# taz.de -- Parlamentswahl in Indien: Lotus gegen Hand | |
> Bis Mitte Mai wird in der größten Demokratie der Welt gewählt. Die Stadt | |
> Nagpur ist schon fertig mit der Prozedur. Und alles hat geklappt. | |
Bild: Demokratie kann ganz schön anstrengend sein. Wahlhelfer mit ihren Utensi… | |
NAGPUR taz | Wir wollen keine Trennung zwischen Hindus und Muslimen“, sagt | |
Nash Ali. Die 30-Jährige engagiert sich erst seit Kurzem politisch. Sie | |
möchte, dass sich das Leben in ihrer Stadt verbessert. „Wegen der | |
BJP-Regierung und Minister Nitin Gadkari haben wir vieles verloren.“ Ali | |
trägt eine weiße Bluse, dazu eine eng anliegende Stoffhose und ein Headset | |
an ihrem Ohr geklippt. „Alles, was er uns gegeben hat, sind Zementstraßen. | |
Doch wir brauchen Arbeitsplätze und keine höheren Steuern, um diese | |
Projekte zu finanzieren“, sagt sie mit lauter Stimme. | |
In der 3-Millionen-Metropole Nagpur sind die Straßen aufgerissen, die Luft | |
ist staubig. Es ist Mitte April und die Temperaturen steigen tagsüber schon | |
auf 40 Grad Celsius. Wer in die Hitze muss, bedeckt seinen Kopf mit einem | |
Tuch. Quer durch die Innenstadt ragen riesige Pfeiler in die Höhe. Sie | |
sollen für den Fortschritt stehen, von dem der indische | |
Infrastrukturminister Nitin Gadkari der hindunationalistischen Volkspartei | |
Bharatiya Janata Party (BJP) spricht. Der Bau einer überirdischen Metro und | |
vieler neuer geteerter Straßen – das sind seine Prestigeprojekte. Und die | |
sollen ihn im Amt halten. | |
Riesige Plakatwände deuten auf einen erbitterten Kampf. Die einen zeigen | |
auf orangem Hintergrund den indischen Premier Narendra Modi, dessen | |
Kabinett Gadkari angehört. Von anderen, die blau hinterlegt sind, blickt | |
zuversichtlich der junge Oppositionsführer der Kongresspartei, Rahul | |
Gandhi. Sie stehen als Vertreter der beiden großen Parteien, die darum | |
kämpfen, im neuen Parlament den künftigen Premierminister zu stellen. | |
Narendra Modi werden gute Chancen für eine zweite Amtszeit eingeräumt. | |
Indien ist mit 1,3 Milliarden Menschen nach China das bevölkerungsreichste | |
Land der Welt. Seine 900 Millionen Wahlberechtigten machen es zur größten | |
Demokratie. Und diese wächst. Indien hat mit 84 Millionen mehr Erstwähler | |
als Deutschland BewohnerInnen. | |
## „Kein Wähler soll zurückbleiben“, lautet das Motto | |
Das stellt die Behörden vor Herausforderungen, so dass sich die Wahl auf | |
sechs Wochen in sieben Phasen hinzieht. Im Rotationssystem wird vom 11. | |
April zum 19. Mai in entlegenen Dörfern bis zu Millionenstädten gewählt. | |
Vor den Wahllokalen werden wegen der Hitze Vorzelte angebracht. Auch für | |
Wasser ist gesorgt, sagt Rajlakshmi Shah, die Wahlkommissarin von Nagpur. | |
„Kein Wähler soll zurückbleiben“, so lautet das Motto der Wahlkommission. | |
Shah hat ein Team von 32.000 HelferInnen rekrutiert, die meisten davon sind | |
BeamtInnen. Bis zu 15 KandidatInnen stehen den WählerInnen zur Auswahl. Und | |
nur einer kann sich in Nagpur für einen der 543 Parlamentssitze in | |
Neu-Delhi qualifizieren. | |
Wer seine Stimme abgeben will, muss am Wahltag persönlich an seinem | |
Wahllokal erscheinen. Frauen und Männer stellen sich dort getrennt an. Die | |
