# taz.de -- Essay über Afrikanische Perspektiven: Herr Fernsehen lügt nicht | |
> In Zentralafrika prägen vor allem utopische Bilder von Luxus die Idee von | |
> Europa, sagt der Soziologe Joseph Tonda. | |
Bild: Chanel-Ohrringe und Paraplü: Ein „Sapeur“ in Kinshasa, Republik Kongo | |
Wer verstehen will, wie Menschen in Afrika die Bilder aus Europa auf ihren | |
Smartphones betrachten, muss die historischen, soziologischen und | |
anthropologischen Gegebenheiten berücksichtigen, die das Leben dieser | |
Menschen bestimmen. Das gilt vor allem für Zentralafrika, also Kongo und | |
Gabun, aber man kann auch Kamerun, die Zentralafrikanische Republik und die | |
Demokratische Republik Kongo dazuzählen. | |
Träume, Visionen und Vorstellungen, verbunden mit den typischen Wünschen, | |
Sorgen und Ängsten angesichts der Unsicherheit und Gewalt, die sie im | |
Alltag erleben, sind wichtige Faktoren, an denen sich der Umgang der | |
Afrikaner mit der Wirklichkeit und daher auch mit ihren Bildschirmen, vor | |
allem denen des Smartphones, orientiert. | |
Von daher ist das geträumte, fantasierte oder imaginäre Europa viel | |
entscheidender als das reale Europa mit den Gelbwesten in Frankreich, den | |
Protesten gegen den Klimawandel und dem immer wieder ausbrechenden | |
Rassismus, wie etwa im aktuellen Shitstorm gegen die neue französische | |
Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye. | |
Die historische Dimension dieser Entwicklung gründet in den Bildern | |
Europas, die während der Kolonialisierung durch Pariser Modemagazine in | |
Afrika verbreitet wurden. Diese Bilder erhielten eine anthropologische | |
Dimension, wenn sie etwa zum Bestandteil prophetischer Kulte der | |
Kolonialzeit wurden. | |
## Die innere Mattscheibe | |
Ich habe selbst erforscht, wie Anfang der 1950er Jahre ein prophetischer | |
Kult gegen Hexerei entstand, der solche Bilder aus französischen | |
Modezeitschriften verwendete. Mit diesen Bildern schmückten die Menschen | |
die Wände ihrer Häuser. | |
Der Ursprungsmythos des neuen Kults, der bezeichnenderweise Mademoiselle | |
hieß, erzählt von einer entscheidenden Episode im Kampf seines Propheten | |
mit einem Heiler: Auf Befehl des Propheten verwandelten sich die Modefotos, | |
die im Wohnzimmer des Wahrsagers hingen, in der Nacht in sprechende und | |
lebende Personen, die gegen ihren Besitzer Partei für den Propheten | |
ergriffen. | |
Der Heiler hatte sich in den 1990er Jahren als Professor tituliert und war | |
bei prominenten Politikern im Kongo sehr gefragt; wider Erwarten gab er | |
sich dann einen neuen Namen: Fernsehen. Warum Fernsehen? | |
Er erklärte mir, er habe bei seiner ersten Reise nach Libreville die Bilder | |
auf der Mattscheibe gesehen und verstanden, dass seine Hellseherei genauso | |
machtvoll war wie das Fernsehen: Ebenso gut sichtbar wie die im Fernsehen | |
ausgestrahlten Bilder projizierte ihm auch seine eigene psychische | |
Mattscheibe Bilder aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der | |
Menschen, die ihn wegen verschiedener Leiden aufsuchten. Er war ein | |
menschlicher Fernseher, und heute wäre er wohl ein menschliches Smartphone. | |
## Ein mächtiger Heiler, der sich selbst belügt | |
Im Jahre 1992 erkrankte der Heiler schwer und wurde dank seiner guten | |
Beziehungen zur Behandlung nach Nizza gebracht, denn die Politiker | |
brauchten seine Dienste, um den neuen politischen Kontext der | |
„demokratischen Öffnung“, wie es damals hieß, richtig zu nutzen. | |
Ich traf ihn in einer Villa im Zentrum von Brazzaville, Kongo, im Juni | |
1992, um ihn nach seinen Erlebnissen in Frankreich zu befragen. Ich wollte | |
wissen, welches Bild er sich von Europa und insbesondere von Frankreich | |
gemacht hatte. | |
Ich war überrascht, dass der Mann, der sich immer noch Fernsehen nannte, | |
Bilder aus französischen Zeitschriften mitgebracht hatte, und er zeigte mir | |
darauf Menschen, die er als seine französischen Kollegen bezeichnete. Das | |
stimmte gar nicht, denn es handelte sich um Fotos französischer Bauern. | |
Er, der mächtige Heiler, den ich schon so lange kannte und der mich | |
ebenfalls kannte, „vergaß“, dass ich in Frankreich studiert hatte, relativ | |
häufig dorthin fuhr und dass ich lesen und schreiben konnte. | |
## Sie wollen das sehen, was ihre Träume stützt | |
Kurzum, unsere Begegnung verlief so, als hindere ihn der Fernsehbildschirm, | |
der er ja sein wollte, daran, mich so zu sehen, wie ich wirklich war: ein | |
Dozent und Wissenschaftler, der seine „Lüge“ erkennen konnte. In Wahrheit | |
belog Fernsehen sich selbst, und seine Lüge war nicht vorsätzlich. Er war | |
