Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Twitter-Hilfe für Arme: Die digitalen Sozialrebellen
> Kein Geld für eine neue Waschmaschine oder Urlaub? Wo der Sozialstaat
> versagt, versucht eine Initiative, armen Menschen zu helfen – per
> Twitter.
Bild: Eine Gehhilfe für mehr soziale Teilhabe: vom Staat zur Verfügung gestel…
Seit einem halben Jahr kommt Jörg Mertens kaum noch aus dem Bett. „Mir
fehlen die Gehwerkzeuge. Die muss ich vom Amt einklagen. Bis dahin kann
ich nur liegen.“ Der 56-Jährige ist seit 2015 schwerbehindert. Früher hatte
Mertens einen gut bezahlten Job. „Ich war im öffentlichen Dienst.
Entgeltgruppe E10. Nach 37 Jahren Arbeit und Alleinerziehung bin ich krank
geworden. Jetzt liege ich hier mit [1][Erwerbsminderungsrente] und
Grundsicherung. Erst ging mein Handy kaputt, dann hat es den Computer
erwischt. Ich hatte kein Geld, nicht mal für gebrauchte Geräte. Zu
Weihnachten konnte ich mir Knäckebrot leisten. Bitter.“ Als sein Computer
noch funktionierte, schrieb Mertens einen Tweet, eine Nachricht im sozialen
Netzwerk Twitter. „Das war Anfang Dezember. Ich war ziemlich frustriert.“
Auf Tweets reagieren viele Nutzer*innen mit Unmut, Shitstorms, sogar Hass
und Hetze. Mertens allerdings bekam auf seinen Frust eine andere
Rückmeldung. „Ein Account hat mir geschrieben und gefragt, was los sei.
Tja, und dann hab ich erzählt.“
Der Account, der sich bei Mertens meldete, heißt [2][„EineSorgeWeniger“].
Der Mensch dahinter war Konstantin Seefeldt. Er hatte den Account gerade
erst eröffnet: Als Reaktion auf den Aufruf #Unten der Wochenzeitung
Freitag, als Twitternde von Armut, Hunger und Demütigung erzählten.
„Anfangs ging es mir nur darum, die akute Not zu lindern“, sagt Seefeldt.
„Winterschuhe. Essen. Teilhabe.“
Bei der Gründung von SorgeWeniger Ende November hätte er damit gerechnet,
das vor allem allein zu stemmen, neben seinem Vollzeitjob in der
Software-Entwicklung. „Aber es kamen Spenden und Helfer, gleich in den
ersten Tagen.“ Menschen meldeten sich, das Netzwerk half und wuchs. Zu
Weihnachten war Jörg Mertens unter denen, die sich einen Braten bestellten,
dessen Bezahlung über SorgeWeniger lief. Inzwischen hat Mertens auch einen
funktionierenden Computer und ein Handy.
Es gibt Hilfen, aber kaum einer kennt sie
SorgeWeniger hilft Hartz-IV-Empfänger*innen, Rentner*innen mit
Erwerbsminderung oder Grundsicherung, Minijobbenden, Alleinerziehenden.
Menschen wie der 37-jährigen Sandra F. Ihr zwölfjähriger Sohn sitzt im
Rollstuhl, die Behinderung hat er von Geburt an. F. ist alleinerziehend und
arbeitet in einer Agentur. „Ich bin die Assistentin vom Chef, 30 Stunden
die Woche. Mehr geht nicht: Mein Sohn hat Pflegestufe 3.“ Weil sie ihren
Sohn selbst pflegt, bekommt F. Pflegegeld. „Wir kommen klar. Aber es darf
nichts Überraschendes passieren, was mehr kostet als 50 Euro.“
Waschmaschinen kosten mehr als 50 Euro. F.s Gerät ging kaputt, SorgeWeniger
half. Jetzt hat sie eine neue, energiesparende Waschmaschine und Beratung.
„Es gibt viele Sachen, die beim Amt oder bei der Krankenkasse beantragbar
sind, die einem nicht gesagt werden. SorgeWeniger vermittelt Menschen, die
sich auskennen.“
Etwa 80 Tage, knapp 7.000 Tweets und rund 3.000 Follower*innen nach der
Gründung geht es bei SorgeWeniger immer noch um kurzfristige Hilfe – aber
eben nicht nur. Ein Netzwerk im Netzwerk ist entstanden mit dem Ziel,
Lebenssituationen langfristig zu verbessern. Mit einem Kernteam aus
mittlerweile 39 Leuten arbeitet Seefeldt die Anfragen durch, telefoniert,
organisiert, tweetet. „Wir versuchen zu schauen, was hinter den Problemen
steckt“, sagt er.