meisten Menschen halten noch vor dem Einlass ihre Ausweispapiere in die | |
Höhe, damit ihre Namen schneller mit der Wahlliste abgeglichen werden | |
können. Danach wird der linke Zeigefinger der WählerInnen mit einem | |
Tintenstrich markiert, der noch zwei Wochen später zu sehen ist. Dann | |
dürfen sie hinter die graue Wahlkabine. | |
Dort stehen zwei Maschinen: die Wählscheibe mit den KandidatInnen und ein | |
Kontrolldrucker, der alle Stimmen noch einmal ausgedruckt sammelt. Auf der | |
Wählscheibe ist jeweils der „Name des Kandidaten, ein Foto von ihm und das | |
Logo der Partei aufgeführt“, sagt Shah. An letzter Stelle gibt es eine | |
Taste, die im ganzen Land gleich ist. „Keiner der oben Genannten“ heißt | |
sie. | |
Der Wahlvorgang an sich ist nur kurz. Nach dem Knopfdruck piept die | |
Wählscheibe, ein rotes Lämpchen leuchtet auf. Für sieben Sekunden zeigt der | |
Drucker das Symbol und den Namen des Kandidaten beziehungsweise seiner | |
Partei an. Wer nicht schreiben kann, der unterschreibt per | |
Tintenfingerabdruck. | |
Allein in Nagpur, der Winterhauptstadt des Bundesstaates Maharashtra, gibt | |
es 2.065 einzelne elektronische Wahlstationen. | |
## Soll Indien hinduistischer werden? | |
Hier beginnt am Donnerstag vergangener Woche der indische Wahlmarathon. Die | |
Industriestadt ist keine Megacity wie Mumbai oder Delhi. Sie verkörpert | |
vielmehr das Indien zwischen Stadt und Land. Nicht weit außerhalb des | |
Zentrums wird Landwirtschaft betrieben, vor allem Orangen werden angebaut. | |
900 Millionen Inder leben auf dem Land, das sind 70 Prozent der | |
Bevölkerung. Die Bauern teilen fast überall ähnliche Sorgen: eine | |
ausreichende Wasserversorgung in den heißen Monaten, finanzielle | |
Absicherung und stabile Marktpreise für ihre Agrarprodukte. 2,2 Millionen | |
Menschen sind in Nagpur zur Wahl aufgerufen. | |
Doch auch hier, dem geografischen Mittelpunkt Indiens, wird ein | |
Stellvertreterkrieg ausgetragen – zwischen der Erhaltung von Grünflächen | |
und dem Ausbau der Infrastruktur, zwischen Befürwortern einer säkularen | |
Politik, wie sie Gandhis Kongresspartei vertritt, und einer | |
prohinduistischen Agenda des amtierenden BJP-Premierministers. | |
Nitin Gadkari, der neue und alte BJP-Kandidat für Nagpur, spricht gerne | |
darüber, was er während seiner Amtszeit für seinen Wahlkreis alles getan | |
hat. Doch das hat die Kongress-Anhängerin Ali nicht überzeugt. „Die | |
Regierung hat uns Arbeitsplätze versprochen und Rücksicht auf die Vielfalt | |
unserer Gesellschaft, doch sie hat ihr Versprechen nicht gehalten“, sagt | |
sie. Manche Menschen hätten gar Angst, frei ihre Meinung zu äußern. | |
Besonders Muslime fühlten sich durch Gadkaris enger Beziehung zur | |
hinduistischen Kaderorganisation RSS eingeschüchtert. | |
## Kongress-Kandidat Patole kritisiert die Regierung | |
Auch deshalb ist Ali wenige Tage vor dem Urnengang auf der Straße | |
unterwegs. Sie will ihren Kandidaten Nana Patole bei einer der letzten | |
Gelegenheiten vor der Abstimmung unterstützen. „Nachdem die Regierung die | |
Menschen mit falschen Versprechungen betrogen hat und die Werte der | |
Demokratie zerstört, habe ich beschlossen, die BJP zu verlassen“, sagt Nana | |
