# taz.de -- Die Wahrheit: Hubschrauber über den Schuhen | |
> Wie konnte das nur geschehen? Ohne Fußbekleidung aufwachen? In einer | |
> Kunstgalerie? Es ist der Beginn einer fieberhaften Suche… | |
Aus dem Hotel war über Nacht so etwas wie eine ganz elende Kunstgalerie | |
geworden. Es gab nur noch eine einzige Etage, und nach den Fenstern zu | |
urteilen, musste es sich dabei um den Souterrain oder den Keller handeln. | |
An allen Wänden hingen die schrecklichsten Bilder und Gegenstände. Und als | |
wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, dass ich auf einem alten | |
Campingliegestuhl erwacht war, anstatt in dem ein paar Stunden zuvor | |
aufgesuchten Bett, konnte ich obendrein nirgendwo meine Schuhe finden. Ohne | |
meine Schuhe wusste ich nicht, wer und wo ich war. Ich spürte, dass meine | |
Jacke die Antworten auf diese Fragen kannte, aber ohne meine Schuhe | |
verstand ich meine Jacke nicht. | |
„Nein, ich weiß auch nicht, wo Ihre Schuhe sind“, sagte die Frau im Büro | |
ohne jedes Bedauern. „Sie müssen besser auf Ihre Sachen aufpassen.“ – �… | |
es ist doch nicht meine Schuld, wenn sich hier plötzlich alles total | |
verändert!“, rief ich anklagend. Davon wollte die Frau nichts hören. Sie | |
behauptete: „Hier hat sich nichts verändert.“ – „Wenn das so ist“, | |
erwiderte ich, „würde ich jetzt gern frühstücken.“ – „Frühstücken?… | |
glauben Sie denn, wo Sie sind? Mich würde doch wirklich einmal | |
interessieren, ob wir hier auf einem Schiff sind!“ | |
Von ihr war, wie ich einsah, keine Hilfe zu erwarten. Ohne ein weiteres | |
Wort zu verlieren, lief ich aus dem Büro. Dabei rannte ich beinahe die | |
Schwester des Hubschrauberpiloten über den Haufen. Sie hatte mich gesucht, | |
weil sie mir mitteilen wollte, dass ihr Bruder die Gegend weiträumig zu | |
überfliegen gedachte, um meine Schuhe aus der Luft zu suchen. | |
„Nacht für Nacht, bis er sie findet“, versicherte sie mir. Sie zeigte mir | |
sogar, wo die Küche war und wie man frühstückte. Voller Dankbarkeit küsste | |
ich ihre Hände. Während ich dann beim Essen und Trinken all die über Nacht | |
eingetretenen Veränderungen und ganz besonders den Verlust meiner Schuhe | |
beklagte, sprach die Tochter des Hubschrauberpiloten von ihren Nöten. | |
Zögernd gestand sie mir, Gegenstand der furchtbaren Zuneigung eines | |
nichtmenschlichen Wesens zu sein, das zuerst wie ein haarloser, mit einer | |
Art Nachthemd bekleideter Hund oder Storch ausgesehen, später aber das | |
Äußere eines sehr schlichten Mannes angenommen habe. Aus Schwäche habe sie | |
sich dazu hinreißen lassen, viel zu entgegenkommend zu sein, sodass jenes | |
Wesen nun Anspruch darauf erhebe, von ihr geliebt zu werden. Dabei scheine | |
es unberechenbar und zu drastischen Taten in der Lage zu sein. | |
Weil mir nichts Tröstliches zu dem Thema einfiel, frühstückte ich | |
einstweilen schweigend weiter. Die Schwester des Hubschrauberpiloten | |
schwieg ebenfalls. Schließlich verließ sie mit einem stillen Gruß die | |
Küche. | |
Seitdem ertönt allnächtlich um vier Uhr eine Sirene, und anschließend ist | |
eine Stunde lang zu hören, wie ein Hubschrauber über der Gegend kreist. Ich | |
habe mit schwarzer Schuhcreme an die Wand geschrieben: „Die Nacht ist | |
schön.“ | |
8 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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