„Wir wollen die Menschen ermutigen und ermächtigen. Damit sie ihre Rechte
kennen und die bestehenden Möglichkeiten ausschöpfen.“ Viele, denen
SorgeWeniger hilft, steigen mit ein. Auch Mertens gehört mittlerweile zum
Kernteam. „Finanziell kann ich nichts tun“, sagt er. „Aber ich stamme aus
der Sozialverwaltung: Ich tausche mit Leuten Erfahrungen aus zu
Widersprüchen und anderen Konflikten mit Sozialämtern.“
Sozialrebellen vernetzen sich online
SorgeWeniger nutzt Twitter für Schwarmintelligenz, Patenschaften und
Crowdfunding. Auch außerhalb vernetzt man sich: mit nichtstaatlichen
Sozialhilfeberatungen und Hilfsorganisationen wie dem Münchener
Heimatstern. Mit dem [3][Verein Computertruhe,] der ebenfalls auf Twitter
aktiv ist, besorgen Seefeldt und das Team gebrauchte Computer und
Smartphones. Auf Twitter besteht Austausch mit zahlreichen anderen
Accounts: Mit [4][„Sanktionsfrei“], der Menschen hilft, deren Leistungen
der Staat unter das Existenzminimum kürzt.
Oder mit dem Team von [5][„KeinerBleibtAllein“:] Die Initiative nutzt
soziale Medien, um Menschen zusammenzubringen, damit sie an Festtagen nicht
allein sind. „Einsamkeit ist ein krasses Problem“, sagt der Gründer
Christian Fein. „Vor allem Langzeitarbeitslose vereinsamen schnell. Wir
mussten schon oft den Notruf wählen, damit bei Leuten, die Suizidabsichten
geäußert haben, jemand vorbeigeschaut hat.“
Hier Geld für Essen, da ein neuer Herd, dort eine Geschenkpatenschaft fürs
Kind – die Arbeit von SorgeWeniger wird auch kritisiert. Der häufigste
Vorwurf: Die Initiative sei wie die Tafeln, denn sie zementiere ein
löchriges System. „Aber genau da setzen wir an“, sagt Seefeldt. Eigentlich
zementiere ja das System die Tafeln, nicht umgekehrt, weil die Politik
nichts dagegen tue, dass man sie brauche.
„Es geht eben nicht darum, das System dabei zu unterstützen, sich selbst
weiter abzubauen. Die Leute sollen alle noch vorhandenen Möglichkeiten
kennen, und wir übernehmen Sachen, wo es ein Loch gibt. Das machen wir
öffentlich, damit die Löcher sichtbar sind. Der Sozialstaat trägt
Verantwortung. Die Politik soll sich nicht mehr rausreden können.“
Protest gegen Agenda 2010
Er finde es wichtig, sich vor Augen zu halten, wie es früher war, sagt Jörg
Mertens. „Wenn einer Alleinerziehenden die Waschmaschine kaputtging, hat
keiner davon geredet, dass sie beim Jobcenter einen Kredit aufnehmen soll
und man ihr die Raten vom Existenzminimum abzieht. Sie hat einen Gutschein
bekommen.“ Sperren seien selten gewesen bis zur Agenda 2010 und ihren
Sanktionen. „Und die Miete und Geld für Essen, das hat man trotzdem
bekommen. Es war nie die Regel, zu sagen, du funktionierst nicht, du machst
nicht, was ich will, also kriegst du kein Geld. Das gab es nicht.“
Trotz des Zulaufs und der Vernetzung ist SorgeWeniger nach wie vor eine
kleinere Initiative. Aber das Ziel, Menschen am Existenzminimum über ihre
Rechte aufzuklären und so zu ermächtigen, sei ein Hebel, der an einer
großen Schwäche des aktuellen Sozialsystems ansetze, sagt [6][Inge
Hannemann]. Die 51-Jährige hat selbst lange im Jobcenter gearbeitet.
Als ehemaliges SPD-Mitglied – ausgetreten mit dem Eintritt der Agenda 2010
– zog sie 2015 für die Linke in die Hamburger Bürgerschaft ein. Das Mandat
hat sie inzwischen aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt: Sie engagiert
sich aber nach wie vor gegen die Agenda 2010. Auch Hannemann unterstützt
SorgeWeniger.
„Die Sozialgesetzbücher sind so kompliziert, dass da im Amt kaum noch wer
durchsteigt“, sagt Hannemann. „Die Fehlerquote ist sehr hoch.“ Seit
Einführung der Agenda 2010 wurden 40 Prozent der Klagen von Betroffenen
stattgegeben und gewonnen. Eine außerordentlich hohe Erfolgsquote. Trotzdem
klagen nur 5 Prozent. „Das liegt daran, dass so viele ihre Rechte nicht
kennen“, sagt sie.
