# taz.de -- Debatte „Pinkwashing“ und ESC in Israel: Verhasste Vielfalt | |
> Israel wird vorgeworfen, mit liberaler LGBT-Politik und dem Eurovision | |
> Song Contest die Palästinenser-Politik reinzuwaschen. Geht’s noch | |
> absurder? | |
Bild: Menschen in Israel feiern Netta Barzilais ESC-Gewinn – nur eine böswil… | |
Am vergangenen Samstag feuerten Hamas und Islamischer Dschihad über 300 | |
Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Wohngebiete ab. Für die | |
Bewohner im Süden Israels gehört dieser Raketenterror fast schon zum | |
Alltag. Doch der erneute Beschuss fand keineswegs zufällig kurz vor dem in | |
Tel Aviv anstehenden Eurovision Song Contest (ESC) statt. „Wir werden den | |
Feind davon abhalten, das ESC-Festival zu veranstalten, dessen Zweck es | |
ist, das palästinensische Narrativ zu unterminieren“, teilte der Islamische | |
Dschihad mit. | |
An demselben Samstag fand in Berlin der sogenannte Palästina-Tag statt, bei | |
dem Anhänger der gegen Israel gerichteten BDS-Kampagne („Boykott, | |
Desinvestitionen und Sanktionen“) zum Boykott des ESC aufriefen. Mit einem | |
Transparent bewarben sie die internationale Kampagne gegen die | |
Musikveranstaltung: Das Eurovisions-Logo liegt hinter Stacheldraht, in der | |
Mitte ist ein Herz zu sehen, das in SS-Runen zerspringt. [1][Israel als die | |
Nazis von heute – eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr.] Im BDS-Aufruf | |
zum ESC heißt es, dass Israel die Veranstaltung „schamlos als Teil seiner | |
Strategie“ nutze, „die versucht, ‚Israels schöneres Gesicht‘ zu zeigen… | |
von seinen Kriegsverbrechen gegen Palästinenser abzulenken“. | |
Selbstverständlich ist es ein zentraler Unterschied, ob man den ESC mit | |
Waffengewalt oder durch eine Boykottkampagne verhindern will. Doch | |
letztlich zielt auch BDS mit der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ für | |
die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge auf das Ende eines jüdischen | |
Staats. Teile der Kampagne sehen sogar das gesamte Staatsgebiet als | |
besetztes Land an. „Artwashing Apartheid“ heißt ihr Slogan gegen den ESC. | |
Dahinter steht nicht nur der abwegige Vorwurf, Israel praktiziere | |
Apartheid, obwohl es in dem Land arabische Parlamentsabgeordnete, | |
Verfassungsrichter, Generäle und Diplomaten gibt. | |
Viel interessanter ist, dass die Kampagne damit nahtlos an den [2][nur in | |
bestimmten Szenen populären Vorwurf des „Pinkwashing“ anknüpft.] Dabei | |
handelt es sich um eine Verschwörungsfantasie, die Israel vorwirft, mit dem | |
Werben für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen | |
von der Palästinenserpolitik abzulenken. Israel führe einen „schwulen | |
Propagandakrieg“, behauptet beispielsweise die Queer-Theoretikerin Jasbir | |
Puar. | |
## Individuelle Freiheiten | |
Auch in einigen linken und queeren Gruppen ist der Vorwurf bekannt, dass | |
Israels liberale Haltung gegenüber LGBT-Personen lediglich eine böswillige | |
Verschleierungstaktik sei. Israel ist allerdings der einzige Ort im Nahen | |
Osten, an dem LGBT-Personen grundlegende Rechte gewährt werden und diese | |
rechtlich vor Diskriminierung geschützt sind. | |
In den palästinensischen Gebieten müssen Homosexuelle Gewalt von | |
Familienmitgliedern, militanten Gruppen und Sicherheitskräften befürchten, | |
im Gazastreifen ist gleichgeschlechtlicher Sex illegal und wird mit bis zu | |
