# taz.de -- Prozess gegen 85-jährige Ladendiebin: In den Knast wegen 17,63 Euro | |
> Ingrid Millgramm stiehlt, weil sie zu wenig Geld zum Leben hat – und wird | |
> mehrfach erwischt. Nun muss die Rentnerin für vier Monate ins Gefängnis. | |
Bild: Wurde wieder beim Klauen erwischt: die 85-jährige Ingrid Millgramm | |
MEMMINGEN taz | Es ist kurz vor zehn Uhr am Morgen, als Ingrid Millgramm am | |
Dienstag in den Saal 132 des Landgerichts Memmingen kommt. Es geht um – | |
Ladendiebstahl. Wie wohl an Dutzenden anderen Gerichten an diesem Montag in | |
Deutschland. Wimperntusche, Puder, eine Gesichtscreme, Haarklammern und ein | |
Päckchen Sahnesteif soll die Frau am 19. April vergangenen Jahres in einem | |
Verbrauchermarkt in Bad Wörishofen gestohlen haben. Waren im Wert von | |
insgesamt 17,63 Euro. | |
Fließbandarbeit für einen Richter, möchte man meinen. Und doch ist dieser | |
Fall einer, der besondere Fragen aufwirft: Welche Funktion kann Strafe noch | |
haben? Fehlen unserem Rechtssystem Sanktionsmaßnahmen jenseits von Geld- | |
und Freiheitsstrafen? Oder wie Frau Millgramm es formuliert: Wie geht | |
unsere Gesellschaft mit ihren alten Menschen um? | |
Denn Ingrid Millgramm ist 85 Jahre alt. „Oma Ingrid“ hat sie die | |
Boulevardpresse getauft. Die Frau, die, wie es hieß, „aus Hunger“ stahl. | |
Und „Oma Ingrid“ soll nun schon zum zweiten Mal ins Gefängnis kommen, | |
zumindest hatte das Amtsgericht Memmingen im August 2018 so entschieden. | |
Inzwischen sitzt Millgramm im Rollstuhl, sie wird von einer Begleiterin an | |
ihren Platz geschoben. | |
„Hoffentlich kommt sie nicht davon“, schimpft eine ältere Dame im | |
Zuschauerraum. „Das ist unverschämt. Die wird sogar mit dem Taxi | |
hergefahren.“ Und beschwert habe sie sich, dass sie bei ihrem ersten | |
Gefängnis in einer Doppelzelle gesessen habe. „Ja, was erwartet die denn? | |
Ein Hotel?“ | |
## Immer nur gut gekleidet | |
Ein Mann klagt, wie viel ein solches Verfahren den Staat koste. Und eine | |
junge Frau meint: „Die sieht auch aus wie eine Miss Wörishofen.“ In der Tat | |
war es einer der Vorwürfe, der Millgramm immer wieder gemacht wurde: Man | |
sah sie immer nur gut gekleidet und geschminkt. Und sie hat auch schon in | |
der Vergangenheit nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kosmetika gestohlen. | |
Passt das zu einer, die nur aus Hunger stiehlt? | |
Überhaupt ist es dieser Kontrast, der den Fall so schillernd macht: Auf der | |
einen Seite die alte Dame, die nach eigener Aussage zum Teil nur noch von | |
Knäckebrot und Wasser lebte, auf der anderen Seite eine | |
70-Quadratmeter-Wohnung mit edlen Möbeln, das stets elegante Outfit, die | |
Weigerung, zur Tafel zu gehen, weil sie „keine angefaulten, angeschimmelten | |
Sachen essen“ will. | |
Nein, Ingrid Millgramm passt nicht ins Klischee der in Armut lebenden | |
Rentner, auch wenn sie zu den rund 13,7 Millionen Menschen in Deutschland | |
gehört, die aktuell unterhalb der sogenannten Einkommensarmutsgrenze leben. | |
Aber kann man von einer 85 Jahre alten Dame verlangen, sich von ihren | |
Möbeln, dem Letzten, was sie hat, zu trennen, um sich von dem Erlös ihren | |
Unterhalt zu finanzieren? Nimmt man einer Frau, die ihr Leben lang nicht | |
ungeschminkt aus dem Haus gegangen ist, mit Eyeliner und Mascara auch ihre | |
Würde? | |
Aber noch einmal von Anfang an: Dass Ingrid Millgramm immer wieder | |
