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# taz.de -- Sanktionsfrei e.V. startet Modellprojekt: Unbreak my Hartz
> Der Verein „Sanktionsfrei“ übernimmt drei Jahre lang für 250 Menschen
> sämtliche Hartz-IV-Kürzungen. Den Effekt davon untersuchen
> Arbeitspsychologen.
Bild: Die Auswirkungen der Hartz-IV-Sanktionspraxis sind kaum erforscht, das so…
Berlin taz | 30 Hartz-IV-Sanktionen in Höhe von 2.260 Euro hat
„Sanktionsfrei e. V.“ bereits seit Studienbeginn Anfang Februar
ausgeglichen. Drei Jahre lang übernimmt der gemeinnützige Verein mit Sitz
in Berlin für 250 Personen alle Kürzungen der Grundsicherung. [1][Mit dem
wissenschaftlich begleiteten Modellprojekt „HartzPlus“] will der Verein
beweisen, dass es ohne Bestrafung besser geht, und zahlt verhängte
Sanktionen des Hartz-IV-Satzes aus Spenden und Crowdfunding.
Bedingungsloses Hartz IV quasi.
„Wir möchten ausprobieren, was passiert, wenn Menschen sich vom
Sozialstaat nicht mehr bedroht und gegängelt fühlen, sondern angstfrei ein
Existenzminimum beziehen“, sagt Sanktionsfrei-Gründerin Helena Steinhaus.
Dafür gleiche man jede Kürzung des Regelsatzes sofort wieder aus – das
durch Spenden finanzierte Modellprojekt sei „quasi eine Versicherung gegen
Sanktionen“.
5.000 Menschen in Hartz IV hatten sich bundesweit als Probanden beworben,
die Teilnehmer*innen seien ausgelost worden. Aus den BewerberInnen wurde
eine Gruppe von 250 Unterstützten und eine ebenso große Kontrollgruppe von
Nichtunterstützten gebildet. Die „HartzPlus“-Studie führt der Verein
zusammen mit der Universität Wuppertal durch.
Jobcenter verhängen Sanktionen nach der Agenda-2010-Logik „Fördern und
Fordern“. Dazu gehören Strafen wegen eines ohne Absage verpassten Termins,
unerlaubten Verreisens oder der Verweigerung einer Maßnahme. Bei
abweichendem Verhalten dürfen Jobcenter-Mitarbeiter*innen erst ein Drittel,
bei wiederholten Verstößen gar zwei Drittel und schließlich den kompletten
Hartz-IV-Satz wegschrödern – obwohl dieser eigentlich als Existenzminimum
gilt.
## Bisher gibt es kaum Forschung dazu
Tatsächlich gibt es laut dem Forschungsteam der Studie in Deutschland noch
keine groß angelegte Forschung zu den Auswirkungen der
Hartz-IV-Sanktionspraxis. Publikationen zum Thema erschöpften sich zumeist
in ideologiekritischen Diskussionen und Meinungen, wie Rainer Wieland
sagt, der als Arbeitspsychologe in der Studie untersucht, wie es sich auf
die Befindlichkeit von Bezieher*innen auswirkt, wenn der Druck
herausgenommen wird. Mit dem Projekt will er eine solide Datenbasis
schaffen.
Die Hypothese des Forschungsdesigns: Sanktionen erzielen möglicherweise
die gegenteilige Wirkung von dem, was sie wollen. „Wenn Sie sanktioniert
werden, ist das eine bedrohliche Situation mit einer negativen Wirkung –
das Gefühl des Kontrollverlusts verstärkt sich“, so Wieland. Umgekehrt sei
zu überprüfen, ob Sanktionsfreiheit die Selbstwirksamkeit fördere – also
die Fähigkeit, Initiative zu ergreifen und seine Umwelt aktiv zu gestalten.
„Von Hartz-IVlern fordert man, dass sie sich selbst am Schopf aus dem Sumpf
ziehen. Niemand interessiert sich für die Frage, was die Verhältnisse mit
den Personen machen“, sagt Wieland. Innerhalb der drei Jahre sollen alle
Teilnehmenden in regelmäßigen Abständen befragt werden. Mit Fragen wie: Wie
sind Ihre inneren Zustände? Fühlen Sie sich energiegeladen und
leistungsbereit oder unwohl? Haben Sie das Gefühl, ihr Leben kontrollieren
zu können? Wie einflussreich sind Sie?
