# taz.de -- Digitale Spaltung: Lernen 2.0 als Starthilfe | |
> Sie sind Risikoschüler - und sollen online Versäumtes nachholen. Noch | |
> besitzen e-Learning-Angebote für diese Zielgruppe nur Modellcharakter. | |
> Und ohne engagierte Ausbilder geht gar nichts. | |
Bild: Laptopunterricht für Schüler einer Gesamtschule in Unna. Jugendliche in… | |
"SchleifPapir" tippt Christian* in die Tastatur. Mit sieben anderen | |
Jugendlichen sitzt er im Computerraum des Schweriner Ausbildungszentrums. | |
Er ist mit einem Lernprogramm beschäftigt, mit dem er etwas über das Malern | |
lernen soll. Die Informationen auf dem Bildschirm hat er laut, aber | |
stockend abgelesen. Jetzt macht er sich Notizen - um die Fragen des Tests | |
richtig beantworten zu können. | |
"Spicken ist hier ausdrücklich erlaubt", sagt sein Bildungsbegleiter | |
Steffen Waack. Denn das Copy and Paste (Kopieren und Einfügen) richtiger | |
Antworten ist bereits ein Teil der Übungen am PC. Die meisten hier kommen | |
von der Sonderschule. Ihnen wurde schon als Kind eine "Lernschwäche" oder | |
gar eine "Lernbehinderung" attestiert. Manche haben noch ein | |
Berufsvorbereitungsjahr durchlaufen. Doch das erhöht ihre Chancen auf eine | |
Lehrstelle kaum. Nun hat sie die Bundesagentur für Arbeit 12 Monate ans | |
Ausbildungszentrum geschickt - damit sie nicht in der Hartz-IV-Statistik | |
auftauchen. Vielleicht können sie doch noch einen Zipfel des Arbeitsmarkts | |
erhaschen. | |
Christian wird wohl noch ein Jahr länger brauchen. Er klickt sich gerade | |
durch die Frage nach verschiedenen Farbuntergründen. Als er beantworten | |
soll, welche künstlich hergestellten Untergründe es gibt, muss ihm Waack | |
auf die Sprünge helfen: "Ziegel wachsen doch nicht auf Bäumen, oder?" Unter | |
den Jugendlichen im Computerraum hat Christian die stärksten Lese- und | |
Rechtschreibprobleme. | |
Steffen Waack hat E-Learning zum festen Bestandteil der Berufsvorbereitung | |
gemacht. Regelmäßig schickt er die Jugendlichen schon morgens vor acht an | |
die PCs. Sie absolvieren Übungen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten | |
sind. Manche festigen das Wissen, das sie in der Werkstatt über Malern oder | |
Holztechnik gelernt haben. Andere sollen auf spielerische Art ihr Lese- und | |
Rechtschreibverständnis erweitern. | |
Was hier passiert, ist kein Hexenwerk. Die Schüler ordnen Werkzeugnamen zu, | |
sie filtern Holzarten aus einem Buchstabenrätsel. Christians Tischnachbar | |
muss mit seiner Spielfigur durch ein virtuelles Labyrinth. Er kann sich nur | |
befreien, wenn er aus vier Verben die drei sinnverwandten findet: üben - | |
trainieren - lernen - vergessen. | |
Solche Programme gibt es auf der Lernplattform qualiboXX. Sie wird seit | |
2008 online von dem Projekt Schulen ans Netz e. V. betrieben. Das Geld | |
kommt von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) und dem Europäischen | |
Sozialfonds. Ziel ist es, die Akteure in der beruflichen | |
Integrationsförderung zu vernetzen. Das Schweriner Ausbildungszentrum ist | |
eine von 100 Einrichtungen, die dabei sind. | |
Auf seinem Bildschirm kann Steffen Waack die Testergebnisse abrufen. Er | |
sieht, wie sehr sich die Jugendlichen schon mit dem Lesen und Schreiben | |
schwertun. Sie mühen sich an Grammatikaufgaben auf dem Niveau der zweiten | |
und dritten Klasse ab. | |
Warum nutzt Waack nicht einfach Computerlernprogramme für Grundschüler? | |
"Ganz einfach", sagt er, "die lehnen die Jugendlichen als Kinderkram ab." | |
Die Onlineprogramme müssen sich an ihrer Lebenswelt orientieren. | |
