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# taz.de -- Kontroverse über Homöopathie: Das weiße Nichts
> Für die Wirksamkeit von Globuli gibt es keine ernsthaften Belege. Warum
> kommt das bei den Anhänger*innen der Homöopathie nicht an?
Bild: Globuli: Jeder kennt jemanden, der auf die Zuckerkügelchen schwört
Heidelberg/Köthen/Mainz/Velen taz | An der Universität Mainz soll eine
Ärztin einen Vortrag halten. Philosophicum, Hörsaal P2, Mittwoch, 14.
November 2018, 19 Uhr. Das Thema: „Die [1][Alternativmedizin] – wirklich
eine Alternative?“ Normalerweise nimmt außerhalb der Hochschule kaum jemand
Notiz von solchen Veranstaltungen. Bei dieser bricht Empörung aus, als habe
die Uni den Antichristen für einen Ehrendoktor in Theologie nominiert.
Als Ulrike Fröhlich erfährt, wer da in Mainz sprechen soll, setzt sie einen
Protestbrief an den Rektor der Universität auf. Fröhlich ist Vorsitzende
der Hahnemann-Gesellschaft, einem Zusammenschluss homöopathischer
Mediziner. Sie schickt ihren Brief an Zeitungen. Sie will, dass der Vortrag
abgesagt wird. „Ich werde es nicht widerspruchslos hinnehmen“, schreibt
Fröhlich, „dass unsere wissenschaftliche Kultur derart beschädigt wird“.
Die Referentin des Abends, Natalie Grams, ist [2][eine Reizfigur für die
Anhänger der Homöopathie]. Sie gehörte selbst lange zu ihnen. Heute sieht
sie die Homöopathie kritisch. Fröhlich nennt Grams in ihrem Brief eine
„selbsternannte ‚Sachkundige‘“, durch deren „einseitigen Lobby-Vortra…
Studierende „unsachgemäß informiert“ würden. Einen Tag vor dem Vortrag
kündigt Ulrike Fröhlich an, die Uni Mainz zu besuchen. Sie habe etwa 35
Kollegen gebeten, ebenfalls zu kommen. Auch Patienten habe sie
angeschrieben, sagt sie einem Fachportal für Apotheker.
Ein paar Stunden vor der Veranstaltung ist auf Twitter von einem
Skandalvortrag die Rede. Ein Blogger, der mit Ulrike Fröhlichs
Hahnemann-Gesellschaft gut vernetzt ist, ruft die Veranstalter dazu auf,
dafür zu sorgen, dass es zu „keinen gewalttätigen Ausschreitungen“ gegen
die Homöopathen komme. Ein paar Tage zuvor hatte er [3][Kritik an der
Homöopathie] mit der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ verglichen. Kurz
vor dem Vortrag patrouillieren zwei Polizisten auf dem Flur des
Philosophicums, einem Funktionsbau mit überfüllten schwarzen Brettern.
## Homöopathie ist im Gesundheitssystem verankert
Warum ist die Stimmung nur so aufgeheizt, wenn es um die Homöopathie geht?
Die Homöopathie ist eines der beliebtesten alternativen Therapieverfahren
in Deutschland. Gut die Hälfte der Deutschen soll laut der Umfrage eines
Herstellers bereits homöopathische Mittel genutzt haben. In jedem
Bekanntenkreis findet sich jemand, der auf die kleinen Zuckerkügelchen
schwört, die Globuli.
Und auf den ersten Blick wirkt das Ganze ja seriös. Die Homöopathie ist im
Gesundheitssystem verankert. Homöopathische Mittel sind apothekenpflichtig,
sie haben Beipackzettel über Risiken und Nebenwirkungen. Manche
Krankenkassen zahlen für die Therapie. Und Ärztinnen wie Ulrike Fröhlich
führen offiziell die Zusatzqualifikation als Homöopathin wie andere die als
Proktologe. Wenn die Homöopathie ein Irrtum ist, warum sollte die
Proktologie dann wahr sein?
