# taz.de -- Vor dem Urteil im Berliner Raser-Prozess: Tod am Tauentzien | |
> Ein nächtliches Rennen, Tempo 160, ignorierte Ampeln. Und dann der | |
> Unfall. Ein Mensch kommt zu Tode. Ist das Mord? Oder doch fahrlässige | |
> Tötung? | |
Bild: Das zerstörte Fahrzeug des Opfers – der Rentner hatte keine Chance | |
BERLIN taz | Über drei Monate haben die Angeklagten in diesem Verfahren | |
geschwiegen. Gleich am ersten Verhandlungstag im November 2018 ließen | |
Marvin N. und Hamdi H. durch ihre Anwälte erklären, dass sie sich nicht | |
äußern wollen. An die 50 Zeugen sind schon gehört worden. | |
Die Beweisaufnahme gilt als abgeschlossen, als Marvin N. Anfang März doch | |
eine Erklärung ankündigt. Es ist das Recht von Marvin N. und seinem | |
Mitangeklagten Hamdi H., zu schweigen. Sie müssen sich nicht selbst | |
belasten. Aber sie könnten versuchen, sich zu erklären. Das kann schwierig, | |
das kann missverständlich sein. Juristen wissen, worauf es ankommt. N.’s | |
Verteidiger Enrico Boß trägt die Erklärung vor. | |
Marvin N. und Hamdi H. hatten sich am 31. Januar 2016 mit ihren Autos ein | |
nächtliches Wettrennen in der Berliner Innenstadt geliefert. Es endete mit | |
dem Tod eines Unbeteiligten. Handelten die beiden Männer damals vorsätzlich | |
und nahmen sie den Tod eines anderen rücksichtslos in Kauf? Oder hofften | |
sie, es werde schon gut gehen und handelten schlicht fahrlässig? | |
Eine feine juristische Trennlinie, die hart über das Leben von Hamdi H., | |
heute 27, und Marvin N., heute 30 Jahre alt, befindet: Erkennt das Gericht | |
auf Mord, hieße das lebenslänglich, erkennt es auf fahrlässige Tötung, | |
würde das auf eine Freiheitsstrafe von maximal fünf Jahren hinauslaufen. | |
## Er glaubte, perfekt zu sein: der Angeklagte Marvin N. | |
„Mein AMG-Mercedes war damals mein Statussymbol“, lässt Marvin N., | |
ehemaliger Zeitsoldat und Sicherheitsmann, am Dienstag im März erklären. Es | |
träfe zu, dass er auch früher nachts öfter sehr schnell gefahren sei und | |
sich manchmal auf „Stechen“, Wettrennen von Ampel zu Ampel, eingelassen | |
habe. „In der Nacht zum 1. Februar 2016 war ich längst zutiefst davon | |
überzeugt, mir – und anderen durch mich – könne durch die Raserei niemals | |
etwas passieren, weil ich einfach zu ‚gut‘ war.“ | |
Marvin N. spricht von einer falschen Selbsteinschätzung, er habe sich für | |
einen der wenigen gehalten, „die das Steuern eines Pkw bis zur Perfektion | |
beherrschen“. Er bedauere sein Verhalten heute zutiefst. Den von rechts | |
kommenden Jeep habe er nicht gesehen. | |
Marvin N. und Hamdi H. hätten ihn nach Aussage des technischen | |
Sachverständigen auch gar nicht sehen können. Dafür waren N.’s Mercedes mit | |
130 und H.’s Audi mit 160 Stundenkilometern viel zu schnell unterwegs. Der | |
in die Tauentzienstraße, eine Verlängerung des Kurfürstendamms, einbiegende | |
Michael Warshitsky hatte mit seinem Jeep keine Chance. H.’s Audi unterfuhr | |
den Wagen regelrecht, der auf die linke Seite kippte und 70 Meter weit | |
geschleudert wurde. Der 69-jährige Arzt im Ruhestand starb noch am | |
Unfallort. H., N. und N.’s Beifahrerin erlitten nur leichtere Verletzungen. | |
Der Fall setzte etwas in Bewegung, die Gesetzgebung änderte sich. Heute | |
gelten Raserei und illegale Wettfahrten nach Paragraf 315d als | |
Straftatbestand – und nicht mehr als Ordnungswidrigkeit –, der mit bis zu | |
zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Für Hamdi H. und Marvin N. aber | |
gilt die alte Rechtslage. In einem ersten Verfahren wurden beide wegen | |
Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ein Jahr später wurde das | |
Urteil als nicht ausreichend begründet vom Bundesgerichtshof aufgehoben. | |
Der zweite Anlauf platzte wegen eines Befangenheitsantrags. | |
Seit November 2018 verhandelt nun die 32. Strafkammer des Berliner | |
Landgerichts unter Vorsitz von Richter Matthias Schertz neu. Am nächsten | |
Dienstag soll das Urteil verkündet werden. | |
## Das spontane Wettrennen | |
Was ist in der Nacht vom 1. Februar 2016 genau passiert? Es war kein | |
verabredetes, sondern ein spontanes Wettrennen, so weit stimmen die | |
Zeugenaussagen überein. Die beiden Angeklagten, die sich nur flüchtig | |
kannten, kamen zufällig um kurz nach halb eins auf dem Berliner Ku’damm | |
nebeneinander zum Stehen. Sie unterhielten sich kurz. Ob sie sich auf ein | |
Rennen verständigten, dazu gibt es unterschiedliche Angaben. Hamdi H. | |
jedenfalls preschte los, Marvin N. ließ sich bis zur nächsten roten Ampel | |
darauf ein. Das Spiel wiederholte sich bis zur nächsten roten Ampel. | |
„Was rast der wie ein Verrückter?“, soll Marvin N. nach Aussage seiner | |
Beifahrerin Olesya K. gesagt haben, als Hamdi H. die nächste rote Ampel | |
überfuhr. Dann raste auch Marvin N. hinterher. Am Ende hatten beide Fahrer | |
zehn Kreuzungen passiert, mehrere rote Ampeln ignoriert und maximal | |
beschleunigt. Bis der Unfall passierte, der die Tauentzienstraße in ein | |
Trümmerfeld verwandelte und das Leben des Rentners Michael Warshitsky | |
brachial beendete. | |
Sein Sohn Maximilian lässt sich, stets mit einer kleinen Wasserflasche | |
ausgestattet, keinen Verhandlungstag entgehen. Der 37-Jährige, der als | |
Nebenkläger auftritt, hat sich entschlossen, den Prozess zu verfolgen und | |
den Kampf gegen die Raserei zu seinem Thema zu machen. Es gehe ihm nicht um | |
Rache, sagt er, sondern um Gerechtigkeit. Und um die Wahrheit. „Ich wollte | |
wissen, wie mein Vater gestorben ist.“ Die Erklärung von Marvin N. will er | |
nicht als Entschuldigung gelten lassen. „Sie war an das Gericht gerichtet, | |
nicht an mich“, sagt er hinterher. Warshitsky hofft auf „lebenslänglich“. | |
Hamdi H. und Marvin N. gehörten zur Berliner Raserszene. Beide wohnten noch | |
zu Hause, verkehrten in den gleichen Shisha-Bars, hatten ein Faible für | |
teure, hochmotorisierte Autos. Ein für 50.500 Euro auf Kredit gekaufter | |
AMG-Mercedes mit 381 PS bei Marvin N., ein für monatlich 651 Euro geleaster | |
Audi A6 mit 224 PS bei Hamdi H. Sein Mandant sei nicht nur ausnahmsweise | |
schnell gefahren, stellt Hamdi H.’s Anwalt Peter Zuriel fest. „Unsere | |
Argumentation baut gerade darauf auf, dass er Rasererfahrung hat.“ | |
## Hamid H.’s Geschichte: Rasen, Nötigung, Körperverletzung | |
Hamdi H. gibt keine persönliche Erklärung vor Gericht ab. Aber er hatte für | |
das erste Verfahren zweimal mit der Verkehrspsychologin Jacqueline | |
Bächli-Biétry gesprochen. Die Schweizerin ist im neuen Verfahren als | |
sachverständige Zeugin geladen. Ihr psychologisches Profil von H. gleicht | |
in Teilen N.’s Selbstbeschreibung. Doch anders als der ehemalige Zeitsoldat | |
Marvin N. hat Hamdi H. das, was Bächli-Biétry eine „auffällige | |
Verkehrsvorgeschichte“ nennt: Tankbetrug, zu schnelles Fahren, Nötigung im | |
Straßenverkehr, fahrlässige Körperverletzung wegen riskantem | |
Überholmanöver. Eine Bewährungsstrafe. | |
Die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker hat das Kind einer kosovarischen | |
Familie abgebrochen. Ein typischer Fall, bei dem das Potenzial schulisch | |
nicht gefördert worden sei, sagt die Psychologin. Er hätte sich deswegen | |
