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# taz.de -- Feministische Aktion in Indien: Frauen, die die Stadt erobern
> In Indien gehören die Straßen traditionell den Männern. Damit wollen sich
> viele Frauen nicht abfinden und schlendern aus Protest umher.
Bild: Die Nacht wollen sich Frauen in Mumbai noch erobern
Mumbai taz | Neha Singh verlässt zügigen Schrittes die hell erleuchteten
Straßen und biegt in eine kleine Gasse ein, die Richtung Küste führt.
Zwischen den Häusern und Verschlägen der Fischersiedlung hindurch bahnt
sich die schmale Frau ihren Weg durchs Dunkle, bis sie schließlich im
Schwarz der Neumondnacht vor einem nach Fisch und Abwasser stinkenden
Flusslauf stehen bleibt. Es ist kurz vor Mitternacht. Außer Neha Singh sind
jetzt nur noch Männer auf der Straße. Viele Männer.
Sie schaut ans andere Ufer, ein paar Umrisse sind im Schein von
Straßenlampen zu erkennen. Madh Island heißt die Landzunge, die im
äußersten Nordwesten Mumbais ins Arabische Meer ragt. Man hört nur das
leise Gluckern des Wassers, das Gebell einiger Hunde, sonst nichts. In der
20-Millionen-Einwohner-Stadt, wo der Lärm sonst wie eine schwere Decke über
dem Alltag liegt, verheißt Stille nichts Gutes. Wo es still ist, ist man
allein. Und allein ist man schutzlos.
Neha Singh drückt ihren Rücken durch – ihre schmächtige Statur und die fast
hüftlangen Haare lassen sie von Weitem wie ein junges Mädchen wirken. Hier,
um kurz vor Mitternacht in der Peripherie der Stadt, sieht sie etwas
verloren aus. Sie schüttelt sich, hebt die rechte Hand und winkt ins Dunkle
der Nacht. Der Fährmann am anderen Ufer wirft den Bootsmotor an. Neha
Singhs nächtlicher Spaziergang hat gerade erst begonnen.
Sie läuft nicht zum Spaß nachts durch die Stadt. Neha Singh ist die
Erfinderin einer Bewegung, die das Spazierengehen zur Protestform erklärt
hat. „Ich liebe Mumbai, die Strände, die Parks, die Fischersiedlungen –
aber ich habe mich nie ganz als Teil der Stadt gefühlt“, sagt sie, 36 Jahre
alt, Kinderbuchautorin und Theaterregisseurin. Für Mädchen und Frauen sei
die Stadt von ungeschriebenen Gesetzen und unsichtbaren Grenzen geprägt.
„Sie bestimmen, wo ich mit wem sein kann, was ich tragen darf, wie ich mich
verhalten muss, um als respektable Frau zu gelten.“
## Entzauberter Mythos
Denn auch in Mumbai, der liberalsten Stadt Indiens, sind die Straßen voller
Männer, alt und jung; sie schlendern, lachen, trinken Tee und diskutieren
lautstark die Lage der Welt. „Frauen haben in diesem Bild keinen festen
Platz“, sagt Neha Singh, „wir eilen durch diese Szenen, auf dem Weg zur
Arbeit, nach Hause, zum Einkaufen – selbst wenn wir nichts zu tun haben,
tun wir geschäftig, um nicht verdächtig zu wirken.“
2014 fiel ihr ein Buch in die Hände, es trägt den Titel „Why Loiter“,
übersetzt: „Warum wir uns herumtreiben“. Es ist eine Recherche der
Journalistin Sameera Khan, der Soziologin Shilpa Phadke und der Architektin
Shilpa Ranade, die darin den Zugang zum öffentlichen Raum in der Metropole
Mumbai untersuchten. Ihre Interviews mit Hunderten Frauen aus den
unterschiedlichsten sozialen Milieus entzaubern den Mythos von Mumbai als
grenzenlose Stadt.