Schaut man genauer hin, bekommt man schnell den Eindruck, in einer
Trollfabrik gelandet zu sein. Es wird gekämpft und gehasst, oft persönlich,
gern bizarr. Als das ZDF im Januar eine Dokumentation über die Heilmethode
ausstrahlte, rief Ulrike Fröhlichs Hahnemann-Gesellschaft dazu auf,
massenhaft bei dem Sender anzurufen – inklusive Argumentationsvorlage: „Der
Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit ist in diesem Zusammenhang nicht
wichtig“, steht in der Rundmail. „Diese Aktion dient nicht der inhaltlichen
Auseinandersetzung.“
## „Glauben Sie etwa, dass wir alle dumm sind?“
In letzter Zeit ist viel vom Postfaktischen die Rede, davon, dass gefühlte
Wahrheiten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wichtiger werden
als echte und die Debatten immer unversöhnlicher. Im Kampf um die
Homöopathie lässt sich vieles davon beobachten.
Es sind noch gut sechs Stunden bis zu ihrem Vortrag im Mainzer Hörsaal P2.
Natalie Grams ist noch in Heidelberg, sie schaut auf ihr Handy, auf die
Twitter-Aufregung, die Proteste. Sie ist das gewohnt, im Netz wurde schon
ihre Doktorarbeit durchleuchtet und spekuliert, dass Grams als verdeckte
Lobbyistin der Pharmaindustrie arbeite. „Aber kalt lässt mich das überhaupt
nicht“, sagt sie. Nach einem Vortrag in Linz habe sich einmal ein Arzt, ein
stattlicher Mann, vor ihr aufgebaut und sie in bedrohlichem Ton gefragt:
„Glauben Sie etwa, dass wir alle dumm sind?“
Grams steht in Heidelberg in ihrer ehemaligen Praxis, ein Eckhaus gegenüber
einer Grundschule. Früher war hier ein Nähladen, Grams nahm einen Kredit
auf, riss den Linoleumboden heraus und verlegte helles Laminat. Inzwischen
arbeiten hier zwei Physiotherapeuten, sonst hat sich wenig geändert.
An den Wänden hängen die Bilder, die Grams angebracht hat, langformatige
Fotos: eine Möwe, eine Rose, eine Schlossmauer – symbolisch für die
tierischen, pflanzlichen und mineralischen Ausgangsstoffe, die die
Homöopathie klassischerweise verwendet. 500 homöopathische Mittel verwahrte
sie in dem großen Medizinschrank im Sprechzimmer. Drei Jahre hat Grams hier
als Privatärztin praktiziert. Bis ihr Zweifel kamen.
## Zweifel einer Privatärztin
Die begannen, als sie ein Buch in den Händen hielt: „Die Homöopathie-Lüge�…
Grams reagierte so wie die, die sich heute über ihre Vorträge und Bücher
aufregen. Sie schrieb eine empörte Kundenrezension bei Amazon. Wer erlebt
habe, wie die Homöopathie Leben verändere, schrieb sie, der könne unmöglich
so ein Buch verfassen.
Unter dem Post entspann sich eine Diskussion, und Grams ließ sich darauf
ein. Woher willst du wissen, dass es die Homöopathie war?, fragte jemand.
Grams verstand die Frage nicht. Sie ging ihre Patientenakten durch, die
vielen Erfolgsgeschichten, die sie darin zu finden meinte. Da war die
Alkoholikerin, die fast jede Woche bei ihr in der Praxis saß, die
irgendwann trocken wurde und wieder einen Job fand. Ist das nicht
eindeutig?
