vagabundenkongress im kommenden Jahr in Berlin zu planen. Vagabunden, das
seien „Menschen, die losgehen, ohne ankommen zu wollen – sowohl geistig als
auch physisch“, erklärt Marcus.
Er könnte damit die Digital Nomads meinen, die am Laptop von überall aus
arbeiten und einen festen Wohnsitz ablehnen, oder auch die Millennials, die
auf Reisen gehen, die Gedanken schweifen lassen und von einer Utopie
träumen. Alles richtig und gleichzeitig auch nicht: Der Kongress soll sich
in erster Linie an Menschen richten, „die entweder materiell in ihrer
Existenz bedroht sind oder auf die ewig gleiche Leier keinen Bock mehr
haben“, präzisiert Tanja.
Neu ist die Idee eines Vagabundentreffens nicht. Bereits in der Weimarer
Republik hatte es so einen Kongress gegeben, bei dem sich
Landstreicher*innen und Vagabund*innen zusammenfanden, um sich politisch zu
organisieren. 50.000 Menschen lebten damals gezwungenermaßen ohne feste
Bleibe. Inflation und Weltwirtschaftskrise hatten sie auf die Straße
getrieben. Verzweifelt suchten sie nach Arbeit und einem bürgerlichen
Leben.
Aber es gab auch eine andere Gruppe: Schriftsteller*innen,
Akademiker*innen und Künstler*innen, die dem uniformierten Leben den
Rücken zukehrten und als Vagabund*innen ohne festen Wohnsitz durchs Land
wanderten.
Ist das Vagabundieren also jenen vorbehalten, die sich aus freien Stücken
und ohne ökonomische Zwänge dafür entscheiden können – ein Privileg? „I…
will nicht darüber urteilen, ob jemand, der zu uns kommt, privilegiert ist
oder nicht“, sagt Tanja. Beat fügt hinzu: „Nicht jeder Obdachlose möchte
als Vagabund bezeichnet werden und nicht jeder Vagabund ist obdachlos.“
Einer, der sich selbst einen Vagabunden nannte und sich aus freien Stücken
für das Leben auf der Straße entschied, war Gregor Gog: 1927
veröffentlichte er mit Der Kunde Europas erste Straßenzeitung, gründete die
Bruderschaft der Vagabunden und kämpfte zeitlebens gegen kapitalistische
Ausbeutung und Faschismus. Im September soll ein Comic über ihn im
Avant-Verlag erscheinen, der Titel: „Der König der Vagabunden“.
Zeichnerin Bea Davies sitzt mit Autor Patrick Spät in einem Vortragsraum
der Comic Invasion in Berlin und bewirbt ihren Comic. Sie zeichnete Gog mit
schwungvollen Pinselstrichen: Er raucht Pfeife, trägt einen Schnauzer und
blickt skeptisch in die Augen der Betrachterin. Fotos aus den 20er Jahren
zeigen Gog mit Anzug und Krawatte. „Der Comic ist zu 80 Prozent historisch
genau, 20 Prozent sind fiktionalisiert“, sagt Spät.
Denn bislang gibt es weder Biografien noch Filme über Gregor Gog. „Die
historische Recherche war harte Arbeit“, sagt Spät. Dabei verkörpert Gog
den Mythos der meist männlich vorgestellten Sozialfigur des Vagabunden, der
in geistiger und physischer Freiheit lebt, geradezu perfekt.
## Priester wollte Gog nicht werden
Gog wurde 1891 in Schwerin geboren. Seine Mutter arbeitete als Magd, sein
Vater als Zimmermann. Als Jugendlicher widersetzte er sich dem Wunsch
seiner Eltern, er möge Priester werden, und meldete sich statt dessen mit
19 Jahren zur Kriegsmarine. Doch der autoritäre Drill auf hoher See brachte
seine antimilitärische Einstellung zutage: Gog und seine Kameraden
starteten einen Aufstand, bei dem sie die Kampfwerkzeuge an Bord
beschädigten.
Außerdem schritt Gog ein, als ein Matrose das Erbrochene eines besoffenen
Offiziers wegputzen sollte. Wegen Propaganda und Anstiftung zur Rebellion
wird er mit einer sechswöchigen Haft bestraft und wenig später als „dauernd
kriegsuntauglich“ erklärt. Gog beginnt als Gärtner, Erzieher und Autor zu
arbeiten. Auf der Suche nach einer neuen Auslegung des Christentums
engagiert er sich in der Christ-Revolutionären Bewegung und zieht durch das
Land. Mit seiner ersten Frau Erna Klein bekommt er ein Kind, doch die Ehe
hält nicht lange. Der Sohn wird von seiner zweiten Frau, Anni Geiger,
aufgezogen. Geiger ist eine der wenigen Frauen auf der Landstraße.