Da liegt der Kollege Computer gar nicht schlecht. Mit ihm kann man spielen, | |
Musik hören, DVDs anschauen oder chatten - und das hat für Risikoschüler | |
die gleiche Bedeutung wie für gleichaltrige andere Schüler. Auch Christian | |
besitzt zu Hause einen PC. Allerdings hat er keinen Zugang zum Internet - | |
sein Dorf verfügt, wie so viele in den ländlichen Regionen | |
Mecklenburg-Vorpommerns, noch nicht über schnelle DSL-Leitungen. | |
Der Computer ist bei den Jugendlichen positiv besetzt - das macht den Job | |
der pädagogischen Aufbauhelfer ein bisschen leichter. Christian | |
Pfeffer-Hoffmann findet es erstaunlich, mit welcher Konzentration | |
sogenannte lernschwache Jugendliche oft eine Dreiviertelstunde am Stück | |
Lernprogramme am PC absolvieren. Pfeffer-Hoffmann ist am Institut für | |
Bildung in der Informationsgesellschaft der Technischen Universität Berlin. | |
Er sagt, dass die Schüler selbst Fehlermeldungen durch den Computer | |
leichter annehmen als Korrekturen durch Lehrer: "Rechner meckern eben | |
nicht." | |
Dennoch, die Entwicklung von E-Learning für Lernbenachteiligte wie | |
Behinderte, Migranten, Strafgefangene oder Verhaltensauffällige steckt noch | |
in den Kinderschuhen. Fast alle Projekte, berichtet der TU-Dozent, sind | |
öffentlich gefördert. Sie sind über den Modellcharakter nicht | |
hinausgekommen. Pfeffer-Hoffmann fordert deshalb, gemeinnützige Träger | |
stärker mit Verlagen zusammenzubringen. Denn nur die Profis aus dem | |
Verlagsgeschäft verfügen über das Know-how und Vertriebsnetze. Bisher | |
hätten sie den digitalen Markt für Lernbenachteiligte noch nicht richtig | |
entdeckt - obwohl es Tausende davon gibt. In den Warteschleifen des | |
sogenannten Übergangssystems zwischen Lehrstelle und Arbeitslosigkeit sind | |
rund 400.000 Jugendliche gefangen. | |
Das IBI selbst hat im Projekt Member nach Mitteln zur Erhöhung der | |
Chancengleichheit von Lernbenachteiligten beim Übergang von der Schule in | |
die Ausbildung gesucht. Auch der Cornelsen Verlag war beteiligt. Ein | |
Resultat von Member ist die CD-ROM "Kompetent im Alltag". Sie richtet sich | |
an Häftlinge. Über die Hälfte von ihnen kann keinen Schulabschluss | |
vorweisen. Mit "Kompetent im Alltag" üben sie nun für die Zeit jenseits der | |
Gefängnismauern. Sie simulieren Lebenssituationen: einkaufen, Ämtergänge, | |
Bewerbungen. Ein Spielekoffer ergänzt das Lernen am Bildschirm. | |
Die Entwicklung dieser CD-ROM, berichtet Christian Pfeffer-Hoffmann, wurde | |
schon früh für weitere Adressaten geöffnet. Der Inhalt sei allgemein | |
gehalten und die Texte seien einfach geschrieben - deshab gebe es etwa auch | |
an Förderschulen eine starke Nachfrage nach der CD. | |
Das Beispiel "Kompetent im Alltag" hat aber in den Verlagen bisher keine | |
Schule gemacht, weiß der TU-Mitarbeiter. Westermann und Cornelsen hätten | |
zwar verstanden, dass Lernbenachteiligte eine riesige Zielgruppe für ihre | |
Produkte sind, und einige der Lehrer und Stützlehrer, die in Arbeitsgruppen | |
von Member mitwirkten, seien dort auch als Autoren gelandet; nun aber | |
erstellen sie keine E-Learning-Programme, sondern normale Bücher. | |
Auch aufseiten des Ausbildungspersonals sieht Pfeffer-Hoffmann Hemmnisse | |
für eine Ausweitung des E-Learnings im Bereich berufsvorbereitender | |
Maßnahmen. Man müsse die Lehrer täglich neu davon überzeugen, dass | |
E-Learning gerade für einen ausdifferenzierten Unterricht mit einer so | |
heterogenen Gruppe wie den Lernbenachteiligten notwendig sei. "Denn wenn | |
sich der technische Aufwand aus Sicht der Lehrer nicht lohnt, dann wird | |
