| # taz.de -- Essay Politische Krise in Venezuela: Was hat dich bloß so ruiniert? | |
| > Mag sein, dass die USA in Venezuela mitmischen. Doch letztlich hat sich | |
| > die „Bolivarische Revolution“ einfach selbst zerstört. | |
| Bild: Die venezolanische Ölförderung ist in einem erbarmungswürdigen Zustand | |
| Im Stadtbild der Drei-Mllionen-Einwohner-Metropole Caracas zeichnen sich | |
| die zwei Jahrzehnte der chavistischen Ära auf unübersehbare Weise ab. Als | |
| ich kurz vor der Präsidentschaftswahl im Mai 2018 nach Venezuela fuhr, | |
| staunte ich, was in den zehn Jahren seit meinem letzten Aufenthalt alles | |
| gebaut und angeschafft worden war: Riesige, mithilfe von weißrussischen | |
| oder chinesischen Joint Ventures gebaute Wohnsiedlungen mitten in der | |
| Stadt, Tausende fast neue Metrobusse und U-Bahn-Waggons, die stillgelegt | |
| auf Parkplätzen und Abstellgleisen vor sich hin rosteten, nicht reparabel, | |
| weil Ersatzteile fehlen. | |
| Klapprige iranische Kleinwagen, in Venezuela vor ein paar Jahren | |
| zusammengeschraubt, knatterten über Straßen, gesäumt von unvollendeten | |
| Brückenpfeilern, aus denen die Stahldrähte ragten, Hinterlassenschaft nie | |
| fertig gebauter Autobahnprojekte. Vergilbte und abgeblätterte Plakatwände | |
| kündeten von Wohltaten der „Bolivarischen Revolution“. | |
| Eine Ruinenlandschaft, die verkündete: Dieses Land hat in den letzten | |
| Jahren wahnsinnig viel investiert – doch dann ist ihm das Geld ausgegangen. | |
| Eine Hyperinflation hat die Bevölkerung rasant verarmen lassen und | |
| Produktion sowie Mobilität nahezu zum Stillstand gebracht. | |
| Korruption – so lautet in einem Wort die populärste Erklärung für das | |
| Desaster. Militärs, Beamte, Politiker und Günstlinge der Maduro-Regierung | |
| hätten sich mit beiden Händen bedient, Geld veruntreut und mit den | |
| eigentlich für den Import wichtiger Güter gedachten „Vorzugsdollars“ zu | |
| einem günstigen Wechselkurs ihren Reibach gemacht. | |
| Doch nicht nur die Gegner Maduros geißeln die Korruption, auch die | |
| Regierung selbst präsentiert Woche für Woche neue angebliche Korruptions- | |
| und Sabotagefälle, um dem darbenden Volk eine Rechtfertigung dafür zu | |
| liefern, warum die Hyperinflation ihren Lohn auffrisst, die Busse nicht | |
| fahren und keine Medikamente zu haben sind. Weil es keine unabhängige | |
| Justiz gibt, sind diese Vorwürfe schwer zu überprüfen. | |
| Jede Seite pflegt ihr Weltbild: [1][Für die Maduro-Anhänger] ist die | |
| Korruption ein konterrevolutionäres Übel, für die Maduro-Gegner ist sie das | |
| Wesen des Chávez-Sozialismus. Auch wenn sie mit dem Finger aufeinander | |
| zeigen, in ihrer Diagnose sind sie sich merkwürdig einig: Venezuela ist | |
| eigentlich ein reiches Land, es muss nur von den Korrupten befreit werden. | |
| [2][Auch Juan Guaidó], der charismatische Oppositionsführer und | |
| Selfmadepräsident, hat nicht mehr zu bieten als das Versprechen, mit der | |
| Korruption aufzuräumen. Das venezolanische Volk habe ein Recht auf einen | |
| anständig geführten Haushalt, rief er vergangene Woche seinen Anhängerinnen | |
| und Anhängern zu, nachdem er sich selbst zum Präsidenten ernannt hatte. | |
| ## Niedergang der Ölindustrie | |
| Es wäre schön, wenn es mit dem Reichtum Venezuelas so einfach wäre. Dass | |
| hier die weltweit größten Ölvorkommen unter der Erde lagern, mag richtig | |
| sein. Aber drei Viertel der rund 300.000 Millionen Barrel Erdöl, die im | |
| venezolanischen Boden liegen, sind extraschwere Rohöle und Bitumen – sie | |
