Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Der zweite Bahnhof
> Das Motiv eines Zweitbahnhofs tritt vorwiegend in Träumen von Menschen
> auf, die täglich mit der Eisenbahn zur Schule oder Arbeit und zurück
> fahren …
Ein in der älteren Eisenbahnliteratur häufig vorkommendes Motiv ist der
„Zweite Bahnhof“. Darunter versteht man ein mit einer regulären Bahnstation
zwar namensgleiches, äußerlich jedoch stark von dieser abweichendes Gebäude
an einer anderen, oft unsinnigen Stelle in der Nähe des Originals. Dieses
Motiv tritt vorwiegend in Träumen von Menschen auf, die über lange Zeit
hinweg täglich mit der Eisenbahn zur Schule oder Arbeit und zurück fahren.
Seltener sind Berichte über im Wachleben gemachte Erfahrungen mit diesem
Phänomen. Mir selbst ist es in jungen Jahren einmal begegnet.
Als ich an einem frühen Nachmittag von der Schule heimfuhr, bog der
Nahverkehrszug kurz vor meinem Reiseziel überraschend nach links ab,
anstatt geradeaus weiterzufahren. Er hielt dann etwa zweihundert Meter von
der eigentlichen Station entfernt an einer gänzlich anders aussehenden, die
trotzdem den gewohnten Namen trug. Entsprechend verunsichert stieg ich aus.
Weil aber die Gegend, abgesehen von der unmittelbaren Umgebung des
Bahnhofs, größtenteils vertraut wirkte, hatte ich keine Schwierigkeiten mit
der Orientierung. Bald erreichte ich die Straße, in der ich mit meinen
Eltern wohnte. Unser Haus war allerdings nicht mehr das altbekannte. In
Bauweise und Größe unterschied es sich gewaltig von dem vormaligen. Auch
meine Eltern waren andere, mir völlig fremde Leute. Nichtsdestoweniger
sahen sie in mir ganz selbstverständlich ihren Sohn.
Das brachte mich auf den Gedanken, ich selbst könne mich ebenfalls
äußerlich verändert haben. Im Garderobenspiegel fand ich dafür aber keinen
Beweis. Erstaunlicherweise wusste ich genau, wo in der unbekannten Wohnung
mein Zimmer war. Als ich es betrat, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass
ihm jede Ähnlichkeit mit demjenigen fehlte, das ich am Morgen verlassen
hatte. Der einzige Gegenstand, den ich kannte, war mein altes Radio. Ich
erlitt einen Verzweiflungsanfall und wurde nach Verabreichung eines
Beruhigungsmittels ins Bett gesteckt.
Am nächsten Morgen erwachte ich wieder in der richtigen Umgebung. So
erleichtert ich war, hatte das Erlebnis vom Vortag mein Vertrauen in die
Welt doch nicht eben gestärkt. Dass ich alles nur geträumt hätte, glaubte
und glaube ich bis heute nicht. Wahrscheinlich war durch den Schlaf die
Störung beseitigt und die alte Realitätsillusion wiederhergestellt worden.
Letztere blieb danach in ihren Grundzügen zwar konstant, doch wurde mit der
Zeit immer deutlicher offenbar, dass sie hoffnungslos zerrüttet war.
Inzwischen sind überall in der noch bewohnten Welt die Naturforscher mit
der Erklärung der Eisenbahn beschäftigt. Ihre Arbeit befindet sich erst im
Anfangsstadium, sehr viel Geduld ist erforderlich. Parallel dazu versucht
die Wissenschaft auch, solche Phänomene wie Telefonapparate, Plattenspieler
oder Radiogeräte zu enträtseln.
22 May 2019
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kindheit
Bahnhof
Traum
Groteske
Groteske
Groteske
Stadtplanung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Eine üble Entdeckung
Da will man nur ordnungsgemäß den Müll hinaustragen – und dann das! Im
grauen Mülleimer liegt etwas, das einen fast zu Tode erschreckt.
Die Wahrheit: Hubschrauber über den Schuhen
Wie konnte das nur geschehen? Ohne Fußbekleidung aufwachen? In einer
Kunstgalerie? Es ist der Beginn einer fieberhaften Suche…
Die Wahrheit: Fälschung im Radio
In einer grotesken Welt mit kulissenartigen Städten, die von schemenhaft
auf- und abtauchenden Wesen bevölkert werden, ist das Ich allein ein
Mensch.
Die Wahrheit: Schwere Modellbau-Irritation
Als toter Dichter wusste ich nicht viel mit mir anzufangen. Damit ich
irgendetwas zu tun hatte, wurde ich von der Stadtverwaltung eingestellt.
Die Wahrheit: Beim Radiobaron
Wenn das Radio Gedanken lesen kann, wird es Zeit, jemanden von adeligem
Geschlecht zu konsultieren. Oder andere Fachleute.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.