„Warum sind so viel weniger Frauen auf den Straßen als Männer, zu allen
Zeiten und in allen Ecken der Stadt? Warum tragen Frauen hier Pfefferspray,
Schlagringe und andere Waffen in ihren Taschen mit sich herum? Warum haben
Frauen auch in dieser Stadt das Gefühl, sie müssten ihren Aufenthalt auf
der Straße rechtfertigen?“
Die Autorinnen zeigen in ihrem Buch, dass die Bewohnerinnen Mumbais genau
wissen, wo die ihnen auferlegten Grenzen verlaufen. Am Ende steht die
These, dass das Herumlungern in Parks, auf Straßen, an den Stränden ein
erster Schritt zur Transformation der Stadt sein kann. Neha Singh las das
rund 200 Seiten starke Buch innerhalb von zwei Tagen. Danach wollte sie
nichts als raus auf die Straße, um sich herumzutreiben. „Das war für mich
der erste Schritt in die Freiheit“, sagt sie heute.
Nach einer kurzen Überfahrt springt Neha Singh von dem kleinen Fährboot ab
und geht hinauf zum Häuschen, an dem sie die Überfahrt bezahlt. Es ist 0.15
Uhr. Singh schiebt 10 Rupien über die Theke, zahlt ungerührt von den
durchdringenden Blicken des Kassierers. Hier beginnt die einzige Straße auf
Madh Island, eine unbefestigte Piste, die jetzt fast völlig verwaist ist.
Einzig an einem Kiosk stehen noch zwei Männer, ein Dritter sitzt im Staub
daneben, zwei Hunde zu seinen Füßen, ein schwarzer und ein weißer.
Zielstrebig läuft Singh auf die Gruppe zu, kauft eine Zigarette und lässt
sich vom Kioskbetreiber Feuer geben.
Am Tag sind hier viele Menschen unterwegs, die den Strand im Norden von
Mumbai besuchen wollen. Doch nun, in der Nacht, sorgt das Auftauchen einer
jungen Frau für Aufruhr. Die Männer starren sie an, blicken über ihre
Schultern hinweg auf die Straße, ob da noch wer kommt. Neha Singh nimmt
einen ersten Zug ihrer Zigarette, bläst den Rauch hoch in die Luft. Sie
kennt das, das Starren, das missbilligende Schweigen, die unangenehme,
manchmal bedrohliche Stille. Sie dreht sie sich um und fragt den Mann nach
dem Namen der Hunde. „Kaallee“, Schwarzer, sagt er mit schwerer Zunge und
nickt mit dem Kopf in Richtung des schwarzen Hundes. Nach dem weißen Hund
gefragt, lallt er: „Auch Schwarzer.“ Neha Singh lacht laut auf, tätschelt
die Köpfe der beiden Hunde. Nun lächelt auch der Trinker. Nicht mit Fremden
zu sprechen, sei einer der schlechtesten Ratschläge, der ihr als Kind
eingebläut worden sei, sagt Singh. Wenn die Angst sich wie eine Mauer
zwischen sie und die Welt zu schieben droht, nimmt sie heute Anlauf und
springt.
Alles begann mit einem einfachen Parkbesuch. Bei ihrer ersten Aktion vor
vier Jahren legte sich Neha Singh gemeinsam mit einer Freundin mittags in
einen Park im bürgerlichen Teil des Stadtteils Kandivali, um dort ein
Nickerchen zu halten. Was harmlos klingt, löste schnell einen Tumult aus.
Immer mehr Passanten blieben stehen und starrten, der Gärtner – um ihre
Sicherheit und die öffentliche Ordnung besorgt –, redete mit Engelszungen
auf die Frauen ein, um sie zum Gehen zu bewegen. Sie blieben liegen. „Wir
wollen uns nur entspannen, Onkel“, sagte Neha Singh zu ihm. Danach kam der
Gärtner alle fünf Minuten und fragte, ob sie nun fertig entspannt hätten.
Neha Singh lacht ihr lautes Lachen, wenn sie davon erzählt: „Wir waren
total überrascht, wie einfach wir mit unserer Anwesenheit Unruhe stiften
konnten – und dabei hatten wir auch noch Spaß.“ Nachdem sie Fotos von ihrem
Nickerchen auf Facebook gepostet hatte, ging alles sehr schnell: Viele
Frauen schrieben sie an, wollten mitmachen. Neha Singh richtete eine
WhatsApp-Gruppe ein, dann eine Facebook-Seite und schließlich einen Blog
unter dem Titel „Why Loiter“.
