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# taz.de -- Die Wahrheit: Widerstrebendes Jein gen Europa
> Eine kleine deutsche Massenbewegung stößt momentan Europagegner wie
> -befürworter vor den Kopf. Motto? Mal so, mal so.
Es ist nicht so, dass die junge Frau, die an dem plakatgeschmückten Stand
steht und auf Passanten einredet, für die große Politik geboren worden
wäre. Janine Fill hat sich zwar schon immer ein bisschen für Politik
interessiert – jedoch nur so, dass ihre Mutter bei jeder Gelegenheit damit
prahlt. Mit der Geschichte nämlich, wie Janine vor der Bundestagswahl 2009
beim Verunzieren eines CDU-Plakats erwischt wurde und eine Verwarnung von
der Polizei kassierte.
Janine Fill ärgert diese Umdeutung des Geschehens in eine Widerstandstat
sehr, die ihre Mutter da in die Welt trägt. Die Bürokauffrau schwört, sie
habe nur Angela Merkel etwas typgerechter zu schminken versucht – mit ihrem
ersten selbstgekauften Schminkset; während die Mutter mittlerweile sogar
behauptet, Janine das Schminkset geschenkt zu haben. Der Rest ist Wut,
Hass, Schweigen: die typische Geschichte einer deutschen Familie, die an
der Politik zerbricht.
Dass sich die inzwischen 26-Jährige freilich eines Tages gezwungen sehen
würde, mit einer selbstgegründeten Bewegung in den Europawahlkampf 2019
einzugreifen, hätte nicht einmal die Mutter geahnt, bekennende
Grünenwählerin und leidenschaftliche Europäerin. Sie trägt wohl ein gutes
Teil Mitschuld an Janines später Politkarriere, wie die kräftige Brünette
eine Stunde zuvor am Stammtisch ihrer Initiative „Europa nur so mittel“
andeutet.
## „Mir wird schon wieder schlecht“
„Es hat mich so angekotzt, ihr Gelaber!“, bricht es aus Janine heraus. „W…
wichtig es wäre, dieses Mal wählen zu gehen, wegen des Brexits blablabla
angesichts der rechten Gefahr laberlaberlaber, um unsere gute Demokratie zu
stärken sabbelsabbelsabbel gegen Isolationismus und autoritäre Tendenzen
faselfaselblähblubb. Mir wird jetzt schon wieder schlecht, entschuldigen
Sie mich bitte.“
Während Janine aufs Klo geht, kommt ein junger Hipster an den ansonsten
noch leeren Stammtisch und stellt sich als „der Julius“ vor. Minuten später
folgen Sabrina und Leon und bestellen Weißweinschorle. Der Julius führt
dann auch, als Janine endlich vom Klo zurück ist und nur noch wenig aus dem
Mund riecht, auf Schleichwegen zum Stand in der großen Fußgängerzone.
„Auf die andere Seite wollte ich auch nicht“, rollt Janine unterwegs mit
den Augen. „Die nationalistische Scheiße dieser Europagegner kann man sich
ja ebenfalls nicht anhören, ohne Gallenkrebs zu kriegen. Guck dir doch den
Kack mit dem Brexit an – furchtbar! Kann man denn Europa nicht ein bisschen
nüchterner betrachten!?“
## „Na ja, pffft, Europa halt …“
Fünf Minuten später begrüßen die vier ihren Mitstreiter Andi, der schräg
gegenüber von Primark und Hugendubel den Sonnenschirm aufgestellt hat. Leon
und der Julius platzieren daneben die Klapptafeln mit den einprägsamen
Bewegungsslogans „Na ja, pffft, Europa halt …“ und „Sonntag vielleicht …
Hause bleiben!“, und dann geht es auch schon los.
„Was halten Sie denn so von Europa?“, stürmt Janine auf einen Herrn
mittleren Alters zu.
„Och …“ Der Mann kratzt sich am Kopf.
„Nicht so dolle, ne? Aber ohne geht’s ja auch nicht!“ triumphiert Janine.