| sind nur mit großem Aufwand zu fördern, zu transportieren und nur durch | |
| Verblendung mit leichteren Ölen marktfähig zu machen. | |
| Um an diesen Reichtum zu kommen, ist Venezuela auf internationales Kapital | |
| und Know-how angewiesen – im Orinoco-Delta, wo das Schweröl lagert, | |
| arbeitete Venezuelas Ölgesellschaft in Joint Ventures mit kanadischer, | |
| norwegischer, französischer, russischer, chinesischer und US-amerikanischer | |
| Beteiligung. Und in der derzeitigen Lage ist das Land so erpressbar wie nie | |
| zuvor. Noch entscheidender für das derzeitige Elend aber ist: [3][Die | |
| konventionelle Ölförderung] ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. | |
| Anfang der nuller Jahre versuchte das damalige antichavistische Management | |
| des größten venezolanischen Erdölkonzerns PDVSA mit einem monatelangen | |
| Streik, die Regierung zu stürzen – dass die Chavisten damals die Opposition | |
| im Erdölkonzern niederrangen und die Kontrolle über das Unternehmen | |
| bekamen, interpretierten wir, die wir die „Bolivarische Revolution“ mit | |
| Sympathie verfolgten, als Sieg auf dem Weg zu einer Ölgesellschaft, die für | |
| Wohlstand sorgen sollte, statt ihre Gewinne ins Ausland zu schaffen und nur | |
| einer Elite zugutekommen zu lassen. | |
| In Wahrheit war es ein Pyrrhussieg. Rund 18.000 Beschäftigte verließen | |
| damals den Konzern, darunter viele hochspezialisierte Kräfte – ein | |
| Braindrain, von dem sich der Staatskonzern nie erholt hat. Schon unter | |
| Chávez verschlossen die verantwortlichen Politiker die Augen vor dem | |
| Niedergang der Ölindustrie, Kritiker in den eigenen Reihen stellte man | |
| kalt. Steigende Ölpreise überkompensierten damals die sinkenden | |
| Förderquoten und machten es möglich, Sozial- und Bildungsprogramme sowie | |
| Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. | |
| ## Abhängiger denn je | |
| Mit diesen Wohltaten gewann Chávez Wahl um Wahl – gleichzeitig investierte | |
| die Regierung zu wenig in Instandhaltung, Modernisierung und in die | |
| Erschließung neuer Ölquellen. Seit 2008 geht die Ölproduktion permanent | |
| zurück, in den letzten Jahren ist sie nahezu zusammengebrochen. [4][Die | |
| Hyperinflation, der Mangel an Medikamenten und Ersatzteilen]: das alles ist | |
| vor allem eine Folge des Devisenmangels. Die Regierung erhöht die | |
| Mindestlöhne, verteilt Geld an die Armen und Alten und heizt die Entwertung | |
| damit nur weiter an. | |
| Um ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können, um Lebensmittel | |
| importieren, den Staatsapparat und die Ölproduktion halbwegs am Laufen | |
| halten zu können, hat sich die Regierung hoch verschuldet – vor allem bei | |
| China und Russland. Selbst das Öl, das noch gar nicht gefördert ist, gehört | |
| zu guten Teilen den Gläubigern des Regimes – als Garantie für gewährte | |
| Kredite. | |
| Venezuela, das unter Chávez unabhängiger werden sollte, das in einer | |
| solidarisch-sozialistischen Allianz mit anderen lateinamerikanischen | |
| Staaten und den Ländern des globalen Südens eine Zukunft ohne neokoloniale | |
| Abhängigkeiten anstrebte: es ist heute abhängiger denn je. Nur dass diese | |
| Abhängigkeit nicht mehr allein auf das Konto des US-Imperialismus geht. | |
| Solidaritätsgruppen, die heute mit dem Slogan „Hands Off Venezuela“ auf die | |
| Straße gehen und damit vor allem die USA meinen, haben übersehen: | |
| Venezuela ist unsouveräner als je zuvor in seiner Geschichte. Die Imperien | |
| Putins und der KP Chinas haben das Land durch ihre Kredite mindestens so | |