Patole im Gespräch zwischen zwei Wahlveranstaltungen der taz. Die jetzige | |
Regierung habe ihren Bürgern Probleme bereitet. Damit spricht Patole | |
Narendra Modis Währungsreform an, in der 2016 über Nacht drei Viertel des | |
Bargelds entwertet wurden. Danach fiel die Wirtschaft in eine Rezession, | |
von der sich sie sich nur langsam erholte. | |
Auch die BewohnerInnen Nagpurs, vor allem kleine Unternehmen und Bauern im | |
Umland, haben gelitten. Das habe die Stadt schätzungsweise 40.000 | |
Arbeitsplätze gekostet. „Ich bin fest überzeugt, dass Modi mit seiner | |
Politik nicht weitermachen kann“, sagt Patole. „Die Kongresspartei hat es | |
geschafft, das Volk als Nation über 60 Jahre hinweg trotz unterschiedlicher | |
Kulturen und Religionen zu vereinen“, lobt der Kandidat seine Partei, der | |
dieses Werk durch den Kurs der aktuellen Regierung in Gefahr sieht. | |
Tatsächlich versuchen Modi und seine Parteikollegen, die Rechte der | |
Hindu-Mehrheit in Indien zu stärken, in dem neben dieser Religionsgruppe | |
aber auch 138 Millionen Muslime, 24 Millionen Christen und Millionen von | |
Andersgläubiger leben. Auch Nana Patole war einst Mitglied der BJP, doch er | |
trat 2017 aus und gab seinen Parlamentssitz ab. Seit Anfang 2018 ist er | |
Mitglied der Kongresspartei. | |
Patole ist ein ernstzunehmender Gegner und Modi-Kritiker. Er hat sich als | |
Kämpfer für Kleinbauern einen Namen gemacht. Der 55-jährige Hindu fällt | |
auf, wenn er durch die Straßen läuft: Der ganz in Weiß Gekleidete überragt | |
die meisten Umstehenden um mindestens einen Kopf. | |
## Ein Hochzeitslied für den Wahlkampf | |
Am letzten Sonntagnachmittag des Wahlkampfs beginnt seine Tour mit einer | |
Zeremonie in einem Tempel im Norden Nagpurs. Das Gebäude grenzt an eine | |
Siedlung, in der Menschen mit geringem Einkommen wohnen. Mit einer | |
Menschentraube hinter sich, begleitet von Trommlern, die ein Hochzeitslied | |
spielen, biegt er in die schmale Seitenstraße ein. Er schüttelt Hände, | |
stoppt bei Familien, verschwindet in einem Haus zum Tee und setzt seinen | |
Marsch durch die Siedlung fort. Patole trägt eine Kurta, ein langes | |
kragenloses Baumwollhemd. Um seinen Hals baumelt ein Ringelblumenkranz und | |
seit dem Tempelbesuch trägt er auf seiner Stirn einen roten Kreis als | |
Segenszeichen. Seine Begleiter werfen Rosenblüten über ihn, die Ziegen als | |
gefundenes Fressen entdecken. | |
Um sein Image als Außenseiter in Nagpur abzulegen, hat Patole viele | |
Spaziergänge hinter sich gebracht. Seine Kampagne endet mit einer | |
Motorrad-Tour durch Nagpur. Er hält die Kongress-Flagge in den | |
Nationalfarben Safran-Weiß-Grün dabei hoch. Darauf zu sehen ist das Symbol | |
seiner Partei, eine offene Hand. | |
Sein Konkurrent, der Minister für Straßenverkehr und Schifffahrt, Nitin | |
Gadkari, kommt aus der Priesterkaste der Brahmanen. Patole dagegen ist | |
Angehöriger der Kunbi, also einfacher Bauern aus dem Westen des Landes, die | |
als Teil der benachteiligten niederen Kasten etwa die Hälfte der | |
Bevölkerung Indiens repräsentiert. In Nagpur stellen sie zusammen mit | |
Muslimen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten. Das könnte von Vorteil | |