Kann es nicht auch die Zuwendung gewesen sein?, hielt jemand dagegen. Das
Gespräch? Oder der Verlauf der Zeit? Warum soll es ein Medikament gewesen
sein, das so stark verdünnt ist, dass kein Wirkstoff mehr in ihm
nachzuweisen ist? „Die haben immer weiter nachgefragt“, sagt Grams. „Und
ich bekam sie einfach nicht überzeugt.“ Sie nahm sich vor, selbst ein Buch
zu schreiben, das alle Zweifel ausräumen sollte. Die Homöopathie-Wahrheit.
## Menschen glauben ihren Erinnerungen
Eines Tages saß eine Brustkrebspatientin auf der anderen Seite von Grams
Schreibtisch, vor dem Bild mit der Schlossmauer. Die Frau hatte panische
Angst vor einer Operation, sie bettelte um ein homöopathisches Mittel gegen
den Tumor. Wie könnte ich das verantworten, in so einem gravierenden Fall,
wenn ich nicht 100-prozentig sicher sein kann, dass die Homöopathie hilft?,
dachte Grams. So erzählt sie es heute. Sie könne die Globuli ja ergänzend
zur Operation nehmen, antwortete sie ihrer Patientin. Den Krebs wollte die
Frau später von einem Wunderheiler behandeln lassen.
Grams las, eher zufällig, Bücher aus der Psychologie, die sich mit
Denkfehlern beschäftigen. Zum Beispiel von Daniel Kahneman, einem
Nobelpreisträger, der in unzähligen Experimenten zeigte, dass wir im Alltag
laufend falsch wahrnehmen und urteilen. Kahneman schreibt, dass wir eher
das für wahr halten, woran wir uns schnell erinnern, was in unserem Kopf
ohne große Mühe verfügbar ist.
Unsere eigenen Erfahrungen, schreibt Kahneman, fühlen sich wahrer an als
die anderer, von denen uns berichtet wird. Über Homöopathie schreibt
Kahneman nicht ausdrücklich, aber man kann seine Überlegungen problemlos
übertragen. Wenn wir am eigenen Leib zu erleben meinen, wie eine Medizin
wirkt, überzeugt uns das eher als eine Studie.
Ein Arzt, der mit Homöopathie behandelt, erinnert sich leichter an die
Patienten, die immer wieder in die Praxis kommen, die Zufriedenen. Die
Unzufriedenen, die nach ein, zwei Besuchen wegbleiben, vergisst er. Der
Erfolg fühlt sich wahrer an als der Misserfolg.
## Fachjournale und Forschungsgesellschaften
Grams erzählt, dass einmal ein japanisches Paar zu ihr kam, das verzweifelt
nach einem Mittel gegen die Neurodermitis ihres Säuglings suchte. Sie
hatten schon mehrere Homöopathen konsultiert. Auf einem karierten
DIN-A4-Blatt hatte der Vater in winziger Schrift in jeder Kästchenreihe
notiert, mit welchen Globuli sie es versucht hatten. Alle vergebens.
Wenn die Homöopathie so wirksam ist, fragte sich Grams, wieso konnte keiner
ihrer Kollegen helfen? Und wieso sollte sie es können? Beruhte ihr Glaube
an die Homöopathie vielleicht auf den Denkfehlern, die Kahneman beschrieb?
„Jeden Patienten, der wegbleibt, macht man sich zum Vorwurf“, sagt sie.
„Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass ihnen die Homöopathie vielleicht
einfach gar nicht geholfen hat.“
Die Homöopathie hat sich im Laufe der Zeit zu einem Gedankengebäude
aufgetürmt, mit Fachjournalen, Forschungsgesellschaften und Tagungen, die
über die Lehre wachen. Die Zufälle und Fehlschlüsse, mit denen sie begann,
sind nur noch schwer zu erkennen.