das Produkt jener imaginären Mattscheibe, der Projektionsfläche seiner | |
beruflichen und persönlichen Identität, und sie hinderte ihn daran, mich | |
als den zu sehen, der ich war. | |
Genau dieselbe Projektionsfläche spannt sich jetzt zwischen den Afrikanern | |
und den Bildern Europas auf ihren Smartphones auf. | |
In der Tat muss man – diesmal auf soziologischer Ebene – die Dimension | |
dieser „Lüge“, des unfreiwilligen Selbstbetrugs, berücksichtigen, wenn man | |
sich anschaut, wie die Menschen in Zentralafrika mit den Bildern Europas | |
auf ihren Smartphones umgehen. | |
Sie wollen das sehen und festhalten, was ihren Träumen, ihren Wünschen und | |
Phantasmen entspricht, und das bedeutet, dass nicht alle Bilder, die sie | |
empfangen, gleich wichtig sind. Sie wollen vor allem die Bilder sehen, die | |
ihre Identität bestätigen, ihren Wünschen schmeicheln und ihre Träume | |
stützen, und sie blenden diejenigen aus, die sich diesen Träumen und | |
Wünschen entgegenstellen. | |
## Konkrete Probleme, fernab von Minderheitenrechten | |
Ich habe schon von den Gelbwesten in Frankreich gesprochen, aber ich könnte | |
auch von den Veganern sprechen, die gegen Fleischkonsum kämpfen, oder von | |
Protesten gegen Homophobie. Solche Bilder Europas passen nicht zu den | |
Zielen der Afrikaner, sie sind Darstellungen einer Welt, die nicht die Welt | |
ist, die sich die Afrikaner wünschen. | |
Die soziologische Dimension dieses Verhaltens erklärt sich durch die realen | |
Sorgen der Menschen im Alltag: Arbeitslosigkeit, grundlegende Probleme wie | |
der Mangel an Wasser, Strom und Lebensmitteln, dazu die Schwierigkeiten, | |
Stipendien für die Schulbildung ihrer Kinder zu bekommen, oder eine gute | |
Gesundheitsversorgung, Wohnung und Mobilität. | |
Es geht also um konkrete Probleme im Alltag, die zwar nach imaginären | |
Motiven interpretiert werden (als Angriffe von Hexen aus der Familie oder | |
dem Staat), sich aber von den in ihren Augen abstrakten Problemen der | |
Europäer unterscheiden, wie Frauenrechte, Frauenfeindlichkeit oder | |
Homosexualität. | |
Diese historischen, anthropologischen und soziologischen Gegebenheiten | |
erklären die maßgebliche Rolle, die das Imaginäre beim Umgang der Afrikaner | |
mit den Bildern Europas auf ihren Smartphones spielt. So kann man | |
nachvollziehen, dass ihre Traumwelt eher die Welt der Videoclips | |
afrikanischer oder Afromusiker ist: schöne Häuser, Luxusautos, schwarze | |
oder weiße Frauen mit einer Traumfigur nach ihren Maßstäben. | |
## Gegen den Leidensort Afrika | |
Die Welt, nach der sie streben, ist also die Welt der sogenannten schwarzen | |
Musik (Black Music). Eine weiße Welt, erfunden von schwarzen Künstlern, die | |
sie den Afrikanern verkaufen. Eine Welt des Luxus, verkörpert von den | |
„Sapeurs“, den Dandys der Société des Ambianceurs et des personnes | |
élégantes („Gesellschaft für Unterhalter und elegante Menschen“), einer | |
Subkultur, die auch als „Sapelogie“ bekannt ist. | |
Diese Welt der afrikanischen Utopie wird in Szene gesetzt von Stars der | |
schwarzen Musik, die in Europa leben, und gegen die Afrodystopie, den | |
Leidensort Afrika, aufgeboten. Der Erfolg dieser Stars wird über die | |
Bildschirme der Smartphones inszeniert und verbreitet. Zwischen die | |
afrodystopische Realität in Afrika und die europäische Realität der | |
Nachrichtenbilder schiebt sich das Imaginäre des Luxus, die Welt der | |
Utopie. | |
Doch genau diese Welt betrachten Globalisierungskritiker und | |
Umweltaktivisten in Europa als „Alte Welt“. Mit anderen Worten, die Bilder | |
Europas, die Afrikaner zum Träumen bringen, sind Bilder des alten, | |
romantischen und kapitalistischen Europas. | |
## Kein Beweis für ihren Tod | |
Aus diesem Grund sind Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen oder versklavten | |
Schwarzafrikanern in Libyen kontraproduktiv. Denn die jungen Leute, die wir | |
befragt haben, machen eine einfache Rechnung auf: Nicht alle sterben im | |
Mittelmeer; es gibt keinen Beweis dafür, dass sie sterben, denn ihre Brüder | |
und Schwestern, die bereits den Weg nach Europa angetreten haben, senden | |
ihnen Fotos und Geld, sie sind nicht tot. | |
Außerdem steht zwischen Leben und Tod ihrer Meinung nach Gott – mit anderen | |
Worten, die übermächtige, allumfassende Gestalt des Imaginären; die | |
grundlegende Projektionsfläche zwischen der Realität und dem Einzelnen. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
8 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Joseph Tonda | |
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