Der Mann lächelt hilflos: „Nee, ne?“
„Dann lägen wir hier in Deutschland nämlich mitten im Wasser“, lacht
Janine. „Kleiner Scherz! Was ich meine: Ohne Europa geht’s nicht, aber mit
auch nicht besonders gut. Bleiben Sie also Sonntag ruhig zu Hause.“
„Ist gut“, sagt der Mann erleichtert und verabschiedet sich schnell.
Während Leon, Sabrina und der Julius ihrerseits Passanten bearbeiten,
erklärt Janine, was sie an Europabefürwortern so peinlich findet: „Die
argumentieren in allen Parteien so blauäugig, als wüssten die von dem
bürokratischen Wasserkopf nichts, nichts von bewusst geduldeten
Steueroasen, nichts von Lobbyismus und nichts von dem Schweinegeld, das das
alles kostet. Diese Pulse-of-Europe-Idioten reden von Europa wie verliebte
Austauschschüler nach ihrem ersten Sommer in Frankreich. Wie Studenten mit
Erasmus-Jahr, Brüssel-Stipendien und Hoffnungen auf eine Karriere, die sie
ohne lästige Pass- und Zollkontrollen durch ganz Europa führt.“
Mit den nächsten Interessierten gibt es deshalb lautstarken Streit. „Die
haben ja nicht mal ein Gesetzgebungsrecht in Brüssel!“, hört man Janine
brüllen. „Aber mit ihren Scheißverordnungen wollten die selbst den
Krümmungswinkel der Gurken bestimmen!“
„Immerhin haben sie uns den Nichtraucherschutz gebracht“, zischt ein
Europa-Fan.
„Darum raus aus Europa!“, schreit ein Europa-Hasser mit Kippe in der Hand.
„Kommt wohl auf die Perspektive an“, lacht der Befürworter spöttisch.
„Ja, was sage ich denn die ganze Zeit?!“, explodiert nun Janine. „Ist eben
total durchmischt, die Bilanz!“
Die Passanten trollen sich verängstigt.
Dann versammelt Janine ihren Trupp um sich, und gemeinsam skandieren sie
minutenlang die Parole: „Widerstrebendes Jein zu Europa – das ist der
Gipfel der Gefühle!“ Millionen Wähler, die weder den gehässigen
Europa-Argwohn der einen noch die behämmerte Europa-Euphorie der anderen
Parteien teilen, müssten sich davon in letzter Sekunde ansprechen lassen.
Genau dafür haben sie wochenlang bei Facebook Ortsgruppen gegründet,
Schilder gemalt und sich dazu verabredet, am Samstag vor der Wahl auf die
Straße zu gehen.
## „Kein Krieg!“ rufen alle …
„Was ist denn Europa überhaupt?“, ereifert sich Janine nun. „Ein Kontine…
der große Schwierigkeiten hat, sich abzugrenzen! Geografisch etwa, wie man
in Istanbul oder im Ural sehen kann. Oder beim Eurovision Song Contest, wo
auf einmal Teile des Orients dazugehören wie Israel oder Australien!“
„Denk auch mal an die schwierige Abgenzung zum Mittelmeer“, sagt Leon
ernst. „Ansonsten soll Europa für eine Idee stehen. Nur für welche?“
„Kein Krieg!“, rufen alle höhnisch.
„Das ist natürlich viel für die Generation der Trümmerfrauen, Nazimänner
und Pershing-II-Kinder“, spottet Sabrina. „Aber ein bisschen wenig für uns
Nachgeborene, die da verwöhnter sind. Keinen Krieg gab es auch, als ich die
letzten Male bei Europa nicht wählen war.“
„Am besten“, erklärt Janine, „wäre eine Wahlbeteiligung von 43 Prozent,…
wie 2009 und 2014.“
Und dann?
„Das bringt die Politiker vielleicht ins Grübeln“, sagt Janine. „Oder me…
Mutter. Ist mir aber inzwischen wirklich scheißegal. Es kommt halt, wie es
kommt.“
„Genial auf den Punkt gebracht, Janine!“, ruft der Julius begeistert, und
die anderen stimmen ein. Frenetischer Jubel ergreift die Einkaufszone,
welcher die Macht hat, Europa für immer zu verändern – oder auch nicht.
25 May 2019
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Schwerpunkt Europawahl
Jugend
Engagement
Apotheken
Preise
Schwerpunkt AfD
Umvolkung
Paul Ziemiak
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