## Arbeitspsychologische Grundlagenforschung
„Die Selbstwirksamkeit ist ein Indikator für ‚in die Puschen kommen‘“,…
Wieland. Aus der Arbeitspsychologie und ähnlichen Befragungen in
Unternehmen wisse man bereits, dass Kontrollverlust einer der
Hauptstressfaktoren sei, Kontrollerleben hingegen positive Wirkung habe.
Diese Fragen nun auch für die Sanktionspraxis bei Hartz IV zu klären, sei
arbeitspsychologische Grundlagenforschung, so Wieland.
Helena Steinhaus, die Sanktionsfrei gründete, hält Kürzungen der
Grundsicherung für grundsätzlich falsch: „Ein strafender Staat, der Druck
ausübt, sorgt dafür, dass Bezieher unter Androhungen von Sanktionen in den
prekären Arbeitsmarkt rutschen.“
Angefangen, sich gegen Hartz IV einzusetzen, hat Steinhaus nach ihrem
Studium der Kulturwissenschaften. Beschäftigt hat sie das Thema allerdings
schon zuvor: „Meine Mutter hat eine Zeit lang Arbeitslosengeld II bezogen –
das war eine schwierige Situation: Wir mussten die Wohnung wechseln, sie
hat sehr drunter gelitten.“ Sie selbst habe damals nicht arbeiten dürfen,
weil ihr Job sonst auf den Regelsatz angerechnet worden wäre. „Ich durfte
nicht arbeiten, obwohl wir zu wenig Geld hatten“, erzählt sie. Auch nach
dem Studium habe sie kurzzeitig Hartz IV bezogen. „Ich habe das Stigma
gespürt und unangenehme Erfahrungen mit Sachbearbeitern gemacht“, sagt
Steinhaus.
## Hartzbreaker gegen Sanktionen
Schon länger setzt der Verein sogenannte Hartzbreaker gegen Sanktionen ein.
Das seien bisher 700 private Dauerspender, die Sanktionen durch Spenden
abmilderten. 462 Sanktionen in Höhe von 55.204 Euro habe der Verein in den
vergangenen drei Jahren ausgeglichen. Immer auch habe man die Betroffenen
anwaltlich unterstützt und mit ihnen zusammen Widerspruch gegen verhängte
Sanktionen eingelegt – 200 Fälle hat Sanktionsfrei nach eigenen Angaben
gewonnen und nur 11 verloren.
Die Bezieher*innen zahlten dann das gerichtliche erstrittene Sanktionsgeld
an den Verein zurück, sodass es – nach einem „Solidartopfprinzip“ – f�…
Sanktionen anderer zur Verfügung stehe.
Bereits jetzt seien ausgeloste Teilnehmer*innen laut Verein bezüglich
ihrer Teilnahme überraschend emotional: „Allein beim Gedanken daran, in
Zukunft ohne Angst den Briefkasten öffnen zu können, bekomme ich feuchte
Augen“, habe eine Sonja aus Mainz geschrieben. Ein Martin aus Düsseldorf
habe rückgemeldet: „Besonders meiner Mutter wird das ein paar schlaflose
Nächte ersparen, wenn sie weiß, dass ihr Sohn zumindest sein
Existenzminimum sicher hat.“
Als Ergebnis wünscht sich Steinhaus, „dass es den Menschen besser geht und
sie mehr Handlungsspielraum haben, sich ihre Situation zum Positiven
verändert.“ Viele hätten schon jetzt zurückgemeldet, dass es ihnen im
Wissen, dass sie sanktionsfrei seien, besser gehe und sie allgemein
motivierter seien – obwohl für die meisten noch keine Sanktion bezahlt
worden sei.
19 Mar 2019
## LINKS
[1] /Hartz-IV-und-Sanktionen/!5557178
## AUTOREN
Gareth Joswig
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Arbeitslosigkeit
Hartz IV
Sanktionen
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Robert Habeck
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bekommen. Der Verein Sanktionsfrei sucht Studienteilnehmer.
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