Heute treffen sich in Mumbai alle vier Wochen Frauen, um gemeinsam
rumzuhängen. 2.000 Spaziergängerinnen sind Teil dieser Bande. Die Idee hat
sich in ganz Indien und bis nach Pakistan verbreitet: Es gibt mittlerweile
politische Spaziergänge in Delhi, Hyderabad, Lahore, die Gruppen sind
zwischen einigen hundert und über 10.000 Menschen groß. Die Frauen
spazieren tagsüber und nachts, allein oder in Gruppen, sie spielen Kricket,
fahren Fahrrad, gehen mit geschminkten Lippen auf die Straße, mit kurzen
Röcken, ohne BH.
So durchbrechen sie, Schritt für Schritt, Spaziergang für Spaziergang, die
Grenzen, die ihnen ihre Mütter, ihre Eltern, sie sich selbst auferlegt
haben. Sie stellen die Traditionen infrage, die Frauen das Recht auf
Teilhabe am öffentlichen Leben absprechen. In Zeiten, in denen die
Hindu-Nationalisten das Land regieren, sei das schon sehr viel, sagt Neha
Singh. „Frauenrechte sind während der BJP-Regierungszeit immer weiter
geschrumpft.“ Derzeit wird in Indien gewählt, bis Mitte Mai nach und nach
in allen Landesteilen. Die 900 Millionen Wählerinnen und Wähler werden
entscheiden, ob sie den Kurs der Hindu-Nationalisten weiter stützen oder ob
die Kongresspartei, die Indien 1947 in die Unabhängigkeit geführt hat,
wieder an die Macht kommt.
Wie groß die Bedrohung für die Frauen auf den Straßen Indiens ist, ist
schwer zu fassen: Nicht nur, dass Gewalt gegen Frauen in den Städten und
auf dem Land sehr unterschiedlich ist. 66 Prozent der Inderinnen leben auf
dem Land, die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen liegt außerhalb der
großen Städte bis zu siebenmal höher. Das Risiko ist auch in den einzelnen
Bundesstaaten und zwischen den sozialen Schichten sehr unterschiedlich.
Reine Zahlen helfen da nicht weiter: In Indien mit seinen 1,3 Milliarden
Einwohnern wurden im Jahr 2016 knapp 39.000 Vergewaltigungen zur Anzeige
gebracht, drei Vergewaltigungen pro 100.000 Einwohner. In den USA wurden im
selben Jahr zehnmal mehr Vergewaltigungen angezeigt.
Statistisch lässt sich das Stigma der indischen Vergewaltigungskultur also
nicht beweisen – es sind die Erzählungen von alltäglichen Belästigungen auf
der Straße, am Arbeitsplatz, in der Familie, die einen Einblick in das
Problem geben. Die öffentliche Debatte darüber wurde maßgeblich von einem
Vergewaltigungsfall angestoßen, der weltweit Schlagzeilen machte: Im
Dezember 2012 wurde eine junge Frau von einer Gruppe von Männern brutal
vergewaltigt und gequält, sie starb an den Folgen. Der Fall löste
landesweite Proteste aus – die Sicherheit von Frauen wurde zum öffentlichen
Streitthema.
„Im Privaten wurde Frauen und jungen Mädchen noch intensiver eingeschärft,
dass die Stadt da draußen gefährlich für sie sei“, sagt Sameera Khan, eine
der Autorinnen von „Why Loiter“. „Viele Familien nahmen die Debatten zum
Anlass, ihren Töchtern den Zugang zum öffentlichen Raum zu verwehren – oft
genug taten das die Frauen aus Furcht auch schon selbst.“ Mit jedem neuen
Mord- oder Vergewaltigungsfall wirkte die Welt da draußen, außerhalb der
Wohnungen, der Büros und Einkaufszentren noch bedrohlicher. Die Botschaft
an die Frauen ist eindeutig – einer der Täter im Delhi-Fall erklärte in
einem Interview, sein Opfer habe an dem Verbrechen den gleichen Anteil wie
er und die anderen Täter: „Ein anständiges Mädchen würde niemals um neun
Uhr abends draußen rumlaufen.“
Es ist ein Uhr nachts, Neha Singh schlendert langsam an der Küste von Madh
Island Richtung Norden, immer weiter hinaus aus der Stadt, vorbei an
verlassenen Stränden. Links der löchrigen Fahrbahn stehen Wellblechhütten,
rechts wuchert ein undurchdringlicher Dschungel. Am Horizont glimmen in
einiger Entfernung die Lichter der größeren Apartmenthäuser. Auf der
düsteren Küstenstraße kläffen ein paar Straßenhunde. Je riskanter, desto
besser – nach diesem Motto wählt Neha Singh die Routen ihrer Spaziergänge
aus. Unbeirrbarkeit, so nennt sie es.