zehn Jahren Gefängnis bestraft. Auch in den Nachbarländern Israels werden | |
LGBT-Personen massiv verfolgt. | |
Nein, auch Israel ist kein „Schwulenparadies“. Ja, auch in Israel gibt es | |
weiterhin in Teilen der Gesellschaft feindselige Einstellungen gegenüber | |
LGBT-Personen. Die Situation in der liberalen Großstadt Tel Aviv, in der | |
jährlich Hunderttausende an einer der größten Pride-Paraden der Welt | |
teilnehmen, ist nicht immer mit der Situation in anderen Landesteilen | |
vergleichbar. So gibt es gerade in streng religiösen Kreisen Vorbehalte | |
gegen Homosexualität und auch gegen den kommenden ESC. Und | |
selbstverständlich mussten die Liberalisierungen auch in Israel erst gegen | |
die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft erkämpft werden. | |
Dennoch besteht ein Unterschied ums Ganze zwischen bürgerlichen | |
Gesellschaften mit einer gewissen Anzahl an individuellen Freiheiten und | |
solchen Gesellschaften, in denen der Genuss dieser Freiheiten versagt | |
bleibt. Solange nicht überall sexuelle und geschlechtliche Vielfalt so | |
gefeiert werden kann wie während der Tel Aviv Pride, ist es deshalb | |
ausgesprochen lächerlich, hier ausgerechnet Israel zurechtzuweisen und | |
gleichzeitig über die drakonischen Anti-Homosexuellen-Gesetze in den | |
Nachbarländern zu schweigen. | |
## Ohne Angst verschieden sein können | |
Der „Pinkwashing“-Vorwurf ist jedoch nicht nur lächerlich, in ihm klingen | |
auch zahlreiche antisemitische Motive an: Israel sei verlogen, hinterlistig | |
und verschwörerisch. Jahrhundertealte judenfeindliche Stereotype, | |
reproduziert auf den jüdischen Staat. So haben selbsternannte „Pinkwatcher“ | |
bereits mehrfach erfolgreich Treffen europäischer oder amerikanischer | |
LGBT-Organisationen mit israelischen LGBT-Organisationen verhindert. | |
Die Haltung der Israelis zur Politik ihrer Regierung spielte dabei übrigens | |
keine Rolle, ihre Staatsangehörigkeit reichte für die Boykottaufrufe aus. | |
[3][Auch die israelische Sängerin und letztjährige ESC-Gewinnerin Netta | |
Barzilai wurde bereits Opfer der Kampagne:] Im November hatte eine Gruppe | |
von antiisraelischen LGBT-Aktivisten die Absage ihrer Konzerte in Europa | |
gefordert. „Barzilai unterstützt die Pinkwashing-Agenda der israelischen | |
Regierung, die LGBT-Rechte nutzt, um sich vor Kritik an der | |
jahrzehntelangen Unterdrückung von Palästinensern zu verstecken“, hieß es | |
in einem Statement. | |
Wie eingangs beschrieben, nutzen nicht nur queere Israelfeinde den | |
Eurovision Song Contest als Anlass, um den jüdischen Staat zu | |
verunglimpfen. Der zitierte Islamische Dschihad hat noch andere Gründe für | |
die Ablehnung der Gesangsveranstaltung. Sie steht für Vielfalt und ist | |
insbesondere unter den verhassten Schwulen beliebt. Im Hass auf die Utopie, | |
ohne Angst verschieden sein zu können, im Hass auf Hedonismus, | |
Lebensfreude, Freizügigkeit, verführerische Dekadenz, Promiskuität, | |
[4][Selbstbestimmung, Emanzipation, eine offen ausgelebte Sexualität] sowie | |
Lust und Rausch ist eine schwule Party in Tel Aviv für Islamisten eine | |
grauenerregende Vorstellung. | |
9 May 2019 | |
## LINKS | |
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[3] /Israelische-Saengerin-Netta/!5501399 | |
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## AUTOREN | |
Frederik Schindler | |
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