übermäßig über das Auto definiert, zur Steigerung des Selbstwertgefühls. | |
Was zur Folge hatte, dass Hamdi H. sein eigenes Fahrverhalten durchgängig | |
falsch eingeschätzt hätte. Jemand, der glaubte, alles im Griff zu haben. | |
Und wenn doch etwas passierte, erklärte er dies entweder mit dem | |
Fehlverhalten der anderen oder führte es auf technische Mängel zurück. | |
Externalisierung, nennt Bächli-Biétry dies. „Haben Sie mit ihm über den | |
Sinn von Verkehrsregeln diskutiert?“, will die Staatsanwältin wissen. „Die | |
Regeln sind für die anderen da“, erläutert die Verkehrspsychologin H.’s | |
Sichtweise. „Regeln sind für Leute, die nicht so gut Auto fahren können.“ | |
H. hätte deswegen die früheren Vorfälle nicht auf sich bezogen, es gab | |
keinen Lernprozess. | |
Hamdi H. ist laut Bächli-Biétry regelmäßig zu schnell und auch über Rot | |
gefahren, nachts. In einer solchen Situation gäbe es „nur ein Ziel: das | |
Rennen zu gewinnen“, erklärt sie H.’s Verhalten. „Die Person befindet si… | |
wie in einer Blase.“ Das liegt auf der Linie der Verteidigung, auch wenn | |
die Psychologin einmal ins Schlingern gerät, als ihr Staatsanwalt Christian | |
Fröhlich eine Passage aus einem Interview vorhält, in der sie davon | |
spricht, dass H. und N. durch ihr rücksichtsloses Fahren den Tod anderer in | |
Kauf genommen haben. | |
Also hätten sie den Tod des Jeepfahrers doch „billigend in Kauf genommen“, | |
insistiert Fröhlich. Die Psychologin rudert zurück: Sie sei Psychologin, | |
nicht Juristin. „Ich rede immer in Wahrscheinlichkeiten.“ Aber sie lässt | |
sich schließlich darauf festlegen, dass H. nicht damit gerechnet habe, sich | |
selbst oder andere zu gefährden. | |
## Kein Grinsen, keine Tränen vor Gericht | |
19 Verhandlungstage haben seit November 2018 in Berlin-Moabit | |
stattgefunden. H. und N. werden dafür aus dem Untersuchungsgefängnis in | |
einen der holzgetäfelten Gerichtssäle gebracht. Hamdi H., schmal und blass, | |
die Haare kurz; Marvin N., kahl rasierter Kopf, rundes Gesicht, getrimmter | |
Bart, muskulöser Oberkörper. Kein Grinsen, keine Tränen; ruhig und nach | |
außen unbeteiligt verfolgen beide den Prozess. Als der technische | |
Sachverständige spricht, hören sie besonders aufmerksam zu. Von Autos | |
verstehen sie etwas. | |
Zwei Bildschirme baut Michael Weyde im Gerichtssaal auf, um seine | |
technischen Auswertungen des Unfallgeschehens zu präsentieren, ebenso wie | |
seine Fotos, die er in jener Nacht gemacht hat. Beeindruckend, auf welche | |
Bruchteile von Sekunden er die Drehgeschwindigkeit der Räder, Bremswege, | |
Ampelphasen berechnen kann. Wie er auch rechnet, „es bleibt immer Rot“ für | |
die Angeklagten. | |
Weyde kommt zu dem Schluss, dass die beiden Raser nach der Kurve an der | |
Gedächtniskirche, die Kurfürstendamm und Tauentzienstraße verbindet, noch | |
hätten bremsen können. Doch statt das Tempo zu verringern, gaben sie | |
Vollgas. Hamdi H. krachte mit seinem Audi in den Jeep von Michael | |
Warshitsky. | |
Sein Sohn Maximilian hat damals aus den Nachrichten von dem Unfall | |
erfahren. Keine offizielle Stelle habe sich bei ihm gemeldet, erzählt er. | |
Für ein Treffen außerhalb des Prozesses hat der 37-Jährige ein israelisches | |
Restaurant in Charlottenburg vorgeschlagen. Er ist als Kind mit seinen | |
Eltern aus der damaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik gekommen. Als | |
der Sohn alarmiert zur Wohnung seines Vaters fuhr, standen schon die | |
Fernsehleute vor der Tür. Wieso er sich den Prozess antut? „Ich wollte | |
sehen, was das für Idioten sind. Wie konnte so etwas überhaupt passieren?“ | |
