| # taz.de -- Die Wahrheit: Hinters Ohr gehauen | |
| > Neues aus der beliebten Rubrik „Sprachkritik“: Neuerdings werden bei | |
| > gewundenen Redewendungen keine Gefangenen mehr gemacht. | |
| Bild: Kleinkinder sollten vor Sprachunfällen geschützt sein | |
| Viele Redensarten haben den Vorteil, etwas anschaulich zu machen. Viele | |
| haben aber auch den Nachteil, etwas anschaulich zu machen. Um sie zu | |
| verstehen, muss man nämlich ihre Bedeutung kennen. Andererseits braucht man | |
| sie nicht zu kennen, wenn man kreativ ist und sich den Sinn selbst | |
| zurechtbasteln kann: „Eine Wiedererrichtung der UdSSR als geopolitische | |
| Einheit droht nicht“, weil dem Kreml laut taz „finanzielle und militärische | |
| Mittel fehlen, um das alte Reich wieder an die Kandare zu nehmen.“ | |
| Im besten Fall kann Journalismus hermetische Poesie sein. So heißt es in | |
| der taz über einen parteilosen, aber erfolgreichen Freiburger Politiker: | |
| „Es scheint, als hätte er die Kretschmann-Grünen in Baden-Württemberg auf | |
| die Spitze getrieben.“ Was gemeint ist? Schnurz, schließlich ist die | |
| Trennung von Inhalt und Meinung die Grundlage jedes guten Journalismus. | |
| Oder um einen Aphorismus von Adorno zu paraphrasieren: Wahr sind nur die | |
| Redensarten, die sich selber nicht verstehen. | |
| Besondere dichterische Höhen erklomm das südbadische Lokalblatt | |
| Dreisamtäler, als es den Schlossherrn und FDP-Politiker Nikolaus von | |
| Dayling auf die Spitze trieb und gleich mehrere bildliche Ausdrücke an die | |
| Kandare nahm: „Während der eine oder andere adelige Vorfahr bereits weit | |
| früher den Silberlöffel schmiss, hält sich das Ebneter Urgestein wacker am | |
| Puls der Zeit.“ | |
| ## Individuum aus der Mördergrube | |
| Ebenfalls sehr hübsch machte es ZDF-Reporter Oliver Schmidt, der während | |
| der Fußball-WM 2018 unkte: „Das dritte Gruppenspiel – da werden keine | |
| Verwandten mehr gemacht“, und aus den Redewendungen „keine Gefangenen | |
| machen“ und „keine Verwandten kennen“ ein Bild schuf, das sicherlich | |
| manchem von seiner Familie geplagten Individuum aus der Mördergrube sprach. | |
| Der Chemnitzer WochenENDspiegel befasste sich mit windigen Haustür- und | |
| Telefongeschäften, deren Opfer zu spät merken, „dass sie hinters Ohr | |
| gehauen wurden“, und rührte aus den Phrasen „übers Ohr hauen“ und „hi… | |
| Licht führen“ etwas Neues zusammen. | |
| Die Sprache steckt voller Bilder, die ihre Sprecher „in höhere Weihen“ | |
| (taz) entführen und manchmal sogar in kubistische Sphären: „Ganz wichtige | |
| Mosaiksteine der Straßensozialarbeit sind die Streetworker.“ (Extra-Tip | |
| Göttingen) In surrealistische Gefilde geriet sogar der Jugendsender One | |
| („Einer für euch, liebe Kinder“), als er sein Mitgefühl mit den Alten | |
| ausdrückte, denn „ihre auslaufende Lebensuhr tickt unaufhaltsam“. Schön, | |
| dass Dalí noch immer so populär ist. | |
| Der Sinn der Wörter und Phrasen existiert unabhängig vom Sprecher. Nicht | |
| der einzelne Mensch legt die Bedeutung fest, sondern sie ergibt sich aus | |
| dem kollektiven Sprachgebrauch. Das Individuum (sofern es nicht der | |
| allwissende Sprachkritiker ist!) weiß nur ungefähr, was richtig ist, und | |
| krokelt am Ausdruck herum: „Frau Mair-Holmes, Herr Bergmann, los ging es | |
| 1967 nicht als Plattenfirma“, begann die taz ein Interview mit den beiden | |
| Leitern von Trikont, „sondern als Verlag, schon damals mit glücklichen | |
| Händchen.“ Es ist also nicht so, dass beide im übertragenen Sinn ein | |
| glückliches Händchen haben, sondern sie haben wirklich glückliche Händchen, | |
| was immer das sein mag. | |
| ## Das Eingemachte verblasst | |
| Wer dieser haarfeinen Interpretation widersprechen will, liebe | |
| Deutschschüler, „gibt Paroli“ (taz). Zugestanden, sie ist pingelig, aber | |
| immerhin geht es bei Gestalt und Gehalt von Wörtern und Phrasen „ums | |
| Eingemachte“ (taz) einer Sprache. Das Eingemachte hält freilich nicht ewig: | |
| Ausdrücke und Redensarten nutzen sich ab, ihr anschaulicher Inhalt | |
| verblasst. Aber er kann wieder aufgehübscht werden: „Thomas, dessen | |
| Ermittlungen ihn ins Milieu der Vornehmen und Reichen führen, beißt sich an | |
| den Befragten die Zähne aus.“ (ZDF neo) | |
| Sehr gut wäre auch die Formulierung, Thomas bisse sich „im Wortsinn“ die | |
| Zähne aus. Gemeint ist zwar das Gegenteil des Wortsinnes, aber man versteht | |
| sich: Im Jemen „wird die Bevölkerung buchstäblich zerrieben“, klagt NDR 4, | |
| wohl wissend, dass Menschen, die zwischen Fronten geraten, allerhand | |
| Schreckliches, aber nicht eigentlich die Zerreibung droht. Und wenn der HR | |
| behauptet, dass die eine Fußballmannschaft die andere „im wahrsten Sinne | |
| des Wortes an die Wand spielte“, dann deshalb, weil er weiß, dass sich auf | |
| dem Fußballgeläuf keine Wand befand. Selbst die Mauer, die die | |
| verteidigende Elf beim Freistoß bildet, ist nur sprichwörtlich eine. | |
| So schwer man es mit den Redensarten hat, sie haben den Vorteil, dass man | |
| es herrlich vermasseln kann: Die Unglücksfälle zeugen zumindest von | |
| Schöpfergeist. Manches Beispiel lacht einen direkt an, anderes ist mehr was | |
| für Feingeister. Etwa manche Katachrese: „Genüsslich“, so die taz, „set… | |
| Arno Bertina eine absurde Kette von Verwicklungen in Gang, die am Ende | |
| darin gipfelt, dass …“ … diese Glosse im Schlusspfiff gipfelt! | |
| 5 Apr 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Köhler | |
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