# taz.de -- Die Wahrheit: Fälschung im Radio | |
> In einer grotesken Welt mit kulissenartigen Städten, die von schemenhaft | |
> auf- und abtauchenden Wesen bevölkert werden, ist das Ich allein ein | |
> Mensch. | |
Von mir wird es einmal heißen: „Zuletzt schrieb er nur noch über ein altes, | |
offenbar seit Langem verlassenes Haus auf einem verwahrlosten Grundstück in | |
der Nachbarschaft.“ Als eines Nachmittags im Spätherbst Rauch aus dem | |
Schornstein dieses Hauses gestiegen war, ohne dass sich sonst etwas am | |
Charakter seiner Unbewohntheit geändert hatte, war ich neugierig geworden. | |
Von nun an achtete ich, wenn ich vorbeiging, genau auf etwaige | |
Veränderungen. | |
Der hölzerne Gartenzaun wurde allmählich lückenhafter und war im folgenden | |
Sommer endlich restlos verschwunden. Zu dieser Jahreszeit konnte er kaum | |
von heimlichen Bewohnern des Hauses verheizt worden sein. Nicht einmal im | |
Winter hätte jemand zu diesem Mittel greifen müssen, denn links und rechts | |
von dem einstöckigen Haus waren große Brennholzmengen regensicher | |
gestapelt. Als viel größer musste die Wahrscheinlichkeit angesehen werden, | |
dass der Zaun von Passanten gestohlen und als Holzspende im Louvre | |
abgegeben worden war. Was mir noch auffiel, war, dass das sonst immer im | |
Hauklotz bei den Holzvorräten steckende Beil ein paar Tage lang auf dem | |
Klotz lag, danach aber wieder in denselben geschlagen worden war. Doch auch | |
dafür mochten Außenstehende, etwa Kinder aus der Gegend, verantwortlich | |
sein. | |
Dann konnte ich monatelang keinerlei Veränderung mehr feststellen. Im | |
Dezember aber waren eines Tages die schäbigen Kunststoffrolläden vor den | |
Fenstern vollständig heruntergelassen, nachdem sie bisher immer einen Spalt | |
frei gelassen hatten. Es musste also – wenigstens hin und wieder – jemand | |
in dem Haus sein. Dafür sprachen auch die Fußspuren, die ich ein paar | |
Wochen später im frischen Neuschnee auf dem Grundstück sah. Es waren | |
lediglich Abdrücke eines einzigen Paars Schuhsohlen, die von der Haustür | |
zum Bürgersteig führten. | |
Diese neuen Entdeckungen konnten es unbedingt mit dem rauchenden Kamin im | |
vergangenen Herbst aufnehmen. Erstaunlicherweise fuhr, wie damals, auch | |
jetzt ein Pkw vorbei, aus dem mir eine Frauenstimme zurief: „Gehen Sie | |
schnell nach Hause, Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!“ Für | |
eine Sekunde konnte ich die Sprecherin dieser Worte sehen: eine ältere Frau | |
mit gelblich blondem, gewelltem Haar. Sie trug eine Brille und ein blaues | |
Kleid. Ob es derselbe Wagen wie seinerzeit war, vermochte ich nicht zu | |
entscheiden. | |
Weisungsgemäß begab ich mich nach Hause und schaltete neugierig das alte | |
Radio ein, das ich vor langer Zeit von meinen Eltern geerbt hatte. Eine | |
etwas altertümlich klingende Stimme teilte mir mit, der | |
Standard-Echtheitstest habe ergeben, dass ich eine Fälschung sei. „Was Sie | |
für sich selbst halten, scheint tatsächlich eine Art Gummipuppe zu sein“, | |
hieß es. „Eine geheime Macht hat mittels Täuschung und Illusion bewirkt, | |
dass dieses Ding sich ein Bewusstsein einbildet.“ | |
Das beruhigte mich, denn ein Mensch zu sein, ist ja das Schlimmste | |
überhaupt. | |
11 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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