gestohlen hat, ist unstrittig. Zwischen 2013 und 2016 steht sie immer | |
wieder mit weichen Knien an der Kasse, weil sie genau weiß, dass sich unten | |
in ihrem Korb noch etwas verbirgt, was sie nicht aufs Band gelegt hatte, | |
mal ist es ein Pfund Hackfleisch, mal Wimperntusche. Manchmal merkt niemand | |
etwas, doch mehrmals wird sie entdeckt. | |
## Erst Geld-, dann Bewährungsstrafe | |
Erst ist es eine Geldstrafe, 1.800 Euro, zu der die Rentnerin aus Bad | |
Wörishofen, einem 16.000-Einwohner-Städtchen im Unterallgäu, verurteilt | |
wird. Es folgen zwei Bewährungsstrafen zu jeweils drei Monaten, im Jahr | |
2016 schließlich sind es fünf Monate. Ohne Bewährung. Im Berufungsverfahren | |
wird das Strafmaß auf drei Monate herabgesetzt. Ingrid Millgramm ist die | |
älteste Strafgefangene in Bayern. | |
Nun spielt die Ü-80-Generation in der Kriminalitätsstatistik eine recht | |
untergeordnete Rolle; dass dem Fall Millgramm eine besondere | |
Aufmerksamkeit zukommen würde, ist somit unausweichlich. Zumal sie ja „aus | |
Hunger“ stiehlt. | |
Die Vorstellung von einer 84-Jährigen in einer Zelle der | |
Justizvollzugsanstalt befeuert das Ganze nur noch: Hat hier einmal wieder | |
das Recht nichts mit der Gerechtigkeit zu tun? Fehlt unserer Justiz jedes | |
Gespür für Verhältnismäßigkeit? Oder ist Ingrid Millgramm trotz ihres hohen | |
Alters eben doch eine gewöhnliche Kriminelle, die sich nie bessern wird, | |
wenn sie nicht die Härte des Gesetzes spürt? | |
Fest steht: Viel bleibt Ingrid Millgramm nach Abzug der monatlichen | |
Fixkosten nicht zum Leben. Je nach Bericht sind es mal um die 100 Euro, mal | |
deutlich weniger. Ingrid Millgramm ist eine tragische Figur, keine Frage. | |
Ihr erster Mann, so berichtet sie dem [1][Spiegel], hinterließ ihr einen | |
Schuldenberg. Aber in die Rentenkasse hat er nicht für sie eingezahlt. | |
Mit ihrem zweiten Mann kam sie aus dem Rheinland ins Allgäu, betrieb mit | |
ihm einen Großhandel für Reformhäuser. Die 90er waren goldene Jahre für die | |
beiden. Doch dann starb er. Krebs. | |
Dem persönlichen Verlust folgte der finanzielle. Die Aktienfonds, die der | |
Alterssicherung dienen sollten, waren plötzlich nichts mehr wert. Ingrid | |
Millgramm stand ohne alles da. So kommt es, dass die gelernte Schneiderin | |
40 Jahre lang gearbeitet hat und schließlich doch nicht wusste, wovon sie | |
leben soll. | |
Bis zum Sommer vergangenen Jahres ist Ingrid Millgramm sehr | |
auskunftsfreudig. Der Spiegel widmet der Dame einen langen Artikel. Fast | |
sieben Seiten. Auch der Augsburger Allgemeinen und dem Münchner Merkur | |
erzählt sie bereitwillig ihre Lebensgeschichte. Sie stellt sich vor die | |
Kameras von Sat.1, Bayerischem Rundfunk, ZDF und Spiegel-TV, lässt sich | |
filmen, wie sie die letzten beiden Scheiben Knäckebrot aus der Packung | |
nimmt, wie sie den Koffer fürs Gefängnis packt, wie sie am Tag vor dem | |
Haftantritt zum letzten Mal ihre Blumen gießt. | |
Als Ingrid Millgramm Ende 2017 ihre Haftstrafe antreten muss, stehen | |
Unterstützer vor dem Gefängnis in Memmingen, einer ist extra aus der Pfalz | |
angereist, er fächert vor der Fernsehkamera Geldscheine auf, es sind über | |
2.000 Euro. Damit will er Ingrid Millgramm helfen, doch die Haft lässt sich | |
damit auch nicht mehr verhindern. | |
55 Tage sitzt die Diebin schließlich in einer Doppelzelle. „Die Verurteilte | |