## „Hahnemanns Reiseapotheke“
Köthen in Sachsen-Anhalt. In der Wallstraße schließt Liane Just ein grün
gestrichenes Haus auf, das heute ein kleines Museum ist. Sie will die
Ärztinnen und Ärzte, die nach einem Homöopathie-Kongress noch Lust auf eine
Stadtführung hatten, an den Ursprung ihrer Überzeugungen führen: dem Haus,
in dem Samuel Hahnemann von 1821 bis 1835 lebte. Drei Kongress-tage liegen
hinter den Ärzten, mit Referaten über die Tropfenverdunstungsmethode und
die Polaritätsanalyse.
Just steigt über die rote Kordel, hinter der ein Schreibtisch, ein schwerer
Sessel und andere Originalmöbel stehen. Sie nimmt einen Kasten aus
poliertem Holz aus dem Bücherregal und öffnet ihn, darin stecken mehr als
900 Fläschchen mit Globuli, mit Korkdeckeln verschlossen. „Hahnemanns
Reiseapotheke“, erklärt sie. „Noch im Original befüllt.“ Die Ärzte sch…
Fotos.
Als Samuel Hahnemann vor 200 Jahren die Homöopathie erfand, war die Medizin
in einem erbärmlichen Zustand. Die Ärzte griffen, der Tradition folgend, zu
drastischen Kuren, verabreichten Brechmittel und zapften ihren Patientinnen
Blut in großen Mengen ab, damit die Krankheiten abflössen. Wer überlebte,
den hatte man wohl geheilt.
Hahnemann durchschaute bemerkenswert früh, dass sich seine Kollegen über
ihre Erfolge täuschten. Zeitweise gab er seine Praxis auf, auch aus
Skrupel. „Auf diese Art ein Mörder oder Verschlimmerer des Lebens meiner
Menschenbrüder zu werden“, schrieb er 1808 in einem Brief, „war mir der
fürchterlichste Gedanke“.
## Die Geburtstunde der Homöopathie
Über Wasser hielt Hahnemann sich mit dem Übersetzen von medizinischer
Literatur. Dabei stieß er um 1790 auf eine eigentümliche Erklärung für die
Wirksamkeit der Chinarinde gegen Malaria. Die bittere Pflanze stärke den
Magen, und der Zustand des Magens strahle auf den ganzen Körper aus. Reine
Spekulation, wie so vieles damals. Hahnemann überzeugte es nicht. Also
schluckte er selbst Chinarinde, täglich vier Quäntchen. Plötzlich fühlte er
sich matt, das Herz raste, der Puls pochte – als habe er sich mit Malaria
infiziert. Der Versuch gilt manchen als Geburtsstunde der Homöopathie und
anderen als ihr erster Irrtum.
Chinarinde hilft zwar gegen die Krankheit, aber sie löst bei Gesunden keine
Malaria-Symptome aus; vielleicht war Hahnemann bloß allergisch. Doch für
ihn muss es eine Erleuchtung gewesen sein, so perfekt schien alles
zusammenzupassen. Er formulierte den Grundgedanken seiner Lehre: Man müsse
ein Leiden mit einem Mittel behandeln, das die Symptome normalerweise
auslöst.
Das war ebenfalls spekulativ, und so richtig schien die Behandlung bei
Hahnemanns Patienten nicht anzuschlagen. Also begann er mit der Dosis zu
experimentieren und verringerte schließlich die Gaben – zunächst aus purer
Vorsicht. Mit der Zeit meinte er aber festzustellen, dass die Mittel sogar
umso besser wirkten, je stärker er sie verdünnte. Mitunter war der
Wirkstoff in Hahnemanns Arzneien gar nicht mehr nachweisbar. Hahnemann
theoretisierte später, dass er durch geistartige Kräfte wohl auf das Wasser
übergegangen sein müsse.
## Heilsam nur im Verhältnis
Gut möglich, dass die Homöopathie eine Schrulle der Medizingeschichte
geblieben wäre – wäre nicht 1831 in Europa die Cholera ausgebrochen.
