# taz.de -- Die Wahrheit: Jérôme aus dem Timberland | |
> Die Kanada-Woche der Wahrheit: Wie kanadische Austauschschüler einst den | |
> Grunge nach Westfalen und zurück nach Nordamerika brachten. | |
Bild: Das ewige Nachwuchstalent Prince Charles blieb auch beim Bond-Casting cha… | |
Ursprünglich stammt Grunge gar nicht aus Seattle nahe dem kanadischen | |
Vancouver, sondern aus dem Münsterland. Er wurde auch gar nicht von | |
wütenden Amis aus mehr oder minder prekären Verhältnissen erfunden, sondern | |
im Gegenteil: Von uns wurde diese Mucke erfunden. Natürlich lässt sich das | |
alles heute nicht mehr lückenlos beweisen, weil es 1990 ja noch kein | |
Internet gab. Wenn es das gegeben hätte, hätte Sören Nientiedt das wohl | |
schon gehabt. | |
Sören hat ja immer alles bekommen, von seiner Mutter. Erst das Moped, dann | |
Kabelfernsehen und zur Krönung auch noch den besten Austauschschüler. Und | |
obwohl es oft hieß, dass Sörens Mutter Vera trotz ihrer lukrativen | |
Scheidung ja schon etwas schlicht sei, glaube ich, dass alle ihr einfach | |
nur dankbar waren, damals auf dem Schulhof, als die Kanadier ankamen. Denn | |
aus dem Reisebus stieg eine schmächtige Bande bebrillter Bleichgesichter, | |
die so gar nichts mit dem Bild gemein hatte, das wir uns von den Gästen | |
gemacht hatten. Ahornbäume waren bestellt, aber geliefert wurden Zweiglein. | |
Nur einer von ihnen wirkte so, als könne er eine Axt zumindest hochheben, | |
und das war: „Je m’appelle Jérôme!“ Darauf folgte ein kollektives | |
westfälisches Schweigen. | |
Theoretisch kann dieses ewig andauern, aber mindestens so lange, bis jemand | |
den Bann bricht und so etwas behauptet wie: „Das war Französisch.“ Darüber | |
hätte dann wieder diskutiert werden können in Akademikerkreisen. Und es | |
wäre diskutiert worden, bis unsere frankokanadischen Fliegengewichte | |
unverrichteter Austauschdinge wieder zum Flughafen hätten kutschiert werden | |
müssen. Aber glücklicherweise besann sich Sörens Mutter unserer wahren | |
Willkommenskultur. | |
Sie packte Jérômes Hand, schüttelte diese und ihn gleich mit und sprach: | |
„Schön, datte da bist, Junge, aber du bist ja hier, um Deutsch zu lernen. | |
Ab heute heißt du Jürgen, ist für alle einfacher, ne?“ – „Oui“, erga… | |
sich der Angesprochene, und es sollte nur Tage dauern, bis aus diesem | |
verkümmerten Jawort ein breites, klares „Jau!“ werden sollte. | |
So wurde Sörens Mutter nachträglich zur Ikone für burschikosen | |
Kulturtransfer. Ihre Tipps zur Interims-Integration waren einfach, doch | |
wirkungsvoll. Um die verzärtelte Besucherschar aus Québec fit für den | |
verregneten Vorfrühling zu machen, besuchten wir mit ihr unzählige | |
Dorffeste, regionalbedingt triste Karnevalszüge und führten sogar das | |
bewährte Lochkarten-System in der Stadtbücherei vor. | |
Am Ende waren sie alle vertraut mit der hohen Kunst des Dosenstechens, und | |
zum Abschied schenkten wir den kanadischen Austauschschülern einen Packen | |
Flanellhemden, die es beim Tchibo im Angebot gab. Also gut: Wahrscheinlich | |
war es Jürgen-Jérôme, der die kurzlebige Musikrichtung Grunge über den | |
großen Teich reimportierte, aber die oft unverständlichen Texte und die | |
gesamte brachiale Attitüde, die stammen definitiv von uns. Und Sören | |
Nientiedts Mutter. | |
19 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Katinka Buddenkotte | |
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