# taz.de -- Christchurch-Anschlag vor einem Monat: Auch wir haben weggeschaut | |
> Hakenkreuze haben in Christchurch lange Zeit keinen groß gestört. Nach | |
> dem Anschlag auf zwei Moscheen ist die Zivilcourage neu entflammt. | |
Bild: Auf dem Weg zu den Verletzten im Krankenhaus liegt ein Meer von verwelken… | |
Christchurch taz | Als es passierte und das Rattern der Schüsse begann, um | |
13:42 Uhr, war ich bei der ersten Schülerdemo gegen den Klimawandel. Sie | |
wurde eine Stunde vor dem geplanten Ende aufgelöst. Ich fuhr direkt zum | |
Krankenhaus, wo Notarztwagen aufbrachen und Familien eintrafen – panisch | |
und verstört, sich im Laufen tröstend. Kurz bevor die Innenstadt abgesperrt | |
wurde, war ich sicher zu Hause und bereitete mich auf eine lange Nacht mit | |
Live-Schalten für deutsche Sender vor. | |
Die Frage, wo ich am „schwarzen Freitag“ war, an jenem 15. März, an dem | |
[1][in Christchurch ein rassistischer Attentäter wahllos in zwei Moscheen | |
um sich schoss], kam in jedem Gespräch nach dem Anschlag hoch. Die Kiwis | |
wissen noch genau, wie sie das schwere Erdbeben im Februar 2011 erlebten, | |
die US-Amerikaner wissen noch genau, wo sie sich gerade aufhielten, als | |
Islamisten das World Trade Center zum Einsturz brachten. | |
[2][Der Anschlag in Neuseeland] vor vier Wochen kostete 50 Menschen das | |
Leben und hinterließ etliche mehr als Invaliden, trauernde Angehörige und | |
Schwersttraumatisierte. Die ARD brachte nicht einmal einen „Brennpunkt“ zu | |
dem Attentat. Dabei ist etwas passiert, das in die Geschichtsbücher gehört. | |
Als eine von Hunderten Reportern vor Ort arbeitete ich rund um die Uhr. In | |
Trauer und Schock, und zunächst schien es mir so, als ob es in diesem | |
friedlichen Vier-Millionen-Staat allen so ging. | |
In der ersten Woche drangen außer meinen Interviews mit Opfern und Helfern | |
nur wenige Stimmen in mein überlastetes Hirn. Es waren die, die sich | |
vorsichtig und mutig der Friede-Trauer-Einigkeit widersetzten. Von wegen | |
„Das sind nicht wir“: Doch, auch wir sind rassistisch. Auch wir haben | |
weggeschaut. Und der neuseeländische Spionagedienst war obendrein zehn | |
Jahre auf dem rechten Auge blind. | |
## Alle sangen gemeinsam die Nationalhymne | |
Die Tabubrecher – von der Sprecherin des Islamischen Frauenverbandes, Anjum | |
Rahman, bis zum TV-Reporter Jehan Casinader – leisteten den | |
Befreiungsschlag für nicht direkt Betroffene wie mich, die sich jedoch mit | |
einem anderen Dilemma plagen: Der australische Täter war ein white | |
supremacist, hing also einer Fantasie der Überlegenheit von Weißen an. Von | |
ihm bis zum NSU [3][ist es ideologisch kein allzu langer Weg]. | |
Adolf Hitler ist international, und erst recht 18.000 Kilometer von Berlin | |
entfernt noch immer die erste Assoziation mit Deutschland – lange vor | |
Bier, Fußball, Lederhosen und Benz. Meine anerzogene nationale Scham hat | |
auch meine neuseeländische Staatsbürgerschaft nicht ausradieren können. In | |
den letzten Wochen prallte all das aufeinander. | |
Als wir vor 16 Jahren mit zwei kleinen Söhnen nach Neuseeland auswanderten, | |
war vieles dort neu: Busfahrer sind freundlich. „Nördlich“ bedeutet warm | |
und sonnig. Kinder rennen draußen barfuß rum. Spaghetti aus der Dose isst | |
man auf Toast. Vor den Morgennachrichten wird ein Vogelruf gesendet. Und | |
Hakenkreuze stören niemanden groß. | |
Ein Jahr war kaum rum, als wir zur ersten Demo gegen Rassismus in unserer | |
neuen Stadt trabten. Nicht die erste für uns, aber die erste in | |
Christchurch – organisiert von der asiatischen Community, die sich Hetze | |
und Angriffen ausgesetzt sah. Als wir uns mit unserem Kinderwagen in die | |
Schar einreihten, erwarteten wir weder Tränengas noch fliegende | |
Pflastersteine, aber wir hatten auch nicht mit dem Dutzend Neonazis | |
gerechnet, das sich stumm protestierend gegenüber aufstellte. | |
Es war nur ein kläglicher Haufen, ein Ableger der rechtsextremen National | |
Front, darunter auch ein Maori mit tätowiertem Hakenkreuz. Aus Höflichkeit | |
oder falsch verstandener Fairness reichte am Ende der Kundgebung jemand der | |
rechten Truppe das Megafon. „Keinen Fußbreit den Faschisten“ war den | |
krawallfreien Kiwis unbekannt. Am Ende sangen wir alle gemeinsam die | |
Nationalhymne. Ich konnte das und vieles andere nur mit Humor verarbeiten. | |
## Hort der white supremacists | |
Fünf Jahre später zeigten die Studenten der ländlichen Lincoln-Universität | |
nahe Christchurch, was sie unter Humor verstanden. Fürs Oktoberfest der | |
Erstsemester verkleideten sie sich als SS-Offiziere sowie als jüdische | |
KZ-Häftlinge. | |