Hartz IV Empfänger sollen mehr klagen
„Aber wenn sich das ändert, wenn die Leute informiert sind – wir haben das
mal durchgerechnet –, dann würden 10 Prozent klagen, wäre das
arbeitstechnisch für die Jobcenter nicht mehr zu schaffen.“ Eine Steigerung
von 5 Prozent auf 10: Mehr brauche es nicht. „Das System der Agenda 2010
würde zusammenbrechen.“ Die Ironie, sagt Seefeldt, sehe er darin, dass sich
das System vor allem selbst sabotiere durch seine eigene Bürokratie. Jeden
Durchlauferhitzer in einer Küche beispielsweise muss ein Leistungsbescheid
extra aufführen, mit ein paar Euro. „Im Grunde bricht es jetzt schon
zusammen“, sagt Seefeldt.“
An den Sozialgerichten [7][regnet es Versäumnisurteile], weil die Jobcenter
innerhalb der Frist nicht antworten. Die laufen schon am Limit.“ Als er den
SorgeWeniger-Account vor 80 Tagen einrichtete, hätte er von alldem nicht
geträumt. „Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Mit diesem
unkontrollierten Wachstum. Der Nachfrage und der Unterstützung. Das ging so
schnell, das hat mich echt überrascht. Es ist krass, was man gemeinsam
schaffen kann.“
Kürzlich hat SorgeWeniger für einen Urlaub in Dublin gesammelt: Dort wird
Sandra F. ein paar Tage verbringen, gemeinsam mit ihrem Sohn. Er hat eine
komplizierte Operation vor sich und noch nie das Meer gesehen. Seefeldt
arbeitet derweil weiter den Posteingang des Twitter-Kontos durch – und
daran, aus SorgeWeniger eine Stiftung zu machen. Die will er in den
Niederlanden gründen, denn er wohnt in Amsterdam. Ein Leitfaden sei auch in
Arbeit und ein leitendes Gremium geplant, dessen fünfköpfige Besetzung
regelmäßig wechselt.
Twitter werde SorgeWeniger auf jeden Fall weiterhin nutzen. „Auch wenn es
vereinzelt Missgunst gibt und einige meckern, die immer von sich auf andere
schließen: Es sind nur wenige“, sagt Seefeldt. „Die meisten freuen sich,
wenn anderen Gutes getan wird. Es ist echt schön, das zu erleben.“
13 Feb 2019
## LINKS
[1] /Bundestag-verabschiedet-Rentenpaket/!5546717
[2] https://twitter.com/sorgeweniger?lang=de
[3] https://computertruhe.de/
[4] https://sanktionsfrei.de/
[5] https://www.keinerbleibtallein.net/
[6] /Inge-Hannemann-ueber-Jobcenter-und-Sex/!5349268
[7] /Gesine-Schwan-ueber-Hartz-IV-und-die-SPD/!5568926
## AUTOREN
Anett Selle
## TAGS
Hartz IV
Twitter / X
Schwerpunkt Armut
SPD
SPD
Grundrente
Grundrente
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sanktionsfrei e.V. startet Modellprojekt: Unbreak my Hartz
Der Verein „Sanktionsfrei“ übernimmt drei Jahre lang für 250 Menschen
sämtliche Hartz-IV-Kürzungen. Den Effekt davon untersuchen
Arbeitspsychologen.
Politologin über den Zustand der Union: „Die SPD stellt die richtige Diagnos…
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch hält die Hartz-IV-Korrekturen der
SPD für stimmig. Nur sei die Partei dafür in der falschen Koalition.
Sozialstaatskonzept der SPD: Mehr als Geschichtsbewältigung
Die SPD will mal wieder „Hartz IV“ und die Agenda 2010 von Gerhard Schröder
hinter sich lassen. Doch reicht ihr Sozialstaatskonzept dafür?
Offene Fragen zur Grundrente: Die Heil’sche Unschärferelation
Ausgerechnet besonders arme Rentner könnten wegen der „harten Grenze“ von
35 Jahren Pflichtbeitragszeit bei der neuen Grundrente der SPD leer
ausgehen.
Grundrente in der Kritik: Nicht allen passt das Konzept
SPD-Arbeitsminister Heil will eine höhere Rente für Geringverdiener. Kritik
kommt nicht nur von der Union. Auch die Grünen zweifeln an der
Finanzierbarkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.