Hahnemann verfasste vier Aufsätze über die Behandlung der Krankheit. Und
seine Methode hatte Erfolg – scheinbar. Ein Arzt in Raab in Oberösterreich
behandelte nach Hahnemanns Vorgaben 154 Patienten, 148 überlebten. Im
örtlichen Krankenhaus starben von 284 Cholerakranken 122. Ein Homöopath aus
Brünn in Mähren behandelte 631 Patienten, nur 31 verstarben. Bei einem
Lemberger Homöopathen überstanden 26 von 27 Patienten die Krankheit.
Hahnemann, beflügelt von den Berichten, schrieb am 7. November 1831 in
Köthen einen offenen Brief an den preußischen König. „Erkenne aus den
fürchterlichen Sterbelisten, dass deine Ärzte vielleicht mancherlei können,
nur heilen nicht.“ Der vermeintliche Erfolg der Homöopathie dürfte einen
simplen Grund haben: Sie hatte die geschwächten Patienten schlicht vor den
brutalen Behandlungsmethoden der anderen Ärzte bewahrt.
Heilsam erschien die Alternativmedizin nur, weil die Standardbehandlung mit
Aderlass, Abführmitteln und Brechkur so gesundheitsschädlich war. So
scharfsichtig Hahnemann die Irrtümer seiner Kollegen durchschaute, so blind
blieb er bei seinen eigenen.
Dabei misstrauten schon Hahnemanns Zeitgenossen der neuen Lehre. Im Februar
1835 folgten 117 Interessierte in Nürnberg einem Zeitungsaufruf und
versammelten sich zu einem Experiment im Gasthaus „Zum rothen Hahn“. Zwei
Apothekergehilfen bereiteten Gläser vor. In die eine Hälfte gossen sie
destilliertes Schneewasser, in die andere homöopathisch verdünnte
Kochsalzlösung. Die Gläser wurden den Versuchsteilnehmern gereicht, niemand
wusste, ob er das homöopathische Mittel oder Wasser trinkt.
## Studien widerlegen Wirksamkeit
Gewöhnliches Kochsalz, hatte Hahnemann geschrieben, verwandle sich in der
Homöopathie zu einer „heroischen und gewaltigen Arznei, die man nach dieser
Zubereitung Kranken nur mit großer Behutsamkeit reichen darf“. Wäre das so,
hätte in der Gruppe der Nürnberger Versuchsteilnehmer, die das verdünnte
Salz schluckten, Spektakuläres passieren müssen, zumindest aber irgendwas,
was sich in der anderen Gruppe nicht beobachten ließ.
Etwa einen Monat später kamen die Versuchsteilnehmer wieder ins Gasthaus.
Ein Mann, der, wie sich herausstellte, das homöopathische Mittel geschluckt
hatte, berichtet von einem „Kollern im Unterleibe“ eine Stunde nach der
Einnahme. Ein anderer, der allerdings das Schneewasser getrunken hatte,
meinte, eine „ungewöhnliche Regung des Geschlechtstriebes“ wahrgenommen zu
haben. 42 der 55 Teilnehmer merkten dagegen: nichts. Egal, was sie
eingenommen hatten.
Seither wurden nach diesem Muster viele Studien gemacht: Patientinnen
werden per Zufall in zwei Gruppen geteilt, die eine bekommt ein
Scheinpräparat, die andere die Arznei. Weder die Versuchsteilnehmer noch
diejenigen, die das Mittel aushändigen, wissen, wer was schluckt. So
versucht die Wissenschaft alles zu vermeiden, was das Ergebnis in eine
bestimmte Richtung lenken könnte.
## Globuli wirken nicht besser als ein Placebo
Medikamente müssen normalerweise diesen Test bestehen, um zugelassen zu
werden. Die Homöopathie muss das nicht, das Arzneimittelrecht in
Deutschland befreit sie von der Pflicht, ihre Wirksamkeit nachzuweisen. Und
überprüft man sie in solchen aufwendigen Versuchen, kommt in der Regel wie
schon 1835 in Nürnberg heraus: Es gibt keinen nennenswerten Unterschied
zwischen beiden Gruppen, Globuli wirken nicht besser als ein Placebo.
