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# taz.de -- Kommentar „Zukunft des Lesens“: Zurück in die Vergangenheit
> Das Beharren auf bedrucktem Papier als überlegenem Informationsspeicher
> ist sinnlos. Es verhindert die produktive Aneignung neuer Medien.
Bild: Das Blatt Papier: ein beinahe religiöser Platzhalter für den Wunsch nac…
130 WissenschaftlerInnen aus dreißig Ländern haben vier Jahre unter dem
Titel „Evolution of reading in the age of digitisation“ dazu geforscht und
diskutiert, inwieweit Lesekompetenz und kognitive Entwicklung sich auf
digitalen Geräten verändern. Unter der Leitung der norwegischen
Bildungswissenschaftlerin Anne Mangen ist das Projekt nun zu einem
Ergebnis, der Stavanger-Erklärung, gekommen.
[1][Darin wird auf Grundlage einer Metastudie,] der nach Angabe des
Projekts wiederum 54 Einzelstudien zugrunde lagen, festgestellt, dass vor
allem bei längeren Informationstexten das Lesen auf Papier zu einem
besseren Verständnis als an Bildschirmen führe. Daraus wird gefolgert, dass
einerseits Methoden und Technologien entwickelt werden müssten, die Kindern
und Jugendlichen einen vertieften Zugang zu Texten auch an technischen
Geräten ermögliche. Andererseits wird jedoch mit Inbrunst betont, dass das
Lesen auf Papier eine unverzichtbare Kulturtechnik sei, die zumindest für
bestimmte Textformen auch in Zukunft unbedingt gefördert werden müsse.
In Interviews und Texten einzelner Beteiligter wurde in der Vergangenheit
zwar immer wieder betont, dass es ihnen nicht darum ginge, die
Digitalisierung aufzuhalten, sondern darum, sie bewusst zu gestalten. Das
Beharren auf dem Papier als überlegenem Medium jedoch offenbart
beispielhaft gleich mehrere Schwachstellen in der Analyse, die von
unterschwelliger, dabei ahistorischer und unpolitischer
Technikfeindlichkeit zeugen.
Technologischer Fortschritt allein ist natürlich kein glückselig machender
Weltenverbesserer. Im Gegenteil, der unbedingte Glaube an die
Heilsversprechen industrieller und digitaler Revolution trägt in sich
bekanntermaßen immer den Samen für neue Ungerechtigkeiten, Konflikte und
nicht zuletzt Verarmung – sowohl kultureller als auch materieller Art.
## Potentiale in beide Richtungen
Jede neue Entwicklungsstufe menschlicher Zivilisation ist rabiat errichtet
auf den Trümmern ihrer Vorgängerinnen, deren Leistungen und Erkenntnisse
erst Geröll, dann Sand, dann nichts werden. Der Prozess erzeugt Gewinner,
und vor allem jede Menge Verlierer. Diese Verlierer scheitern aber nicht an
neuen Technologien, die ihre geistige oder sonstige Entwicklung beschränken
würden. Keine Technologie tut das von sich aus. Die gesellschaftlichen
Verhältnisse, in denen Menschen lernen, arbeiten und leben halten sie klein
– oder machen sie eben größer. Technologie erhöht die Potentiale in beide
Richtungen.
Die äußeren Faktoren, die bestimmen, wie die entsprechenden Technologien zu
wessen Nutzen und Profit verwendet werden, außer acht zu lassen, ist aber
nicht das einzige Problem mit der Stavanger-Erklärung. Ein anderes liegt in
der wahrscheinlich unbewussten Verschränkung des Blicks auf Vergangenheit
und Zukunft. Das Wissen um ein versunkenes Früher, dessen Kulturtechniken
und Traditionen, Lebens- und Arbeitsweisen, seine Eliten und niederen
sozialen Klassen (soweit sie hinreichend Spuren hinterlassen) ist
traditionell den Archäologen vorbehalten.
Die zeichnen mit im Heute geformten Augen und Ideen Bilder des Vergangenen.
Je schneller nun der Wandel der Welt voranschreitet, inzwischen in mehreren
gewaltigen Schritten schon in der Lebensspanne eines Menschen, umso
häufiger treffen wir auf eine Art ungewollte Archäologie des noch selbst
Erfahrenen.
Die Geschichte des Fortschritts und seiner möglichen nächsten Hakenschläge
wird so seit der ersten industriellen Revolution von Menschen geschrieben,
die sich selber jeweils an ein Davor erinnern. Diese Erinnerung ist
einerseits eine wertvolle und potentiell lehrreiche Brücke in die
Vergangenheit, gleichzeitig erzeugt sie aber viel zu oft eine kognitive
Mauer vor der Zukunft. Trotz aller Vorsicht gelingt es nun dem
E-Read-Projekt nicht, die Kollision mit dieser Mauer zu vermeiden.
## Wunsch nach einer Atempause
Gefangen in einer Gegenwart, die sich, gespeist aus eigener Erinnerung,
bereits wie eine Science-Fiction-Dystopie anfühlt, wird die Zukunft zur
Projektionsfläche von Ängsten und Unsicherheiten, statt Hoffnungen und
Möglichkeiten aufzuzeigen. Es fehlen schlicht die Phantasie und die Kraft,
sich ein im positiven Sinne radikal anderes morgen vorzustellen oder es
auch nur zu wollen. Das Blatt Papier, als in der Erinnerung quasi
naturgegebenes Medium zur Informationsbewahrung und -vermittlung wird dann
ganz schnell ein beinahe religiöser Platzhalter für den Wunsch nach einer
Atempause, nach Sicherheit und Stabilität.
Wissenschaft, die sich mit solchem Konservatismus selbst beschränkt, und
letztlich nur gefühlig den jämmerlichen Status Quo vor zu großen
Veränderungen schützen will, macht sich überflüssig. Für jene, die sich –
ganz schlicht gesagt – eine tatsächlich bessere Welt erhoffen, ist dieser
verstohlen sehnsuchtsvolle Blick zurück ganz sicher keine Hilfe.
Derweil sind den fortschrittsbesoffenen und kapitalstarken
Technologiekonzernen die akademischen Mahnungen herzlich egal. Im
Zweifelsfall erkauft man sich das Wohlwollen mit ein paar
Stiftungsprofessuren und verschenkt die Überproduktion Tablets an Schulen.
Im Ergebnis bleibt dann alles wie es ist: mit neuen teuren Gadgets für die
einen, Papier für jene mit sentimentalem Distinktionsbedürfnis, und
ansonsten klaren Verhältnissen für alle.
23 Jan 2019
## LINKS
[1] http://ereadcost.eu/stavanger-declaration/
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Lesen
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Technik
Technischer Fortschritt
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