Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Penibelchen mit Piepsstimme
> Die japanische Aufräumerin Marie Kondō sorgt für Furore und Proteste in
> der Welt der Unaufgeräumten. Ein Besuch bei Betroffenen.
Bild: Nur 85 Zentimeter klein ist die größte Aufräumkraft der Welt: Marie Ko…
„Immerhin bin ich jetzt aus den Füßen“, behauptet Hans-Günther Wielund,
auch wenn der Endfünfziger neuerdings auf seinen Stammplatz vor dem
Fernseher im Rösrather Eigenheim verzichten muss. Ehefrau Jutta hatte ihrem
Gatten jüngst recht unerwartet für die „jahrelangen treuen Dienste“
gedankt, ihn dann ebenso unerwartet umarmt, um ihn schließlich zu einem
handlichen Paket zusammenzufalten. Seither wohnt der Frührentner in einer
kleinen Schachtel im Schuhschrank. „Endlich weiß ich, wo ich hingehöre“,
nuschelt Wielund und raschelt leise im Seidenpapier. „Marie Kondō sei
Dank.“
Denn einen solchen, als „achtsam“ deklarierten Umgang mit abgelegten
Erinnerungsstücken propagiert die japanische Bestsellerautorin und
Ordnungsberaterin Marie Kondō, deren Show „Aufräumen mit Marie Kondō“ be…
Streamingdienst Netflix derzeit Zuschauerrekorde bricht.
Millionen schauen begeistert zu, wenn die zierliche Frau in blütenweißem
Cardigan und Faltenrock durch fremde Wohnungen schwebt, um die Bewohner von
überflüssigen Habseligkeiten zu befreien und den verbleibenden Hausstand zu
ordnen. Freilich sollte man sich von Kondōs pastelliger Erscheinung, ihrer
höflicher Zurückhaltung und der zwitschernden Piepsstimme nicht täuschen
lassen. Zwar ist Kondō mit ihren bloß 85 Zentimetern sogar für japanische
Verhältnisse winzig, doch haust in der däumlingsgroßen Frau mit der
Ausstrahlung einer sagrotanversprühenden Winkekatze ein unbeugsamer Wille,
der nur ein einziges, ordnungsgemäßes Ziel kennt: die vollständige
Ausmerzung jeglichen Krimskrams, den Tod des Talmis, den Sturz der
Stehrümchen und die Abdankung allen Gedöns.
## Kein Flusen Individualität
Wenn die an Leib und Seele erschreckend akkurat frisierte
Kleinstdarstellerin, neben der sogar Ursula von der Leyen als lebensfrohe
und etwas verschlamperte Hedonistin auffallen würde, vormals
menschenwürdige Behausungen ihrer berüchtigten „Konmari-Methode“
unterzieht, bleibt kein Socken unter der Kommode, kein Kamm im Kühlschrank
und kein Flusen Individualität auf der Auslegware liegen. Übrig bleibt
allein lebensfeindliche Leere in Schrank und Flur und eine zu Tode
aufgeräumte Wohnstatt, wie sie in freier Wildbahn niemals aufzufinden wäre.
Allenfalls in gottgefälligen Werbebroschüren kann man derartige Lebensöde
hinter entseelt lächelnden Bekehrten aufblitzen sehen.
Nicht einmal wertvolle und international renommierte Sammlungen – etwa eine
in jahrelanger Trinkarbeit zusammengetragene Kollektion Leergut unter dem
Bett – oder Kunstwerke, wie eine zufällig zusammengefegte Laokoongruppe aus
Staubmäusen in der Küchenecke, sind vor dem Zugriff des zuckersüß
grienenden Penibelchens sicher. In hochnotpeinlicher Gewissensbefragung ist
auch der kleinste Gegenstand zu prüfen, ob er überhaupt noch genug Freude
versprüht, um seinen Platz im Sozialgefüge behalten zu dürfen. „Does it
spark joy?“, lautet die ewig gleiche Frage der lustig radebrechenden
Japanerin, während sie die Nasen ihrer Probanden in Haufen gebrauchter
Unterbuchsen stößt, die in muffigen Wäschepuffs zu maximaler Geruchsbildung
reiften.