Die meisten der über 13.000 deutschen Einwanderer in Neuseeland verstört | |
dieser typisch britische und verharmlosende Umgang mit dem | |
Nationalsozialismus. Mit einer Ausnahme: Jörg, der berüchtigte Berliner | |
Gründer der berühmten Wunderbar in Christchurchs Hafenvorort Lyttelton, die | |
mit allerhand Trödel ausgestattet ist, fand es lustig, die gegnerischen | |
Figuren seines Tischfußballs mit Hakenkreuzen und Davidsternen zu | |
verzieren. Das war vor über zwei Jahrzehnten und war bald wieder übermalt. | |
Er verließ irgendwann das Land. | |
Mein erster Besuch im alten Kolonialgefängnis von Napier fühlte sich | |
gruselig an – nicht nur wegen der Exekutionen, die dort im 19. Jahrhundert | |
stattfanden. In die Wände und Bettpfosten waren bis zur Schließung 1993 | |
unzählige Hakenkreuze geritzt worden, nicht immer in korrekter Darstellung. | |
Noch heute gelten die Gefängnisse der Südinsel als Hort der white | |
supremacists. | |
Ende Januar 2005 stand mein Mann in der Schlange der Verkehrsbehörde hinter | |
einem Skinhead mit Springerstiefeln, auf der Glatze trug er ein großes | |
tätowiertes Hakenkreuz. Es war der 60. Jahrestag der Befreiung von | |
Auschwitz, daher erinnert er sich an das Datum, und daher stellte er den | |
Mann zur Rede. Niemand sonst störte sich an dem Look. Zehn Jahre später | |
hätte wohl auch mein Mann nichts mehr gesagt, weil er längst akklimatisiert | |
war. Solche Einmischung in Privates gehört sich im Land der langen weißen | |
Wolke nicht. | |
## Bei der Party weht die Flagge des Nationalsozialismus | |
Eine deutsche Freundin von uns radelte an einer Garagenparty vorbei, bei | |
der die Flagge des Nationalsozialismus wehte. Den Nachbarn stieß das nicht | |
auf. Auch der Freundin war das Eingreifen längst abhandengekommen – typisch | |
deutsches Korrigieren und Meckern kommt genauso schlecht an wie unsere | |
teutonische Direktheit. Vor drei Wochen simste sie mir: „Ich überlege mir, | |
diese Leute in meiner Straße bei der Polizei zu melden.“ | |
Ihre Zivilcourage war neu entflammt. Genau wie bei den drei Schülerinnen in | |
Christchurch, die vom ersten öffentlichen Freitagsgebet nach dem Anschlag | |
kamen und sahen, wie ein Busfahrer vor einer Frau in Hidschab die Türe | |
verschloss und einfach losfuhr. Die Mädchen beschwerten sich bei der | |
Buszentrale und gingen an die Presse. Ihre Empörung wäre früher niemandem | |
eine Zeile wert gewesen. | |
Drei Jahre vor dem Anschlag auf die beiden Moscheen hatte sich der | |
Handwerker Phil Arps vor die Al-Noor-Moschee gestellt, dort eine Ladung | |
Schweineköpfe deponiert, die Hand zum Hitlergruß erhoben und „Beginnt das | |
Abschlachten“ gerufen . Er bekam eine Ordungsstrafe von 800 Dollar. | |
Ungestört fuhr Arps seinen Firmenwagen durch Christchurch – mit | |
Frakturaufschrift und dem Hass-Symbol 14/88. Erst nach dem Anschlag | |
verschwand seine Webseite. | |
Der Tag der Terrorattacke in Christchurch war nicht nur der Tag, an dem | |
Neuseeland seine Unschuld verlor. Es war auch der Tag, an dem es seine | |
Unkenntnis entblößte. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von einem | |
neuseeländischen Kriegsveteranen. | |
## Die Überlebenden müssen weiter mit der Angst leben | |
Das einzige Hakenkreuz, das in Christchurch Schlagzeilen machte, war in den | |
Tagen nach dem Anschlag heimlich auf das Pflaster der Brougham Street | |
gesprüht worden – an genau der Stelle, wo zwei Polizisten den Attentäter am | |
Nachmittag des „schwarzen Freitags“ überwältigt hatten. Für die Tausende | |
Kiwis, die den Familien der Opfer halfen, Essen und Blumen brachten, | |
gemeinsam sangen und weinten, war das ein widerlicher Affront. Aber warum | |
war es davor keiner gewesen? | |
Es fällt mir schwer, all das aufzuzählen, da dieses Land – mein neues Land | |
– Außerordentliches geleistet hat, wofür ich unendlich dankbar bin. Das | |
zweite schwere Unglück innerhalb eines Jahrzehnts hat [4][erneut das Beste | |
hervorgebracht] – von Maori-Gangs, die sich schützend vor Moscheen | |
stellten, bis zu den muslimischen Ältesten, die kein einziges Wort des | |
Hasses und der Vergeltung predigten. Eine Botschaft, die um die Welt ging. | |
Auf dem Weg zu den Verletzten im Krankenhaus liegt ein Meer von | |
verwelkenden Blumensträußen. Handgemalte Karten zerlaufen im Regen. Ab | |
dieser Woche wird alles weggeräumt. Die Überlebenden müssen weiter mit der | |
Angst leben. Ihre neue Normalität heißt, sich mit Polizeischutz auf den Weg | |
zum Freitagsgebet zu machen. | |
14 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Anke Richter | |
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