# taz.de -- Die Wahrheit: „Als ob die Heimat weg ist“ | |
> Betuchte Skipper wollen das Mittelmeer zum Freizeit-Weltkulturerbe | |
> erklären lassen. Ihr Ziel: flüchtlingsfreie Häfen. | |
„Wenn sich die menschenunwürdigen Zustände nicht bald zum Besseren wenden, | |
müssen wir über das offene Meer ins Ungewisse fliehen“, empört sich | |
Bootsbesitzer Ludwig „Louie“ Hemminger und blickt zornig auf das rostige | |
Ungetüm, das neben seiner schneeweißen Segelyacht in den Wellen des | |
Mittelmeers dümpelt. „Aber wo sollen wir denn hin? In die Karibik etwa? Da | |
waren wir doch schon im Frühjahr.“ | |
Seit ein paar Tagen muss der betuchte Privatier seinen Stammplatz im | |
maltesischen Port Bluhija mit den freiwilligen Flüchtlingsrettern der „Sea | |
Fox“ teilen. Für Hemminger ist der ausgediente Fischtrawler ein zutiefst | |
erschütternder Anblick. Da die Insel ganzjährig von warmen Finanzströmen | |
umflossen wird, landen an der pittoresk korrumpierten Felsküste sonst nur | |
die Dreimaster und Zwölfender des Großkapitals an. | |
Auch in der noblen „Safe Harbour“-Marina von Port Bluhija liegen | |
ausschließlich schlanke Trader-Tjalks, die bei Flaute und Baisse | |
vollständig auf Pump betrieben werden können, und behäbige | |
Dividendendschunken, die man am typischen Niedrigsteuer erkennt. | |
Doch weil Europas rechtspopulistische Regierungen die Flüchtlingshelfer mit | |
Klagen überziehen, müssen Rettungsschiffe wie die „Sea Fox“ notgedrungen … | |
den maritimen Tummelplätzen der Reichen, Superreichen und Megareichen vor | |
Anker gehen. Dort droht nun die Konfrontation mit der alteingesessenen | |
Hafen-Hautevolee, die um ihre angestammten Anker- und Nistplätze fürchtet. | |
„Es ist Hochsaison und die Liegeplätze werden dringend gebraucht. Ich | |
finde, da kann man durchaus von einer humanitären Katastrophe sprechen“, | |
kalfatert sich Hemminger in Rage. Zu allem Überfluss ist die „Sea Fox“ auch | |
noch ein paar entscheidende Meter länger als sein eigenes Schiff, die „Cash | |
Flow II“ – für den repräsentationsfreudigen Käpt’n ein besonderes Ärg… | |
„Ich habe mein Lebtag hart erben müssen, bis ich endlich den Längsten am | |
Pier hatte, und nun soll alles umsonst gewesen sein? Es ist, als ob einem | |
die Heimat genommen wird.“ | |
## Robuster Blauhelmeinsatz | |
Mit ein paar Gleichgesinnten will Louie Hemminger das Mittelmeer als | |
Freizeitgewässer zum Weltkulturerbe erklären lassen. Auch einen robust | |
geführten Blauhelmeinsatz kann er sich vorstellen, um seine Marina | |
flüchtlingsfrei zu schießen. Den Einwand, dass sich längst keine | |
Flüchtenden mehr an Bord der „Sea Fox“ befinden, mag Hemminger nicht gelten | |
lassen. | |
Schon deren bloße Erwähnung störe das empfindliche ökologische | |
Gleichgewicht des Besserverdienendenbiotops, sagt der passionierte | |
Wirtschaftskapitän mit Verweis auf nervöse Mägen und Märkte und stopft sich | |
wie sein nautisches Vorbild Odysseus Wachs in die Ohren. „Die | |
Weltgemeinschaft muss endlich aufwachen. Hier drohen international | |
anerkannte Topdestinationen irreparabel beschädigt zu werden. Vor lauter | |
Ersaufenden traut man sich ja kaum mehr auf See“, nebelhornt der | |
offensichtlich auch inwendig braungebrannte Hemminger und wettert bei einem | |
Dutzend frischer Austern gegen die lahmgelegten Retter. „Diese Leute passen | |
schon aus finanziellen Gründen nicht in unsere Hafen- und | |
Wertegemeinschaft.“ | |
„Das stimmt“, räumt Frans van Sneek ein, der niederländische Kapitän der | |
„Sea Fox“. „Für den Liegeplatz mit Strom, Wasser, rotem Teppich, Hostess… | |
