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# taz.de -- Verbraucherschützer über Europawahl: „Die EU demokratisieren“
> Die Vertiefung der Europäischen Union schreitet voran. Einen
> demokratischen Ausgleich gibt es nicht, beklagt Thilo Bode.
Bild: Aber ist die EU nicht manchmal auch besser als ihr Ruf?
taz: Herr Bode, was wünschen Sie sich für das Geschehen in der Europäischen
Union in den kommenden fünf Jahren?
Thilo Bode: Wir müssen darüber diskutieren, welches Europa wir wollen und
wie die Kompetenzen zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU aufgeteilt
sind. Mit dem Slogan zu werben: „Europa ist die Antwort“, ohne diese Fragen
zu stellen, wie die SPD es macht, das reicht nicht.
Was wäre aus Ihrer Sicht die Antwort?
Europa muss das können, was die Nationalstaaten allein nicht mehr können.
Das bedeutet, dass die EU vor allem in der Außen-, Sicherheits-,
Entwicklungs- und Migrationspolitik, aber auch in der Konzernpolitik
souverän handeln kann. Aber das sieht ganz schlecht aus, gerade in der
Außenpolitik. Wir wissen, dass einige Nationalstaaten wie Frankreich ihre
Souveränität niemals aufgeben werden.
Würde so eine Verlagerung von Kompetenzen die Bürger nicht noch weiter von
zentralen politischen Entscheidungen entfernen?
Wenn wir Kompetenzen auf die EU verlagern, müssen wir die demokratischen
Leerstellen, die auf der Ebene der Nationalstaaten entstehen,
ausgleichen. Abgesehen davon besteht folgendes Problem: Die Integration
oder die Vertiefung der EU schreitet ohnehin automatisch voran. Zum
Beispiel durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, der
nationales Recht kippen kann, oder durch die internationalen
Handelsverträge.
Dieser permanenten Vertiefung steht kein ausreichender demokratischer
Ausgleich gegenüber. Deshalb findet eine zunehmende Entfremdung der Bürger
von den EU-Institutionen statt. [1][Die Wahlbeteiligung zum EU-Parlament]
ist bislang von Wahl zu Wahl gesunken.
Als die AfD auf der politischen Bühne erschienen ist, ist die Beteiligung
bei vielen Wahlen gestiegen. Es ist kein Automatismus, dass sich die Leute
nicht für die Europawahl interessieren.
[2][Die Diskussion über den Rechtspopulismus] hat die Debatte über Europa
wieder belebt. Hinter dieser Debatte stehen zwei grundsätzliche politische
Richtungen. Die eine will eine Vertiefung der EU in Richtung Bundesstaat.
Die andere will eine EU, die einen föderalen Charakter besitzt und auf den
Nationalstaaten beruht. Ich bin der Meinung, dass beide Ansichten in einer
Demokratie von vorne herein legitim sind und dass sie diskutiert werden
müssen. Diese Diskussion findet bisher im Verborgenen statt. Ich hoffe,
dass sie ausbricht.
Muss man das Demokratiekonstrukt EU nicht erst mal aushalten und Stück für
Stück demokratisieren?
Ja, wir müssen einerseits die EU demokratisieren. Ebenso müssen wir aber
eine nicht demokratisch legitimierte Kompetenzverlagerung von den
Mitgliedstaaten auf die EU unterbinden. Beides geschieht bisher nicht.
Was bedeutet das konkret?
Zwei Beispiele: Der Europäische Gerichtshof kassiert mit der Begründung, es
behindere den Binnenmarkt, nationales Recht. Damit wird zum Beispiel der
Verbraucherschutz geschleift. Die Handelsverträge der neuen Generation, die
nicht nur Zollsenkungen erreichen, sondern auch Regulierungen im Umwelt-,
Gesundheits- und Verbraucherschutz angleichen wollen, greifen tief in die
binnenstaatlichen politischen Entscheidungen ein.
Sowohl die Kompetenzverlagerungen durch Entscheidungen des Europäischen
Gerichtshofs als auch die Entscheidungsprozesse bei der Anwendung der
Handelsabkommen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert. Foodwatch,
Campact und „Mehr Demokratie“ haben deshalb kürzlich Verfassungsbeschwerde
gegen das Handelsabkommen der EU mit Singapur eingelegt.
Was ist das Besondere an diesem Abkommen?
Darin wird eine neue Hoheitsebene durch Ausschüsse etabliert, die
völkerrechtlich bindende Entscheidungen treffen können. Das Europäische
Parlament bleibt dabei außen vor. Zusätzlich muss bzw. darf so ein
weitreichendes Abkommen nicht mehr von den Mitgliedstaaten ratifiziert
werden.
Ihr Thema, der Verbraucherschutz – welchen Stellenwert hat es in der EU?
Artikel 169 des Lissabon-Vertrags sagt, der Verbraucherschutz wird im
Rahmen der Vollendung des Binnenmarkts verwirklicht. Das heißt, dass der
Verbraucherschutz dem Binnenmarkt untergeordnet wird. Dazu ein konkretes
Beispiel: die Lebensmittelampel, die vorne auf den Verpackungen die
Nährstoffzusammensetzung der Produkte anzeigen soll. Es ist – unglaublich,
aber wahr – verboten, dass Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene eine für
alle Anbieter gesetzlich vorgeschriebene Ampel einführen.
