# taz.de -- Die Wahrheit: Pferdegebisse in der Notaufnahme | |
> Ostern ist ein kompliziertes Fest. Für Verwirrung sorgen besonders | |
> kulturelle Differenzen im Umgang mit den unverzichtbaren Eiern. | |
Bild: Diagnose „Paschasthenie“ – ein ausgeprägtem Osterunverständnis | |
Jedes Kind versteht Weihnachten ganz intuitiv. Draußen ist es kalt und | |
ungemütlich, also holt man die Bäume rein und isst warme Tiere. Damit man | |
nicht herumheult, weil irgendwelche Tanten bloß kratzige Socken oder | |
Pullover gestrickt haben, bekommt man noch was Schönes dazu, gewissermaßen | |
als Schweigegeld. | |
So wird emotionale Erpressung spielerisch erlernt, bei vielen Familien | |
kommt noch Gesang und Christentum dazu. Bei uns fiel beides unter den | |
Tisch, mangels Talent. Deshalb weiß ich auch nicht, ob meine Lernschwäche, | |
was das Leben Jesu angeht, genetisch vererbt wurde oder durch Prägung | |
entstand. | |
Eine gewisse Verwirrung in biblischen Belangen ist ja durchaus verbreitet. | |
Niemand weiß zum Beispiel genau, was an Pfingsten gefeiert wird. Es ist | |
außerdem ein beliebter Zeitvertreib von Regionalsendern, an schwer | |
erklärbaren Feiertagen wie Fronleichnam unbescholtenen Bürgern in | |
Fußgängerzonen aufzulauern, um sich von ihnen den vertrackten Gabelflug des | |
Heilands gen Himmel vorstammeln zu lassen. Aber kaum jemand leidet wie ich | |
unter „Paschasthenie“, einem ausgeprägtem Osterunverständnis. | |
Im geschützten heimisch-heidnischem Umfeld fiel dieses Manko gar nicht | |
weiter auf. Wie jedes Nesthäkchen nahm ich an, dass es zu Ostern vor allem | |
um mich ginge. Der Verdacht wurde fleißig genährt, denn soweit meine | |
Erinnerung zurückreicht, verlief unser österliches Ritual zwar | |
abenteuerlich, steuerte aber immer auf ein verlässlich gutes Ende zu. | |
Jedenfalls für mich. | |
Mein Englisch unterrichtender Vater pflegte unsere Familie mitsamt eines | |
Rudels seiner Schüler zum Osterfest in die britische Hauptstadt zu | |
verfrachten, auf dass wir alle zusammen die Sprache und Gebräuche der | |
Angelsachsen lieben lernten. Um gerade die Jugend spielerisch an Fuchsjagd | |
und Rugby-Spiel heranzuführen, verzichtet man auf der Insel allerdings auf | |
das umständliche Verstecken und Finden von bunt gefärbten Eiern und | |
veranstaltet lieber spannende Wettrennen. | |
## Brechende Gliedmaßen | |
Das Ziel waren gut sichtbare Schokoladen-Nester am Fuße eines grünen | |
Hügels. Die Kombattanten säumten wiederum den Gipfel, und sobald ein | |
Kanonenschuss fiel, setzte sich die ganze Meute bergab in Bewegung – teils | |
rennend, teils kugelnd. Es war ein Meer aus brechenden Gliedmaßen, das ich | |
von oben herab betrachten durfte, während ich auf den Schultern meiner | |
Königinmutter thronte. Mein Vater lauschte zählend den Schreien der | |
Verwundeten und bestellte dann die entsprechende Anzahl Krankenwagen. | |
Unter Sirenengeheul ging es dann direkt in meinen persönlichem Osterhimmel: | |
in die Notaufnahme von Harrow on the Hill im Nordwesten Londons. Und obwohl | |
ich ohne jede Blessur war, wurde ich dort von großrahmigen Frauen mit | |
Pferdegebissen, die mich als „Sweet Darling“ priesen, mit hochprozentigem | |
Zuckerzeug vollgestopft. Am späten Nachmittag durfte ich nach Herzenslust | |
eingegipste Arme und Beine unterzeichnen. | |
## Blutige Details | |
Ich war ein glückliches Kind und glaubte, Ostern verstanden zu haben. Bis | |
ich eingeschult wurde, denn im Religionsunterricht sollte ich plötzlich | |
Auskunft über den Sinn der österlichen Botschaft geben. Bloß bekannt mit | |
dem britischen Eiermassaker, gab ich meine Einschätzung ab: „Leute, ihr | |
müsst da überhaupt nicht mitrennen. Je weniger ihr euch bewegt, desto mehr | |