## Wut auf die Verhältnisse
Sturheit, so nannte man das wohl in ihrer Familie. Neha Singh wuchs behütet
als Kind der aufstrebenden Mittelschicht auf. Das Leben war annehmlich,
aber die Traditionen erdrückend: „Als Tochter lebte ich im Zeichen der
ständigen Entschuldigung. Während meine Eltern bei der Geburt meiner Brüder
Süßigkeiten verschenkten, weinten sie bei meiner.“
In ihrem Blick lodert eine Wut, die dort seit ihrer Kindheit brennt. Eine
Wut darüber, dass sie, egal wie sehr sie sich bemühte, die Unbill der
Eltern nicht tilgen konnte. „Alles Gute ist in unserer Gesellschaft
männlich assoziiert, welcher Platz bleibt da für Frauen?“, fragt Neha
Singh.
Sie läuft an Verschlägen vorbei, in denen in Decken gewickelt die Fischer
schlafen. Die Müllhaufen und das Gestrüpp am Straßenrand sind ständig in
Bewegung, es wimmelt von Ratten. Neha Singh geht mit gebührendem Abstand in
der Mitte der Straße. Aufrecht wie eine Ballerina, durchschreitet sie
betont selbstbewusst das Dunkel. Nur vereinzelt sitzen Männer am
Straßenrand – wenn sie nicht aufs Wasser starren, starren sie die Frau an,
die da vorbeiläuft. Je weiter sie sich von der Stadt entfernt, desto klarer
wird: Hier ist Singh auf sich selbst gestellt. Wenn etwas passiert, wenn
sie jemand angreift, wird ihr hier niemand helfen.
## Sozialer Ausschluss
Neha Singh wird von ihren Mitbürgerinnen aufgrund ihres Auftretens und
Aussehens als Angehörige einer privilegierten Schicht erkannt: Ihre
schwarze Culottes-Leinenhose gilt als westliche Kleidung, der auffällige
Nasenring nicht als traditionell indisch, sondern als modisches Accessoire.
Wenn sie spricht, verrät ihre Wortwahl ihren Bildungsstand. Das kann von
Vorteil sein, weil potenzielle Angreifer eher Konsequenzen fürchten als bei
Übergriffen auf arme Frauen – andererseits kann ihr selbstbewusstes Bummeln
auch als Provokation aufgefasst werden.
Die Grenzen der Stadt verlaufen für Frauen aus unterschiedlichen Gruppen
und Schichten der Gesellschaft an unterschiedlichen Linien. Während sich
Frauen der Ober- und Mittelklasse Freiheiten kaufen können, indem sie in
Taxis durch die Stadt fahren und ihre Freizeit in exklusiven
Einkaufszentren und klimatisierten Cafés genießen, müssen Frauen aus
ärmeren Schichten und marginalisierten Gruppen grundlegendere Kämpfe
kämpfen.
Die Grenzen verlaufen aber nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch
zwischen religiösen Gruppen: In den Metropolen geht die Gentrifizierung
Hand in Hand mit der Ausgrenzung von Minderheiten, die durch die
hindu-nationalistische Regierung unter Druck gesetzt werden. In Mumbai ist
es für Menschen mit muslimisch assoziierten Namen in vielen Stadtteilen
fast unmöglich geworden, Wohnungen anzumieten – „Muslime unerwünscht“ h…
es in vielen Immobilienanzeigen. Religionsreine Viertel, Apartmentkomplexe
und Wohnanlagen gelten als sicherer.