Wie wird dieses Verbot begründet?
Diese nationale Maßnahme wird als Handelshemmnis eingestuft, obwohl sie
keinen Anbieter diskriminiert und Konzerne ihre Verpackungen den nationalen
Märkten anpassen können. Deshalb gibt es trotz großer Zustimmung der
Verbraucher diese wichtige Lebensmittelkennzeichnung noch nicht.
Verbraucherrechte sind nicht nur billige Telefonkosten, sondern auch
Rechte, als Verbraucher seine Gesundheit zu schützen und Wahlfreiheit zu
haben. Dem arbeitet der Binnenmarkt entgegen.
Aber ist die EU nicht manchmal auch besser als ihr Ruf?
Selbstverständlich, alles andere wäre ja schlimm. Die EU hat das sozial
wichtige Entsendegesetz sowie die Datenschutzgrundverordnung beschlossen,
sie brummt den Digitalkonzernen heftige Bußgelder auf und verklagt
Deutschland wegen Verletzung der Nitrat-Richtlinie sowie wegen Verstöße
gegen die EU-Luftreinhaltegesetzgebung. Die EU leidet aber wie alle
internationalen Institutionen darunter: Wenn etwas gut ist, dann sind es
die Mitgliedsstaaten, und wenn etwas schlecht ist, ist es die EU.
Dabei besteht die EU im Wesentlichen aus den Mitgliedstaaten. Die
Kommission richtet sich nach dem, was die großen Mitgliedstaaten vorsingen.
Aber das ändert nichts an dem Prozess, den ich beschrieben habe.
Handelsabkommen müssen nicht mehr von den nationalen Parlamenten
ratifiziert werden, wenn die Klagerechte für Konzerne, die umstrittenen
Schiedsgericht, ausgelagert wurden. Ist das nicht ein Erfolg der Stopp
TTIP/Stopp Ceta-Bewegung?
Der Schuss ging eher nach hinten los. Die Kommission hat die Abkommen in
zwei Teilverträge aufgespalten, einen für die Klagerechte der Konzerne, der
von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden muss und einen für die
Handels-und Dienstleistungsliberalisierung, den die EU nunmehr ohne
Zustimmung der Mitgliedsstaaten beschließen kann. Damit wollte die
EU-Kommission verhindern, dass der Ratifizierungsprozess zu lange dauert.
Das europäisch-kanadische Abkommen Ceta muss ja in Deutschland und vielen
anderen EU Staaten noch ratifiziert werden. Da die neuen, umfassenden
Verträge über die Handels-und Dienstleistungsliberalisierung aber tief in
die binnenstaatliche Politik eingreifen, ist das aus meiner Sicht kein
Erfolg des großen Protestes gegen die Handelsverträge, sondern ein
demokratieschädliches Nebenprodukt.
Müssen die Bürger mehr Einfluss auf die EU nehmen können?
Momentan findet eine versteckte Kompetenzverschiebung statt, gegen die die
Bürger sich nicht wehren können. Für Unternehmen gibt es hingegen die
Möglichkeit, zu klagen, wenn die vier Grundfreiheiten – Handelsfreiheit,
Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit
– nicht gewährleistet sind. Die Verbraucher haben aber keine Rechte. Es
gibt auch keine verbindliche Sozialpolitik in der EU. Wir müssen also die
EU demokratisieren.
Und wie?
Wir müssen pragmatisch vorgehen, denn eine Änderung der EU Verträge, die
Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten erfordert, erscheint vorerst
illusorisch. Erstens müssen wir transparent machen, wie der Ministerrat
überhaupt arbeitet. Er ist eine Blackbox unter erheblichem Einfluss von
Konzern-Interessen. Zweitens brauchen wir eine Reform des
Gemeinnützigkeitsrechts für NGOs. Wir können uns gegenwärtig nicht effektiv
europäisch organisieren. Das Gemeinnützigkeitsrecht ist das am wenigsten
harmonisierte Recht in Europa.
Drittens brauchen wir Möglichkeiten der direkten Bürgerbeteiligung.
Viertens brauchen wir ein Klagerecht, das uns Verbrauchern die Möglichkeit
gibt, Mitgliedsstaaten zu verklagen, wenn sie Gesetze nicht vollziehen oder
gegen sie verstoßen. Das geschieht haufenweise im Lebensmittelrecht.
Fünftens brauchen wir ein Klagerecht, das uns die Möglichkeit gibt, Gesetze
durch den Europäischen Gerichtshof auf Übereinstimmung mit dem EU
Primärrecht überprüfen zu lassen.
Wählen Sie am Sonntag?
Natürlich. Die EU-Parlamentswahlen sind aus demokratietechnischer Sicht
zwar nicht das Gelbe vom Ei. Denn das Europäische Parlament hat kein
Gesetzesinitiativrecht, kann nicht den Kommissionspräsidenten wählen und
wir können keine europäischen Partei-Listen wählen. Wir wählen Fraktionen,
die alleine nichts zu sagen haben. Und die etwas zu sagen haben, die können
wir nicht wählen. Aber das europäische Parlament ist eine wichtige Stimme
in Europa und fällt wichtige Entscheidungen. Ich finde es essentiell, dass
da gute Persönlichkeiten sitzen.
26 May 2019
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## AUTOREN
Anja Krüger
Jan Feddersen
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