halt wieder zum Buch gegriffen - und das zu Recht", sagt Pfeffer-Hoffmann. | |
Das hat nichts mit Technikfeindlichkeit der Lehrer zu tun. Anders als an | |
Regelschulen oft üblich, sind die Ausbilder und Sonderpädagogen hier ihren | |
Schülern im Umgang mit Computer und Internet nicht hoffnungslos unterlegen. | |
Auch Steffen Waack vom Schweriner Ausbildungszentrum e. V. ist überzeugt | |
von den Vorteilen des E-Learning. Der gelernte Elektrotechniker schließt | |
gerade sein Sozialpädagogikstudium ab. Schon vor Jahren hat er sich selbst | |
in die Materie des computergestützten Lernens eingearbeitet - und für das | |
Gewerk Holz ein Programm entwickelt, in dem seiner jugendlichen Klientel | |
verschiedene Holzverbindungen für den Fensterbau erläutert werden. | |
QualiboXX ist auf das Engagement von Mitarbeitern wie Steffen Waack | |
angewiesen. Sonst hat die Plattform kaum eine Chance, qualitativ und | |
quantitativ zuzulegen. In einer eigenen Community evaluieren Lehrer und | |
Ausbilder das Materialangebot der Plattform. Waack ist auch nicht mit allem | |
zufrieden, was QualiboXX zu bieten hat. So findet er das Lernprogramm | |
"Lebenslauf" zu textlastig und zu schwer verständlich für seine | |
Jugendlichen. | |
Was Waack an qualiboXX aber schätzt, ist die Möglichkeit, sich mit Lehrern | |
und Ausbildern aus ganz Deutschland auszutauschen. Die digitale | |
Kommunikation mit Kollegen aus weit entfernten Ausbildungszentren, so | |
erzählt er, ist oft einfacher als der persönliche Kontakt mit denen aus der | |
Region. Dort mauern die Kollegen - weil ein ziemlich scharfer Wettbewerb um | |
die Ausschreibungen in der Jugendsozialarbeit durch die Bundesagentur für | |
Arbeit herrscht. | |
Ein Grund für Christian Pfeffer-Hoffmann, die Bundesagentur für ihre | |
berufsvorbereitenden Maßnahmen zu kritisieren. Die Agentur habe einen | |
extremen Ressourcenabbau vorgenommen. Sie habe die Finanzierungszeiträume | |
auf 12 bis 24 Monate verkürzt. Das habe viele Billiganbieter auf den Plan | |
gerufen. Niemand wisse, wie genau sie es mit dem Anspruch nähmen, den | |
Jugendlichen Medienkompetenz beizubringen. | |
Für Pfeffer-Hoffmann gehört dazu mehr als nur das Abfragen | |
berufsspezifischer Inhalte. "Von E-Learning kann keine Rede sein, wenn den | |
Jugendlichen nicht auch der verantwortungsvolle Umgang mit Passwörtern und | |
mit privaten Informationen im Social Network vermittelt wird", moniert er. | |
"Wenn ihnen nicht beigebracht wird, der Verführungskraft des Netshoppings | |
und Dauerdaddelns kritisch gegenüberzustehen." | |
Steffen Waack versucht das. Er bringt lernbenachteiligten Jugendlichen im | |
Schweriner Ausbildungszentrum nahe, wie man eine selbstständige | |
Netzrecherche durchführt - egal ob nach Lehrstellen- und Jobangeboten oder | |
nach Portalen von Ämtern. Die Halberwachsenen sollen lernen, Formulare von | |
der Arbeitsagentur und Anträge auf Kindergeld auszufüllen. | |
Die meisten Teilnehmer an den berufsvorbereitenden Maßnahmen sind in diesem | |
Jahr bei der Stange geblieben. Sie sind auf den Geschmack gekommen, den | |
Computer aktiv zum Lernen und zur Alltagsorganisation zu benutzen. Aber das | |
hat am Ende nur bedingt mit dem vorhandenen E-Learning-Portalen zu tun. | |
Ohne Ausbilder und Lehrer, die sich dafür ins Zeug legen, dass ihre | |
Schützlinge an vielen Wissensressourcen der Gesellschaft teilhaben, ist der | |
dauerhafte Ausschluss von Lernbenachteiligten gerade mal einen Klick | |
entfernt. | |
*Name geändert | |
11 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
Oliver Pohlisch | |
Oliver Pohlisch | |
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