„Diese Wagenburgmentalität nützt weder den Frauen noch der Gesellschaft“,
sagt Sameera Khan. Die Autorin, die in den letzten Jahren zu einer
wichtigen Stimme der feministischen Bewegung in Indien geworden ist, ist
selbst Mutter zweier Töchter. Auch wenn sie die alles durchdringende Angst
davor, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte, kennt, ermutigt sie ihre
Töchter, die Stadt zu erkunden und den Risiken zu trotzen. „Meine Angst
schafft keine bessere Stadt“, sagt Khan, „aber vielleicht tut es der
ungetrübte Entdeckergeist meiner Töchter.“ Khan und ihren Co-Autorinnen
geht es um die Transformation der Stadt. Wer sich rauswage auf die Straßen,
in die Parks, an den Strand, der knüpfe eine neue Beziehung zwischen sich,
den Mitmenschen und der Stadt. Die herumlungernden Frauen sagen, all das
beginne mit einem Spaziergang.
Ein gewisses Risiko nehmen sie dabei bewusst in Kauf, sie wissen nie, wie
es ausgeht. So wie vor einem Jahr, als plötzlich 30 Männer auf der Straße
auftauchen, zu Fuß, auf Motorrädern, einen Kreis um die Frauen bildeten und
sie anstarrten, so erzählt es Neha Singh heute. Sie ging in die Offensive,
bestand darauf, mit den Männern zu reden, und überzeugte sie, sich der
Reihe nach persönlich vorzustellen. Am Ende erklärten die Männer kleinlaut,
sie hätten nicht gewusst, wie sie sich den fremden Frauen anders hätten
nähern können.
## Lügen, um spazierenzugehen
Von Polizisten würden die Aktivistinnen oft für Sexarbeiterinnen gehalten,
erzählt Neha Singh. Und weil Sexarbeit in Indien illegal ist, erhoffen die
Polizisten sich Bestechungsgelder. „Dass wir keine Sexarbeiterinnen sind,
merken sie schnell. Vor allem, weil wir uns nicht einschüchtern und
verjagen lassen“, sagt sie. Ihre Aktionen bewegen sich in einer rechtlichen
Grauzone: Auf der einen Seite ist es das Grundrecht der Frauen, sich frei
zu bewegen – gleichzeitig steht im Bombayer Polizeigesetz von 1951: Wer
sich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang auf den Straßen herumtreibt
und das der Polizei gegenüber nicht zufriedenstellend begründen kann, kann
mit Bußgeldern und bis zu einem Jahr Haft bestraft werden.
Das größte Unverständnis ernten die herumlungernden Frauen allerdings in
ihren Familien. „Besonders meine Mutter findet, ich sei undankbar und
schätze die Freiheiten nicht, die ich schon habe – sie sieht die Grenzen
nicht mal, innerhalb derer wir leben“, sagt sie. Wie sehr sie es liebt,
nachts durch die Stadt zu laufen, die Ruhe, die kühle Luft, die leeren
Straßen, all das kann die junge Frau ihrer Familie nicht vermitteln. Wie
ihr geht es den meisten Herumtreiberinnen: Sie müssen zu Hause lügen, um
Spazierengehen zu können. Oft geben sie sich gegenseitig Alibis, um sich
vor ihren Eltern, vor ihren Familien und Partnern zu rechtfertigen. Das
Spazierengehen bringt ihnen neue Freiheiten, entfremdet sie aber auch von
ihrem Umfeld.
Nach zwei Stunden Spaziergang auf Madh Island kommt Neha Singh um kurz vor
zwei Uhr wieder am Fährsteg an – gerade rechtzeitig für die letzte
Überfahrt. Sie atmet tief ein und aus, ihr offenes Haar weht im Wind. „Nur
wer diese Momente kennt, kann verstehen, warum wir nachts spazieren gehen“,
sagt Neha Singh. Das zwielichtige Madh Island, das Fischerdorf, die dunkle
Bucht, all dies hat sie sich mit diesem Spaziergang erobert. „Das ist jetzt
Teil meiner Stadt – ich kann hier von jetzt an jeden Tag und jede Nacht
herkommen. Ohne Angst.“
Julia Lauter, 33, ist freie Reporterin. Sie hat 2018 für vier Monate als
Stipendiatin des Programms [1][„Media Ambassador India–Germany“] in Indien
recherchiert. Die Geschichte erscheint im Juni in der Anthologie „Flexen“
des Verbrecher-Verlags.
3 May 2019
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[1] https://india.medienbotschafter.com
## AUTOREN
Julia Lauter
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