Streichquartett und Lobsterbuffet berechnet man uns 4.000 Euro am Tag. Das | |
halten wir auch beim derzeit hohen Spendenaufkommen nicht lange durch. Aber | |
auslaufen dürfen wir ja auch nicht.“ | |
Denn der Kapitän muss sich vor einem maltesischen Seegericht verantworten, | |
nachdem die Schifffahrtsbehörde des Inselstaates einen Rechtschreibfehler | |
in den Schiffspapieren entdeckt hatte. Doch soll es längst nicht mehr nur | |
um die mangelhafte Registrierung der „Sea Fox“ gehen, auf Druck der | |
italienischen Regierung ist die Anklage nochmal erheblich erweitert worden. | |
„Neben gewerbsmäßiger Schlepperei werde ich auch der Piraterie, der | |
Geisterschifffahrt auf der Gegenfahrbahn, des Klabautertums, der Unzucht | |
mit Fischen sowie mutwilliger Verunglimpfung der christlichen Seefahrt | |
bezichtigt“, erzählt van Sneek. „Außerdem wirft man mir vor, ohne | |
Bügelfalte in der Ausgehuniform auf Landgang gewesen zu sein. Darauf steht | |
Kielholen.“ | |
Auf überbordende Solidarität bei seinen Schiffsnachbarn darf Skipper van | |
Sneek nicht hoffen, zumal die Anwesenheit des Flüchtlingsbootes die | |
Schergen der gefürchteten EU-Grenzschutzagentur auf den Plan gerufen hat. | |
Seither lassen die Frontex-Jäger auch Luxusyachten nach Geretteten | |
durchsuchen. „Sogar vollkommen unbescholtene Oligarchen wie ich geraten | |
unter den Verdacht der Philanthropie. Ist das nicht lächerlich?“, klagt der | |
russische Eigner einer 320-Meter-Yacht, die seit Monaten ihren gigantischen | |
Schatten auf den gesamten Küstenort wirft. „Neulich haben die Behörden eine | |
Razzia an Bord durchgeführt und wollten wissen, ob die ausgemergelten | |
Gestalten im Maschinenraum illegale Flüchtlinge sind. Dabei ist das meine | |
Crew. Diese Leute habe ich rechtmäßig auf den Philippinen erworben.“ | |
## Klirrende Champagnerkelche | |
Doch auch die Nerven der Flüchtlingshelfer, die in der Marina ausharren | |
müssen, werden auf eine harte Probe gestellt. „Bis in den Schlaf verfolgt | |
mich das unentwegte Klirren der Champagnerkelche“, erzählt Heide Renken, | |
die als medizinische Nothelferin der „Sea Fox“ mehrere Einsätze vor der | |
libyschen Küste absolviert hat. „Ich weiß ich wirklich nicht, wie ich | |
diesen Reichtum seelisch verkraften soll.“ | |
Damit die Lage in der systemrelevanten Urlaubsregion nicht noch weiter | |
eskaliert, haben sich die europäischen Regierungen, das allererste Mal in | |
der Geschichte des Kontinents, unisono auf einen Katalog humanitärer | |
Maßnahmen verständigt. Künftig sollen den ertrinkenden Flüchtlingen | |
Schnorchel und Wasserbälle gereicht werden, um den hochattraktiven | |
Freizeitwert der mediterranen Schiffahrtswege auch künftig zu erhalten. | |
Für die Rettungsschiffe wiederum sollen stabile Ankerzentren weit außerhalb | |
europäischer Hoheitsgewässer geschaffen. Als Standort ist seit Neuestem der | |
Meeresboden des 11.000 Meter tiefen Marianengrabens im westlichen | |
Pazifischen Ozean vorgesehen. | |
Offshore-Segler Louie Hemminger jedoch, der mit seiner „Cash Flow II“ schon | |
mehrfach das Kap der verschleppten Insolvenz umschifft hat, ist | |
mittlerweile nachdenklich geworden. „Natürlich fühle ich mit diesen | |
Menschen, ich bin ja selbst Steuerflüchtling.“ Helfen könne er aber leider | |
nicht, erklärt der Skipper traurig. „Selbst wenn ich wollte, zur | |
Seenotrettung ist mein Boot einfach nicht ausgelegt. Ich habe sehr | |
empfindliches Parkett.“ | |
21 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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