Gog beginnt, die Landstreicher*innen zu organisieren, indem er 1927 die
Bruderschaft der Vagabunden gründet. Als Redakteur der Straßenzeitung Der
Kunde präzisiert er sein politisches Ziel: Dem „lauen feigen Kunden ohne
Rückgrat“ soll geholfen werden, die „bürgerliche Sphäre, in der er noch …
tief steckt“, zu verlassen und ein Revolutionär zu werden.
„Kunden“ wurden damals Handwerk*innen, Bettler*innen und Wanderer genannt,
die als sogenannte Kunden der Landstraße der Landbevölkerung Arbeit als
Gegenleistung für Essen oder Geld anboten. Ein Jahr später veröffentlicht
Gog das Buch „Vorspiel zu einer Philosophie der Landstrasse“ im Verlag der
Vagabunden. Es ist eine anarchische Absage an das bürgerliche Spießertum.
Da heißt es zum Beispiel: „Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies.“
1929 ruft er den internationalen Kongress der Vagabunden aus, dessen Parole
lautet „Generalstreik ein Leben lang!“. Vom 21. bis 23. Mai waren alle
Landstreicher*innen nach Stuttgart eingeladen, um sich gemeinsam gegen die
Obrigkeit, den Kapitalismus und die „kerkerbauende Gesellschaft“ zu
versammeln.
90 Jahre später und zurück auf der Floating University: Marcus hat selbst
vier Jahre auf „Tippelei“, also ohne festen Wohnsitz, verbracht. Als
gelernter Steinmetz arbeitet er heute als Denkmalpfleger und ist in Berlin
sesshaft geworden. Mit dem „Vaga 2020“, so der Name des geplanten
Kongresses, will er eine Austauschplattform für Menschen mit und ohne
festen Wohnsitz bieten. Es soll, wie damals, um Freiheit und
Selbstbestimmung gehen. Ansonsten ist die Form noch vage, nur der
Tagungsort steht fest: „Definitiv unter freiem Himmel, vielleicht in der
Hasenheide“, sagt Beat. „Wir wollen mit künstlerischen, aktivistischen und
zeithistorischen Techniken auf die Lebenswelten von Menschen aufmerksam zu
machen“, sagt Tanja.
Seit Kurzem engagiert sie sich in der Wohnungslosenhilfe, lange schon
forscht sie zu sozialen Themen. Sie sieht den Kapitalismus immer mehr Raum
einnehmen und will bei dem Kongress „für einen Moment das Gefühl haben,
dass es genug für alle gibt“.
Ebenfalls im Freien, auf dem Stuttgarter Killersberg, fand auch der
Kongress von 1929 mit rund 300 Teilnehmer*innen statt. Eine Ausstellung im
Berliner Künstlerhaus Bethanien mit dem Titel „Wohnsitz: Nirgendwo“ blickte
1982 auf das Ereignis zurück: „Wohl gehörten die meisten Teilnehmer einer
gesellschaftlich höheren Schicht, mehr intellektuellen Kreisen oder der
Wandervogelbewegung an“, hieß es damals im Ausstellungskatalog.
Dass Menschen von der Straße mit dem Kongress gar nicht erreicht werden,
diese Gefahr bestehe natürlich auch beim geplanten „Vaga 2020“, sagt
Marcus. Die Unterscheidung zwischen freiwillig und unfreiwillig auf der
Straße lebenden Menschen sei schwierig: Einerseits beeinträchtigten Alkohol
und Drogen die Entscheidungsfähigkeit, andererseits gelte die nächste
Brücke im Vergleich mit dem überfüllten Wohnheim mitunter als kleineres
Übel.
Mit der Machtergreifung Hitlers wurde diese Unterscheidung sowieso obsolet:
Obdachlose wurden verfolgt, egal ob aufgrund ihrer politischen Aktivitäten
oder ihrer von den Nazis behaupteten „Arbeitsscheu“. In groß angelegten
„Bettlerrazzien“ wurden sie aufgegriffen und in Arbeits- und
Konzentrationslager deportiert.
Auch Gog wird von der Gestapo verhaftet und in ein KZ gebracht. Er flieht
über den Bodensee in die Schweiz. In den folgenden Jahren wendet er sich
vom Anarchismus ab und dem Kommunismus zu. Sein ehemaliger Weggefährte
Jonny Rieger trifft ihn 1934 in Zürich und beschreibt ihn: „Er hat sich
sehr entschieden entwickelt zu einem Menschen, der von diesen etwas
abwegigen und unbestimmten Anschauungen zu mehr bestimmten Tendenzen
übergegangen war.“ 1945 stirbt Gog im sowjetischen Exil an einem
Nierenleiden.
3 Jun 2019
## AUTOREN
Joana Nietfeld
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Obdachlosigkeit
Freiheit
Weimarer Republik
Karl Marx
Obdachlosigkeit
Hostel
Straßenkünstler
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