Für Warshitsky belegt die Expertenaussage, dass H.’s und N.’s Verhalten ein | |
Vorsatz zugrunde lag. Schließlich hätten sie nach der Kurve das Gaspedal | |
durchgedrückt. Rechtfertigt das für ihn „lebenslänglich“? Wenn die beiden | |
Angeklagten kein Mitgefühl zeigten, warum sollte er welches haben, fragt er | |
und setzt hinzu: „Was macht sie besser, was macht sie besonders?“ Das | |
klingt verbittert. Oder eher verletzt. Eine persönliche Entschuldigung | |
würde seinen Vater auch nicht wieder lebendig machen, das weiß er. Aber sie | |
täte gut. Er denkt darüber nach, ob er einen Opferfonds gründen oder sich | |
für einen Mahnmal für Raseropfer einsetzen soll. „Ich kann ja kein Bobbycar | |
an der Unfallstelle aufstellen.“ | |
## Ein Zeitungsartikel über Raser, gefunden beim Opfer | |
Beim Aufräumen in der Wohnung seines Vaters hat Warshitsky einen | |
Zeitungsartikel gefunden, erzählt er. Es war ein Bericht über ein Urteil | |
nach einem tödlichen Raserunfall, mit einem Kommentar seines Vaters | |
versehen: „Was für eine Kuscheljustiz“. Maximilian Warshitsky hatte eine | |
Art Déjà-vu. „Das kann kein Zufall sein, dachte ich.“ Seither sucht er | |
Aufmerksamkeit – für seinen Kampf gegen „den Terror auf der Straße“. | |
Die Berliner Staatsanwaltschaft bleibt bei ihrer harten Linie aus dem | |
ersten Verfahren. Anfang März beantragt Christian Fröhlich eine lebenslange | |
Freiheitsstrafe für Marvin N. und Hamdi H. wegen gemeinschaftlich | |
begangenen Mordes infolge eines illegalen Autorennens. Er sieht drei | |
Mordmerkmale gegeben: niedrige Beweggründe (das Rennen zu gewinnen), | |
Heimtücke (das Opfer war arg- und wehrlos) und gemeingefährliche Mittel | |
(das Auto als Waffe). | |
„Der Wissensvorsatz muss zweifelsfrei bejaht werden“, erläutert | |
Staatsanwalt Fröhlich, jung, blond, schlank, in seinem Plädoyer, die | |
Selbstüberschätzung der Angeklagten fände ihre Grenze in der objektiven | |
Gefährlichkeit ihres Tuns. Kein Alkohol, keine Drogen waren im Spiel. Hamdi | |
H. und Marvin N. hätten das Risiko „erkannt“ und sich damit „abgefunden,… | |
das Rennen zu gewinnen“. Sie seien auch früher schon „Stechen“ gefahren, | |
hätten das Wettrennen in der noch belebten Innenstadt veranstaltet und | |
seien mit Vollgas in die Kurve an der Gedächtniskirche gegangen und danach | |
ungebremst auf die rote Ampel zugerast. „Sie fuhren in ein schwarzes Loch“, | |
stellt Fröhlich fest. „Sie haben gerade nicht ernsthaft darauf vertraut, | |
dass schon alles gut gehen wird – es war ihnen schlichtweg egal.“ Für den | |
Staatsanwalt handelten sie demnach nicht absichtlich aber „bedingt | |
vorsätzlich“. | |
## Ab wann gilt ein Tötungsvorsatz? | |
Zwei Wochen später plädiert die Verteidigung. H.’s Verteidiger Peter Zuriel | |
beginnt. Der Staatsanwaltschaft gehe es darum, „ein Exempel zu statuieren“. | |
Eben weil es ein Fall sei, der „ins Mark geht“. Aber, warnt Zuriel, „bad | |
cases make bad law“, schlechte Fälle verführten zu schlechten Urteilen. | |
Gerade deswegen gelte es Contenance zu bewahren. Es habe schlicht keinen | |
Vorsatz gegeben. „Raser glauben an die eigene Unfehlbarkeit.“ H. sei nicht | |
angeschnallt gewesen und habe weder sich selbst noch andere in Gefahr | |
gesehen. | |
H.’s zweiter Verteidiger, Ingmar Pauli, weist auf einen anderen heiklen | |
Punkt hin. Ab welcher Geschwindigkeit gelte ein Tötungsvorsatz? Wo liegt | |
die Grenze, fragt er. Mache sich dann nicht jeder, der 30 Stundenkilometer | |
oder mehr zu schnell fahre, des versuchten Mordes schuldig? Eine Frage, die | |
im Alltag jeden treffen könne. | |