Nicole Sagorski sagt, die Homöopathie habe sie fast umgebracht. Die
42-Jährige sitzt in einem Café in Velen, einer Kleinstadt im Münsterland.
Es begann mit Regelblutungen, die nicht mehr aufhören wollten. Sagorski,
damals Mitte 30 und Rettungsassistentin im Schichtdienst, behalf sich mit
Binden, zwei übereinander.
Die Gynäkologin reagierte eigenartig schroff, als Sagorski nach drei
Monaten schließlich im Behandlungsstuhl saß. Sie solle sich sofort wieder
anziehen, es sei doch ekelig, blutend zur Untersuchung zu kommen. Die
Ärztin sprach, so berichtet es Sagorski, von einer stressbedingten
Zyklusstörung und schrieb ein Mittel auf, Agnus Castus D2. „Ohne mich
überhaupt untersucht zu haben.“
## Der Krebs hatte schon gestreut
Von der Apothekerin hörte Sagorski damals zum ersten Mal das Wort Globuli.
Eine sanfte Medizin, erklärte die, ohne Nebenwirkungen. Wichtig sei nur,
die Kügelchen immer in ungerader Anzahl zu nehmen. Zwei Monate lang
schluckte Sagorski fünf Globuli, jeweils morgens, mittags und abends vor
dem Essen. Ohne Besserung. Als sie wieder bei ihrer Gynäkologin war,
erklärte die, dass das Präparat ja nur unterstützend wirken könne. Ihren
stressigen Lebenswandel müsse sie schon selbst ändern.
Sagorski versuchte, den Stress zu bekämpfen, den sie gar nicht empfand. Sie
ging länger mit dem Hund spazieren, eine Stunde statt 20 Minuten, die
Waldroute statt die durch den Park. Sie sagte ihrem Badminton-Trainer, sie
würde in nächster Zeit erst einmal nicht mehr kommen, um weniger
Termindruck zu haben. „Ich habe mich wirklich an jeden Strohhalm
geklammert.“ Die Blutung blieb.
Schließlich machte Sagorski einen Termin bei einem anderen Frauenarzt aus.
Der stellte endlich die richtige Diagnose: Gebärmutterhalskrebs. Im
Frühstadium ist die Krankheit gut behandelbar, aber nun, nach fast einem
Jahr, hatte der Krebs gestreut, der Arzt riet zu einer
Gebärmutterentfernung. Sagorski sagt, sie hätte gerne Kinder bekommen. „Das
werfe ich der Ärztin heute noch vor.“ Die Homöopathie hat keine schlimme
Behandlung verhindert wie bei den Patienten im 19. Jahrhundert. Aber
Sagorksi hätte wegen ihr die bessere des 21. Jahrhunderts beinah verpasst.
## Mehr als nur eine Kritik
Eine Studie der Universität Yale aus dem Jahr 2017 zeigt, wie
lebensbedrohlich es werden kann, sich in schweren Fällen auf eine Therapie
zu verlassen, die auf Illusionen beruht. Ein Team um den Radiologen Skyler
Johnson verglich 281 Krebspatienten, die sich nach Methoden der
Alternativmedizin wie der Homöopathie behandeln ließen, mit 560 Kranken,
die eine konventionelle Therapie bekamen.
Ein Viertel der Krebspatienten mit konventioneller Therapie war nach sieben
Jahren verstorben. Von den Patienten, die auf die Alternativmedizin
setzten, war die Hälfte tot. Und die, die überlebten? Man kann es sich gut
vorstellen: Wahrscheinlich schwärmen sie nun umso begeisterter von der
Alternativmedizin, mit der sie die Krankheit gegen jeden Rat der
Schulmedizin überstanden zu haben glauben.