| abhängig gemacht wie die USA als größtes Abnehmerland venezolanischen | |
| Erdöls. | |
| ## Terror in den Barrios | |
| Venezuela ist ein geopolitischer Spielball seiner Gläubiger und Ölkunden. | |
| Die USA wollen Maduro stürzen und Guaidó zur Macht verhelfen, um Einfluss | |
| zurückzugewinnen, den sie unter Chávez verloren haben. Sie scheuen dabei | |
| nicht davor zurück, den für die Iran-Contra-Affäre verurteilten Elliot | |
| Abrams, der in den Achtzigern mittelamerikanische Folterregime unterstützt | |
| hatte, zum Sondergesandten für Venezuela zu machen. Russland und China | |
| stützen vorläufig Maduro, weil dessen Regime den Reichtum des Landes auf | |
| Jahre an sie überschrieben hat. Sollte sich für die Russen und Chinesen | |
| erweisen, dass Guaidó oder ein General mehr Stabilität bedeutet, könnten | |
| sie ebenso gut die Seite wechseln. | |
| Wenn sich wiederum Teile des Militärs auf die Seite der Opposition | |
| schlagen, droht ein Stellvertreterbürgerkrieg, für den der venezolanische | |
| Blogger Francisco Toro mit seinem Ausdruck „karibisches Syrien“ eine gar | |
| nicht mal so schiefe Metapher gefunden hat. Venezuela ist voller | |
| Schusswaffen, gehortet von chavistischen colectivos – von denen viele bloß | |
| noch kriminelle Banden sind – und von den berüchtigten pranes, aus den | |
| überfüllten Gefängnissen heraus gemanagten Gangs. Dass Maduro über Leichen | |
| geht, um seine Macht zu sichern, zeigen dieser Tage die blutigen Einsätze | |
| der polizeilichen Spezialkräfte, die in den Barrios Terror verbreiten. | |
| Angesichts der Lage ist die Frage, ob mit der venezolanischen Krise linke | |
| Politik in Lateinamerika gescheitert und auf Jahre verbrannt ist, fast ein | |
| bisschen absurd. Natürlich, das Desaster der „Bolivarischen Revolution“ hat | |
| die Linke in Lateinamerika in Verruf gebracht und ihre Chancen auf | |
| Wahlsiege minimiert. Was denn sonst? | |
| ## Linke gegen Chávez und Maduro | |
| Zur Ehrenrettung der linken Kräfte in Venezuela kann man nur sagen: Es gab | |
| und gibt innerhalb des Chavismus immer Kräfte, die sich gegen Personenkult | |
| und Autoritarismus gewehrt haben, und es gab in Venezuela auch [5][ein paar | |
| Linke, die sich gegen Chávez und Maduro gestellt haben], weil sie | |
| argumentiert haben, dass die revolutionäre Rhetorik und die lokale | |
| Basisdemokratie mit einer Politik, die das Land im großen Stil in neue | |
| Abhängigkeiten bringt und die Erdölindustrie verkommen lässt, nicht | |
| zusammenpasst. | |
| Natürlich muss man gegen eine US-Invasion sein. Aber der | |
| [6][holzschnittartige Antiimperialismus], der mir dieser Tage angesichts | |
| der venezolanischen Krise in den sozialen Netzwerken begegnet, ist auch | |
| eine Flucht davor, eine bestimmte Tatsache anerkennen zu müssen: dass man | |
| zwei Jahrzehnte lang solidarisch mit einer angeblichen Revolution war, die | |
| tatsächlich das Projekt einer verantwortungslosen Elite gewesen ist, die | |
| die Ressourcen des Landes ruiniert hat, um sich an der Macht zu halten. | |
| Eine Linke, die all das, was mit dieser Revolution an emanzipatorischen | |
| Ideen und Projekten verbunden war, retten will, sollte sich dieser | |
| Erkenntnis nicht verschließen. | |
| 2 Feb 2019 | |
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| [5] https://jungle.world/artikel/2018/20/jede-stimme-gegen-nicolas-maduro-zaehlt | |
| [6] https://www.jungewelt.de/artikel/347908.venezuela-berlin-putscht-mit.html | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Twickel | |
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