H.’s Verteidiger plädieren auf fahrlässige Tötung, ohne ein Strafmaß zu | |
nennen. N.’s Verteidiger Rainer Elfferding nimmt sich Zeit für sein | |
Plädoyer. Mit einer Vorbemerkung, die den Mordvorwurf in zweifelhaftes | |
Licht rücken soll. Paragraf 211 des Strafgesetzbuches stamme noch aus der | |
NS-Justiz, der es 1941 darum ging, Menschen nach der „Tätertypenlehre“ zu | |
verurteilen, führt der Anwalt aus. Marvin N. sei als undiszipliniert, | |
unsympathisch, dargestellt worden: eine „Verächtlichmachung“ seines | |
Mandanten. N.’s persönliche Erklärung habe der Staatsanwalt als bloße | |
„Schutzbehauptung“ abgetan. Ein Täter, der sich zu seiner „inneren | |
Tatseite“ einlässt, habe es aber verdient, dass seine Aussage Beachtung | |
findet. | |
Ob Elfferding mit dem NS-Vergleich bei der 32. Kammer punkten kann, ist dem | |
Vorsitzenden Richter und seinen Beisitzern nicht anzusehen. Stoisch lassen | |
sie den Zwei-Stunden-Vortrag über sich ergehen. Überhaupt ist der | |
Prozessführung von Matthias Schertz keine Richtung anzumerken, außer dem | |
notfalls mit autoritärer Geste durchgesetzten Wunsch, das Verfahren zu | |
einem Ende zu bringen. | |
Wie kommt ein Anwalt mit linker Vergangenheit – Elfferding hat einst den | |
RAF-Terroristen Johannes Weinrich verteidigt – dazu, einen Raser zu | |
verteidigen? Der 71-Jährige mit den grauen schulterlangen Haaren und einem | |
Rauschebart ist an Prozesstagen mit einem Espresso vor dem Café gegenüber | |
vom Gericht anzutreffen, er raucht. Sein jüngerer Kollege Boß habe ihn | |
damals gebeten, mit einzusteigen, erzählt er. „Bis dahin kam man mit | |
höchstens 400 Euro Geldstrafe und maximal fünf Jahren davon, und nun sollte | |
das plötzlich Mord sein. Das kam mir ungerecht und unverhältnismäßig vor.“ | |
Bei Marvin N. sieht sein Verteidiger keinen Tötungsvorsatz, auch keinen | |
bedingten. Circa 90 Meter vor der Unfallkreuzung hätte der technische | |
Sachverständige den „point of no return“ ausgemacht, sagt Elfferding vor | |
Gericht. N. hätte Gas gegeben, weil Bremsen nicht mehr geholfen hätte und | |
er glaubte, es noch über die Ampel zu schaffen. „Er hat sich geirrt.“ Ein | |
Irrtum, kein Vorsatz, so Elfferding. Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung | |
für Marvin N. weist er zurück. Hamdi. H. war es, der mit dem Jeep | |
kollidierte. Eine Mittäterschaft gebe es juristisch gesehen dabei nicht. | |
Nach einer Pause plädiert sein Kollege Enrico Boß. N. habe sich wegen | |
strafbarer Körperverletzung schuldig gemacht – seine Beifahrerin Olesya K., | |
die als Nebenklägerin auftritt, erlitt verschiedene Verletzungen, als H.’s | |
Audi in N.’s Mercedes krachte – sowie der Gefährdung des Straßenverkehrs. | |
„Die lebenslange Haftstrafe passt hier nicht“, sagt Boß. „Raser auf eine | |
Stufe mit Mördern zu stellen schießt über das Ziel hinaus.“ | |
N.’s Verteidiger beantragen die Aufhebung der Untersuchungshaft. | |
Die Plädoyers sind beendet, die Angeklagten habe das letzte Wort. Zum | |
ersten Mal hört man sie selbst sprechen. „Ich wollte gern, was geschehen | |
ist, ungeschehen machen“, sagt Hamdi H. „Ich weiß, man kann das nicht | |
gutreden.“ | |
Marvin N. betont, dass seine Einlassung von ihm stammt. „Ich möchte mich | |
persönlich bei dem Sohn des Getöteten und meiner Beifahrerin entschuldigen. | |
Ich bereue zutiefst.“ | |
Die persönliche Entschuldigung der beiden geht ins Leere. Maximilian | |
Warshitsky ist nach der Pause nicht in den Gerichtssaal zurückgekehrt. | |
25 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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