Es sind noch viereinhalb Stunden bis zum Auftritt in Mainz. Irgendwie, sagt
Natalie Grams, kann sie die Wut verstehen, die ihr Vortrag auslöst. Wer die
Homöopathie kritisiert, kritisiert nicht nur ein Verfahren. Er greift die
Identität derer an, die an sie glauben. Sie kennt das Gefühl. „Ich dachte
ja auch, ich mache meine Praxis bis ich 90 bin“, sagt sie. „Das war mein
Leben.“ Und plötzlich war da der Verdacht, ihren Patienten oft gar nicht
geholfen, ihnen vielleicht sogar geschadet zu haben.
## „Als hätte mir jemand die Drogen genommen“
Natalie Grams rettete sich vor den Zweifeln in die Babypause. Eine Weile
überlegte sie, mit einer Art ehrlichen Homöopathie zurückzukehren, mit dem
Eingeständnis, dass die Kügelchen nicht wirken, allenfalls als Placebo.
Dass es nur das Gespräch ist, das den Patienten gut tut. Aber
Gesprächstherapien gibt es schon. Warum sollte sie so etwas unter dem Titel
Homöopathie anbieten? Grams sagt, sie sei wie durch einen kalten Entzug
gegangen. „Als hätte mir plötzlich jemand die Drogen weggenommen. Ich
musste neu denken lernen.“
Die Kommentare, die sie bei Amazon verfasst hatte, löschte sie. Das eigene
Buch, mit dem sie alle Kritik ausräumen wollte, wurde ein kritisches. Kurz
bevor der Verlag es in den Druck gab, änderte Grams den Klappentext. „Die
Ärztin Dr. med. Natalie Grams, Jahrgang 1978, führt eine erfolgreiche
homöopathische Privatpraxis in Heidelberg“ – sollte da stehen. Sie rief den
Lektor an, gab die letzte Änderung durch: Es sollte „führte“ heißen.
Am 7. Mai 2015 schickte Grams eine Rundmail an ihre Patienten: „Ich habe
meine Praxis aufgegeben, da mich die Arbeit an meinem Buch davon überzeugt
hat, dass ich die Homöopathie leider, leider nicht länger guten Gewissens
als Arzneitherapie anwenden kann.“ Einige fragten, ob Grams einen anderen
Homöopathen empfehlen könne. Manche wechselten von da an die Straßenseite,
wenn sie Grams in der Stadt sahen.
## Verdünnung macht nicht stärker
Hörsaal P2, elf Sitzreihen, 128 ausklappbare Bänke, belegt bis auf den
letzten Platz. Ulrike Fröhlich, die Homöopathin, die den Protestbrief
geschrieben hat, sitzt in der viertletzten Reihe am Rand. Sie winkt anderen
zu, demonstrativ, ruft ein Hallo durch den Raum. Eine Frau in der Reihe vor
ihr dreht sich zu Fröhlich um. „So voll“, sagt sie, „woran das wohl lieg…
Konspiratives Lächeln.
Unten vor der Tafel erklärt Natalie Grams, dass sie mit ihrem Vortrag
hoffe, in einen Dialog zu kommen. Sie sagt, dass man sich nicht auf den
persönlichen Eindruck als Arzt oder Patientin verlassen dürfe. Dass man
sich, so klug und gebildet man auch sei, ständig täusche. Dass man die
Wissenschaft brauche, um nicht in die Falle zu tappen. „Wir sind in vieler
Weise beeinflussbar.“
Oben in der viertletzten Bank macht Ulrike Fröhlich Fotos von den Folien,
die Grams mit dem Beamer an die Wand wirft. „Gott, ist das falsch“, sagt
sie. Grams sagt, dass Verdünnung Medikamente nicht stärker machen kann.