## Aufräumen ist Frauenarbeit
Und doch scheint die TV-Aufräumerin einen Nerv beim Publikum getroffen zu
haben. Mit jeder Sendung wächst gerade ihre weibliche Anhängerschaft,
obwohl Kondō Folge für Folge vorlebt, dass Aufräumen hauptsächlich
Frauenarbeit ist. Die sozialen Netzwerke quellen mittlerweile über vor
Beweisfotos, auf denen Aufräumerinnen die leichtfertige Zerstörung
organisch gewachsener Habitate präsentieren und gefährliche Präzedenzfälle
unhaltbarer Ordnungszustände schaffen.
Denn bekanntlich gibt es ein Leben nach dem Aufräumen. Haushaltsexpertin
Brenda Allerseil vom ordnungskritischen Aktionsbündnis „Aufräumen ist
Folter“ sieht die Arbeit der japanischen Ausmisterin denn auch eher
kritisch. Lieber verweist sie auf die emazipatorischen Schriften der
italienischen Theoretikerin Lotta Continua, die ebenso der überkommenen
bürgerlichen Ordnung wie der stalinistischen WG-Putzplanwirtschaft den
Kampf ansagt, oder der finnischen Vorkämpfer für gender-egalitäre
Unordnung, Rosinnen und Pirkko Häänkkipäänkki.
Letztere entwickelten schon in den fünfziger Jahren die Praxis des
„Palläanijuoma“, des gemeinsamen Betrinkens in Unterhosen, während man der
ungemachten Bügelwäsche beim Knittern und den Staubmäusen beim Huschen
zusieht. Einen kreativen Umgang mit Kondōs Methoden lehnt allerdings auch
Brenda Allerseil nicht ab. „Frau Wielund hat intuitiv das einzig Richtige
getan“, erklärt sie. „Es sind ja nicht die paar überzähligen Klamotten, …
uns wahnsinnig machen.“
29 Jan 2019
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Marie Kondo
Aufräumen
Kommari
Influencer
Tourismus
Novemberrevolution 1918
Marie Kondo
Weihnachten
Bayern
Schwerpunkt Flucht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Flugschamschamanin
Auf den Malediven treffen sich Millenials zum „International Flygskam
Festival“ und arbeiten verschämt an ihrer Klimabilanz.
Die Wahrheit: Fantastilliarden Tonnen
Nach der Havarie der „Viking Sky“ werden Rufe nach sicheren
Kreuzfahrtschiffen laut. Eine Reederei im Emsland setzt auf schiere Größe.
Die Wahrheit: Mönchsberg hinter den Motorsägen
Für eine einzige Gewitternacht hat das Sturmtief „Eberhard“ im Thüringer
Wald ein uraltes Geheimnis freigeweht.
Ordnungs-Hype auf Netflix: Does it spark joy?
Marie Kondo bringt Wohlstandsverwahrlosten das Aufräumen bei. Und
konfrontiert sie dabei mit der Frage nach dem guten Leben.
Die Wahrheit: Das Fleischwunder von Pörksen
In Deutschlands einziger Engelmetzgerei geht es just zum Fest der Liebe
hoch her. Die Weihnachtsgeschichte der Wahrheit.
Die Wahrheit: Dann geh doch nach drunten!
Was dieses Bayern in den Achtzigerjahren aus der Sicht eines sehr
Westdeutschen war – das Mordor jenseits des Weißwurstäquators.
Die Wahrheit: „Als ob die Heimat weg ist“
Betuchte Skipper wollen das Mittelmeer zum Freizeit-Weltkulturerbe erklären
lassen. Ihr Ziel: flüchtlingsfreie Häfen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.