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# taz.de -- Konzert bosnischer Liebeslyrik: Lieder wie ein Fieberschub
> Božo Vrećo singt Liebeslieder, wie es sie nur in Bosnien gibt:
> Sevdalinka. Am Samstag tritt Vrećo zum ersten Mal in Berlin auf.
Bild: Erregt Aufsehen: Božo Vrećo
Am liebsten trifft Božo Vrećo sich mit anderen Leuten in der Teestube Franz
und Sophie nahe der Musikakademie in Sarajevo. Hier verkehren weltoffene
und tolerante Menschen. Nicht nur für sie ist Vrećo ein Star. Seine
Interpretation der Sevdalinka, seine samtweiche, fast weibliche Stimme, war
2014 eine Sensation in der Stadt.
Denn die traditionellen bosnischen Liebeslieder sind poetische Erzählungen,
die nur von „wahren Seelen“ angeboten werden können. Man muss ihre
Tradition und Tiefe spüren, um sie wiedergeben zu können. Sevda ist das
türkische Wort für Liebe. „Wie Duende im Spanischen oder Fado im
Portugiesischen trägt Sevda viele Bedeutungen in sich – sei es Sehnsucht,
Schwermut, Melancholie, Liebe, unerfüllte Liebe, endlose Liebe, ein
fieberhaftes Begehren, das den Liebenden wie Malaria heimsucht und sich
nicht abschütteln lässt – aber schlussendlich geht es um ein Lebensgefühl,
das sich selbst erzählt,“ beschreibt ein deutscher Autor das Phänomen.
Božo Vrećo sang diese Lieder manchmal sogar ohne musikalische Begleitung –
und füllte damit Säle mit über 2.000 Menschen. Jeder spürte, dass seine
Interpretationen der Sevdalinki aus dem Herzen kamen.
Das war in Sarajevo in doppelter Hinsicht aufsehenerregend. Erstens, weil
Božo, der sich heute mit dem langen, mantelähnlichen schwarzen Jackett, den
hochhackigen Schnürschuhen, dem Hut und dem Bart nicht mehr so auffällig
kleidet, damals in fließenden Frauenkleidern auftrat – und sich damit als
Nicht-Hetero outete.
Zweitens, weil Božo bosnischer Serbe ist, 1983 in dem bosnischen Städtchen
Foca an der Drina geboren und während des Krieges 1992-95 aufgewachsen. Er
lebte in der Stadt, wo serbische Freischärler und Soldaten unfassbare
Verbrechen an der muslimischen Bevölkerung begangen haben. Doch seine
Mutter erzog „mich im Geiste der Toleranz“, wie er sagt. Und sie förderte
seine musikalischen Neigungen.
Er ging nach Belgrad, um Musik zu studieren, wurde dort aber, als er
anfing, Sevdalinka zu singen, aus der Stadt geekelt. Božo wechselte nach
Sarajevo, trat dort in den kleinen Musikcafés auf und lebte von der Hand in
den Mund. Doch schon bald erregte er mit seiner Stimme Aufsehen – sogar bei
den konservativsten Kreisen der bosnischen Muslime, die vor allem die
traditionelle Interpretation von Sevda bevorzugen. Auch das war
sensationell.
Heute schmunzelt Božo über diese Zeit. Natürlich war die Neugier auf die
Person Božo auch vermittelt über den Erfolg einer/s Wiener Sängers(in),
der/die damals den Europavision Song Contest gewonnen hatte. Davon hat Božo
sich heute emanzipiert. „Ich bin erwachsen geworden, ich folge keiner Welle
mehr, verwirkliche nur mich selbst.“
Božo geht nun eigene Wege, musikalisch und persönlich, etwa mit dem selbst
kreierten Kleidungsstil und den Tätowierungen an Händen, dem Hals und am
Körper. Es sind mystische Zeichen, die Zeichen auf den altbosnischen
Gräbern der Stecci, der alten bosnischen Grabsteine: Sonne, Halbmond,
sephardische Muster – jede Tätowierung hat eine eigene Bedeutung. „Wir hier
in Bosnien lebten im Osmanischen Reich.“
Sephardische Juden standen vor 500 Jahren wohl am Anfang der Sevdalinka in
Bosnien. Türkische Klangfarben, orthodoxe Einflüsse vermischten sich in
Sarajevo zu dieser nur hier existierenden Musikrichtung, deren besten
Interpreten es gelingt, die Zuschauer in eine Art Trance zu versetzen.
„Sevdalinka ist sehr traurig, aber sehr tief, der ganze Balkan ist mir
jedoch zu traurig,“ sagt Božo, er will Neues schaffen. Deshalb arbeitet er
jetzt zwar ganz im Rahmen der Tradition mit türkischen und mazedonischen
Musikern zusammen, will aber neue Klangfarben kreieren. Im Vorjahr hat Božo
in Zagreb eine neue Liedersammlung herausgebracht. „Es ist also eine Musik,
die aus Bosnien kommt, aber gleichzeitig international ist. Ich will eine
Musik, die auch tanzbar ist.“
Deshalb kommen jetzt auch türkische Instrumente ins Spiel, die Laute, die
Trommel sind wichtig geworden, aber das Akkordeon ist geblieben, die Geige
und das Klavier. West und Ost. Eine Mischung mit seiner Stimme neu
angerührt.
„Ich will mich authentisch ausdrücken, die Leute im Ausland verstehen nicht
die Lyrik, aber sie verstehen die Energie, die von dieser Musik ausgeht.“
Božo will Hoffnung geben und nicht verharren in der Dunkelheit: „Das Böse
kann mich nicht mehr treffen, ich lebe das Positive in Sarajevo und jetzt
auch in Berlin, ich bin ein offener Mensch.“
5 Apr 2019
## AUTOREN
Erich Rathfelder
## TAGS
Musik
Serbien
Balkan
Liebe
Leidenschaft
Lyrik
Bosnien und Herzegowina
Sarajevo
Bosnien-Herzegowina
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