„Was nicht da ist, kann nicht wirken.“ Ein Zwischenruf: „Schon mal
verlassen worden?“ Schweigen. Dann Grölen. Einen Augenblick lang sieht es
aus, als ringe Grams vor dem vollen Hörsaal um Fassung. Die ersten
klatschen. „Wenn ich jetzt ja sage“, antwortet Grams, „ist die Homöopath…
dann wirksam?“
## Schlagabtausch im Hörsaal
Es meldet sich eine Patientin. „Ich meine, meine chronischen Leiden
losgeworden zu sein und bin damit glücklich“, sagt sie. „Und ich habe
meiner Versichertengemeinschaft damit zigtausend Euro erspart, weil ich
seit 15 Jahren diesen Weg konsequent gehe.“ Grams sagt, das möge in diesem
Fall stimmen, es gebe aber eine große Studie der Techniker Krankenkasse,
die besagt, dass Patienten, die sich homöopathisch behandeln lassen, höhere
Kosten verursachen. „Der Kostenfaktor macht bei mir wirklich einen
erheblichen Unterschied“, sagt die Frau.
„Es gibt Daten“, sagt Grams, jetzt etwas energischer. „Da können Sie nic…
einfach Ihre Geschichte daneben stellen.“ „Aber meine ist genauso“, ruft
einer in der Reihe dahinter. „Dann sind es zwei Geschichten, die gegen eine
Studie mit 45.000 Patienten stehen.“ Eine Rheumapatientin nimmt das
Mikrofon, schwärmt von der Alternativmedizin.
„Es hat mir geholfen, egal ob es jetzt Einbildung war oder nicht.“ Grams
versucht es freundlich: „Sie wissen, dass eigentlich mein ganzer Vortrag
davon gehandelt hat, dass die einzelne Erfahrung für Sie persönlich
unendlich wertvoll ist, aber nicht geeignet ist zur Beurteilung der
Wirksamkeit eines Präparates.“ „So wie die Einzelerfahrung einer Ärztin,
die die Homöopathie meidet“, ruft ein Mann.
## Vorwurf der fehlenden Erfahrungen
Ulrike Fröhlich bekommt das Mikrofon. „Frau Dr. Grams“, sagt sie, sie
betont den Titel, „ich habe mich erkundigt, wo Sie Ihre
Homöopathie-Ausbildung gemacht haben. Von 2009 bis 2011 waren Sie als
Praktikantin und dann als Assistentin unter Aufsicht eines erfahrenen
homöopathischen Kollegen in der Nähe von Heidelberg aktiv. In dieser Zeit
hatten Sie Ihr kleines Kind zu betreuen und konnten zwei bis maximal vier
Stunden in der Praxis zubringen.“ Manche werden unruhig.
„Und was hat das mit der Homöopathie zu tun?“, fragt Grams. „Sie haben
keine klinische Erfahrung“, sagt Fröhlich. „Natalie Grams“, sagt sie laut
und deutlich, wie ein vernichtendes Urteil, „ist eine homöopathische
Anfängerin“.
Später, vor dem Hörsaal, umringt von ihren Mitstreitern, sagt Fröhlich,
wenn man sie fragt, man könne in der Homöopathie vielleicht nach fünf
Jahren mitreden, nach 15 sei man wirklich erfahren. Wenn ein Homöopath dann
Zweifel äußere, würde sie sich die selbstverständlich offen anhören. Dass
die Zweifel spät kamen, aber früh genug, sagt Natalie Grams, das sei ihr
Glück gewesen. Hätte sie noch 15 Jahre weitergemacht, sie hätte einen
Vortrag wie diesen heute Abend wohl nie gehalten.
Bernd Kramer, 35, ist freier Journalist. Diese Recherche war für ihn eine
der ungewöhnlicheren. Eine Homöopathie-Website warnte vor ihm und ließ über
ihn als „Anti-Homöopathie-Pinocchio des Monats“ abstimmen. Gewählt wurde
statt ihm aber Natalie Grams.
5 Mar 2019
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