Schokolade kriegt ihr. Wichtig ist nur, niedlich zu gucken, sobald ihr im | |
Krankenhaus seid. Und immer schön ,Thank you' sagen. Das heißt: ,Mehr | |
davon' auf Englisch.“ | |
Die Mitschüler, die nicht lachten, weinten sehr. Unserer Klassenlehrerin | |
fiel nichts Besseres ein, als mich im Schnelldurchlauf vom Rest der Klasse | |
missionieren zu lassen. So hörte ich erstmals durch sechsjährige | |
Laienprediger von Jesus, seinen komplizierten Familienverhältnissen, seiner | |
Gang von Aposteln und seinem Gang ans Kreuz. Während die Mädchen vor allem | |
darauf bestanden, dass Jesus kein echter Mensch, sondern der Sohn Gottes | |
war, der Brot herbeizaubern konnte, überhäuften mich die Jungs mit blutigen | |
Details, wie Anzahl und Länge der Nägel, mit denen er an den Gliedmaßen | |
durchbohrt worden sei. Am Ende sei aber doch alles gut gegangen, | |
behaupteten sie, weil Jesus schnell weggeflogen sei, bevor er ganz tot war. | |
## Unerwartete Parallelen | |
Ich hatte unendlich viele Fragen, aber schon ertönte die Pausenklingel und | |
unsere Lehrerin entließ mich mit folgender Richtigstellung in die Ferien: | |
„Doch, Jesus ist schon richtig gestorben, und zwar für uns Christen. Und | |
deswegen suchen wir hier unsere Eier, die ein großer Hase versteckt hat, | |
und rennen ihnen nicht hinterher.“ | |
Ich kann nicht behaupten, dass ich danach viel klarer sah. Als ich zu Hause | |
von der Debatte berichtete, empfahl mir meine Mutter die Lehren der | |
religiösen Unterweisung zu ignorieren, bis sie mich „offiziell von diesem | |
Humbug befreien“ könne. Fortan malte ich während der Stunden je nach Saison | |
Weihnachtsbäume, Pfingstochsen oder eben Häschen, aber befreien konnte ich | |
mich nie ganz von dem Humbug. Ich sah nämlich Parallelen zwischen mir und | |
Gottes Sohn. Genau wie ihm war mir sehr großes Unrecht zuteilgeworden. Nach | |
der Geburt meines jüngeren Bruders war ich plötzlich nicht mehr das | |
bevorzugte Kind in den Notaufnahmen der britischen Krone, und bald fuhren | |
wir gar nicht mehr zur wilden Eierjagd nach England. | |
Später fragte ich mich, ob unser Hund vielleicht gläubig war, denn er war | |
der Einzige von uns, der unsere halbherzig versteckten | |
Schokoladen-Ostereier fand, fraß und trotzdem erstaunlich lange nicht davon | |
starb. Als er es dann doch irgendwann tat, sah unsere Restfamilie keinen | |
Sinn mehr im Vortäuschen christlicher Bräuche. | |
## Eierjagd mit Minimalrisiko | |
Erst Jahrzehnte später habe ich mich mit meinem mangelnden Osterverständnis | |
nicht nur arrangiert, sondern gehe auch offen damit um. Sehr offen sogar. | |
Seit ich ein Ganzkörperhasenkostüm besitze, vereine ich jeden Ostersonntag | |
Heiden- und Christenkinder zum freihändig improvisiertem Patchwork-Ritual. | |
In vollem Ornat hüpfe ich in den Park und verstecke Eier für den Nachwuchs | |
meiner Freunde. Der wird mir sehr gern zur Verfügung gestellt, weil sich | |
die Erziehungsberechtigten dann einmal im Jahr bei Tageslicht besaufen | |
können. Dann singe ich dem Leih-Nachwuchs den österlichen Klassiker „Ihr | |
Kinderlein kommet“, und wahrlich, sie folgen meinem schrecklichen Gesang. | |
Da Gott nicht würfelt, müssen das die lieben Kleinen übernehmen. Wer eine | |
Sechs wirft, darf zur Eierjagd lospreschen. Aber nicht britisch bergab und | |
nicht mit der ganzen Meute, um das Unfallrisiko vertretbar zu halten. Am | |
Ende sind alle glücklich und unverletzt, aber vor allem viel zu | |
vollgefressen, um ausgerechnet den Osterhasen zu fragen, was es mit dem | |
seltsamen Fest auf sich haben könnte. | |
20 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Katinka Buddenkotte | |
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