für Patole sein, wenn diese Mehrheit ihn als Vertreter ihrer Interessen | |
betrachtet. | |
## Der Minister will Minister bleiben | |
Doch 2014 verlor die Kongresspartei in Nagpur und Umgebung die Wahl. Damit | |
war auch die Zeit von Nitin Gadkari gekommen, der zuvor als | |
Parteivorsitzender der BJP fungierte. Der kräftige Mann mit dem schmalen | |
Oberlippenbart wird von manchen Beobachtern gar als alternativer | |
Premierminister gehandelt. Der 61-Jährige ist Mitglied des Rashtriya | |
Swayamsevak Sangh, der Nationalen Freiwilligenorganisation, abgekürzt RSS. | |
Ihre Mitglieder folgen der Idee, Indien in einen Hindu-Staat umzuwandeln. | |
Seit dem Aufstieg der BJP gewinnt auch die rechtsextreme RSS immer mehr an | |
Einfluss. | |
In Nagpur ist der RSS gegründet worden, und deshalb bedeutet die Eroberung | |
der Stadt mehr als nur irgendein Parlamentssitz. Es ist ein Symbol. Und | |
dieses Symbol möchte sich Gadkaris BJP nicht wieder nehmen lassen. | |
Auf einer Wahlveranstaltung im Süden der Stadt säumen an einem Abend kurz | |
vor der Wahl Fahnen mit der weißen Lotusblüte einen großen Platz. | |
Zahlreiche Polizeibeamte haben das Gelände abgesperrt. Die Bühne ist orange | |
erleuchtet. Wie bei einer indischen Hochzeit das Brautpaar, so sitzen | |
PolitikerInnen auf der Bühne zur Schau. Gadkari hat an diesem Abend | |
Verstärkung aus Mumbai bekommen. Als letzter Redner spricht der | |
Ministerpräsident von Maharashtra. Seine Stimme ist klar und die Rhetorik | |
hart. Das Publikum pflichtet ihm mit Applaus bei. | |
Nach der Veranstaltung verteilen WahlhelferInnen Lotus-Anstecker, Schals | |
und Flyer. Auf einem steht: „Bitte drück den Knopf mit dem Lotus, um den | |
Fortschritt und die reiche Tradition fortzusetzen.“ | |
## Ein Wahltag ohne Zwischenfälle | |
Der Lotus und die Hand sind die Wahlsymbole der beiden wichtigsten | |
Parteien, die sich später auf den elektronischen Wahlmaschinen | |
wiederfinden. In Ramtek, nördlich von Nagpur, stehen die WählerInnen dicht | |
an dicht. Bis 12 Uhr mittags am Donnerstag geben dort 20 Prozent ihre | |
Stimme ab. Nach der brennenden Mittagssonne kommen in den Abendstunden | |
besonders viele Frauen. Am Ende des Tages haben mehr als die Hälfte aller | |
Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. | |
Danach werden die Wahlmaschinen eingepackt. Sie kommen in streng überwachte | |
Tresore. Wo diese genau stehen, bleibt ein Geheimnis. Niemand soll | |
erfahren, wie in Nagpur gewählt worden ist, bis die Stimmabgabe in ganz | |
Indien beendet wurde. Erst am 23. Mai werden die Maschinen herausgeholt und | |
ausgezählt werden. | |
„Die Wahlen verliefen friedlich und reibungslos“, sagt die Wahlkommissarin | |
Shah am Tag nach der Wahl am Telefon. Alle Wahlmaschinen sind sicher | |
verstaut. Ihr Team atmet auf. Selbst gegen das Werbeverbot, dass immer 48 | |
Stunden vor der Wahl in Kraft tritt, gab es kaum größere Verstöße. | |
Auch die Kongressfrau Nash Ali hat ihre Stimme abgegeben. Sie ist immer | |
noch optimistisch, doch nun kann auch sie nur noch warten. | |
16 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Natalie Mayroth | |
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