muss nun spüren, dass sie sich an die Gesetze zu halten hat“, sagt der | |
Staatsanwalt damals. Kurz vor Weihnachten darf Ingrid Millgramm nach Hause. | |
Der letzte Monat wird zur Bewährung ausgesetzt. | |
Millgramm sagt: „Ich werde nie wieder etwas stehlen. Die Zeit im Gefängnis | |
war das Schlimmste, was mir je passiert ist.“ Die resozialisierende Wirkung | |
der Haft nennt man das in der Justiz. Auch nach der Haft bekommt sie noch | |
Spenden, die allerdings bald weniger werden. Immerhin: Eine Gönnerin | |
verspricht, ihr bis ans Lebensende monatlich 100 Euro zu überweisen. Sie | |
kommt über die Runden. | |
Und doch: Vier Monate später steht schon wieder ein Ladendetektiv vor ihr, | |
als sie ein Geschäft verlassen will. | |
Im August 2018 steht Ingrid Millgramm also wieder vor Gericht. Der | |
Sachverhalt scheint klar. Eine Erkrankung, die ihr Verhalten erklären | |
würde, vermag ein Gutachter nicht festzustellen. Millgramm ist keine | |
Kleptomanin. Vier Monate Gefängnis verfügt das Gericht, die Staatsanwältin | |
hatte zehn Monate gefordert – die offenen Bewährungsstrafen von insgesamt | |
sieben Monaten noch gar nicht mit eingerechnet. Das Gericht attestiert ihr | |
eine schlechte Sozialprognose, sprich: Es geht davon aus, dass die | |
Rentnerin erneut straffällig wird. | |
Aber vier Monate? Ingrid Millgramm ist entsetzt. Viel zu viel, findet sie. | |
Viel zu wenig, findet die Staatsanwaltschaft. Beide gehen in Berufung. | |
Nun sitzt sie also vor dem Vorsitzenden Richter Jürgen Hasler, der einen | |
ratlosen Eindruck macht. Von einem Teilgeständnis im ersten Verfahren hat | |
sich Millgramm inzwischen distanziert, ihre damaligen Anwälte hätten sie | |
dazu bedrängt. | |
In der Tat gibt es viele Ungereimtheiten in der erneuten Beweisaufnahme: | |
Zeugen widersprechen sich, eine vorhandene Videoüberwachung wurde nicht | |
ausgewertet, ein Kassenzettel ist verschwunden. Es ergibt sich kein | |
schlüssiges Bild. Vor allem aber bleibt die Frage: Warum? Zum Tatzeitpunkt | |
hatte Ingrid Millgramm ausreichende finanzielle Mittel. Auch ihre | |
Bewährungshelferin hat im Zeugenstand keine Erklärung für einen Diebstahl. | |
Die Waren hätte sie doch zum Teil gar nicht brauchen können. „Sahnesteif? | |
In dieser Generation? Ein No-go!“ | |
## Gesundheitlich schwer angeschlagen | |
Nach einem Sturz Ende letzten Jahres hat sich Ingrid Millgramms | |
gesundheitlicher Zustand stark verschlechtert. Sechsmal hat sie sich die | |
Schulter gebrochen, den linken Arm kann sie kaum noch heben. Mit dem | |
Rollator kann sie nur kurze Strecken zurücklegen. „Ich möchte am liebsten | |
morgen sterben“, sagt sie. Ihre Wohnung musste Millgramm inzwischen auch | |
aufgeben. Sie lebt jetzt in einem Seniorenheim. | |
Dennoch fordert der Staatsanwalt eine sechs Monate lange Haftstrafe. Ohne | |
Bewährung. Stehlen kann man auch, wenn man im Rollstuhl sitzt, sagt er. Der | |
Verteidiger verlangt Freispruch. Das Gericht schließlich verwirft beide | |
Berufungen. An der Schuld der Angeklagten bestehe kein Zweifel. Es bleibt | |
also beim erstinstanzlichen Urteil: vier Monate ohne Bewährung. Doch auf | |
die grundsätzlichen Fragen hat auch Richter Hasler keine Antwort. | |
9 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://www.spiegel.de/video/rentnerin-ladendiebin-ingrid-millgramm-schmiege… | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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