# taz.de -- Die Wahrheit: Pressekonferenz mit Angehörigen | |
> Die Woche der verschwundenen Politiker: Zum Schluss ein Pflegeheim in | |
> Bonn, das auf die Bedürfnisse alternder Volksvertreter zugeschnitten ist. | |
Der ehemalige Landtagsabgeordnete Dietmar Hagenhenrich filibustert wieder. | |
Seit geschlagenen sechs Stunden teufelt der 80-Jährige, der zu seinen | |
besten Zeiten als Cicero des westlichen Münsterlandes galt, auf die | |
Heimleitung ein. Die allerdings hat sich längst in den Feierabend | |
verabschiedet. Deswegen verhallt Hagenhenrichs Antrag auf Erhöhung des | |
Erdbeertörtchenetats ungehört. | |
Um den aufgebrachten Expolitiker zu besänftigen, hat man Pappfiguren | |
aufgestellt. Sie blicken demütig zu Boden und nicken mit den Köpfen, wenn | |
sie vom ehemaligen Fraktionsvize erst als „Liebe Parteifreunde!“ tituliert | |
und dann niedergebrüllt werden. | |
„Wir haben es auch mit weiblichen Figuren versucht, die bewundernd | |
aufschauen, aber dann bekommt man diese alten Alphamännchen gar nicht unter | |
Kontrolle“, verrät Pflegerin Helena, die Hagenhenrich mit der Aussicht auf | |
den Vorsitz in einem Untersuchungsausschuss vom Büro der Heimleitung | |
wegzulotsen versucht. „Untersucht wird hier aber bloß noch die Prostata“, | |
raunt uns die Pflegerin zu, während sie Hagenhenrich Beifall spendet. „Das | |
Geräusch beruhigt sie“, flüstert sie. | |
## Partielle Demenz | |
Helena Schorn arbeitet in einem Pflegeheim, das sich auf die Betreuung von | |
ehemaligen Mitgliedern der politischen Klasse spezialisiert hat, die unter | |
Altersdemenz leiden. „Also, richtig unter Demenz. Nicht unter dieser | |
partiellen, die bloß Spendernamen und Geldkofferübergaben betrifft, die | |
gilt als leichte Berufskrankheit“, erklärt Schorn. | |
Die Einrichtung liegt versteckt in einem Bonner Vorort – eine sinnfällige | |
Ortswahl. Wie Elefanten in den unwegsamen Busch ziehen sich hinfällige | |
Kader zum Sterben oft in die vergessene Bundeshauptstadt zurück. „Vom | |
Kommunalpolitiker bis zum Minister haben wir eigentlich alles hier“, so die | |
Altenpflegerin. „Einen tut sie, dass sie nur schwer den Bedeutungsverlust | |
verwinden, den sie mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben erfahren haben.“ | |
Auch das konservative Urgestein Hagenhenrich, zu dessen größten politischen | |
Erfolgen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen bei Zuchtsauen gehört, | |
bekleidet längst keine politischen Ämter mehr. Bisweilen bekleidet er nicht | |
einmal mehr sich selber. Heute trägt Hagenhenrich, dessen mächtige | |
Doppelkinnpartie noch immer den Großbauernführer von einst erahnen lässt, | |
immerhin Schlips. Die Pranken umfassen den Lenker seines Rollators wie ein | |
Rednerpult; der mächtige Bauch – im Westfälischen bis heute Ausweis | |
politischen Sachverstandes – lappt ebenso majestätisch wie unbekleidet über | |
den Bund der Pyjamahose; der breite Schlips darüber ist aus Plastik und hat | |
am unteren Ende eine Rinne, in der wir Wurststücke entdecken. Offenbar | |
dient er auch als Lätzchen. „Der ist noch fit, der geht irgendwann von | |
alleine“, beschließt Schorn schließlich. „Aufpassen muss man bei denen, d… | |
schon Windeln tragen und intravenös ernährt werden, die können wochenlang | |
durchlabern.“ | |
## Marsch in die letzte Institution | |
Wir verlassen den Debattierenden vorerst und folgen der Pflegerin durch die | |
Anlage. Mit ihren Pflegebetten, den abwaschbaren Möbeln und dem | |
allgegenwärtigen Duft nach Desinfektion und Vergehen unterscheidet sie sich | |
kaum von vergleichbaren Einrichtungen. Allerdings liegen die Patienten | |
nicht willkürlich zusammengewürfelt auf ihren Zimmern, sondern säuberlich | |
in Fraktionen aufgeteilt. „Noch gibt es eine konservative Mehrheit“, sagt | |
Schorn, „Aber gerade treten die Achtundsechziger den Marsch in ihre letzte | |
Institution an. Das wird die Mehrheitsverhältnisse verändern.“ | |
Wir passieren einen Raum, in dem eine Mobilisierungseinheit abgehalten | |
wird, die auf dem Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“ basiert. Zunächst | |
schlurfen die Patienten teilnahmslos herum, doch sobald ihr Therapeut das | |
Blitzlichtgewitter anschaltet, reißen sie die Hände zu Victory-Zeichen in | |
die Luft oder schütteln einander breit grinsend die Hände. Besonders | |
beliebt ist ein großformatiger Schmuckscheck, der in die imaginierten | |
Kameras gehalten wird. In einem weiteren Raum können Pressekonferenzen mit | |
Angehörigen abgehalten werden. „Wir haben herausgefunden, dass es unseren | |
Patienten hilft, wenn Kommunikation nach vertrauten Mustern abläuft“, | |
erklärt die Pflegerin. | |
Tatsächlich, zwar erkennt die zerknitterte Bürokratin, die es einst bis zur | |
Staatssekretärin gebracht hat, ihre Tochter nicht mehr, ist aber in der | |
Lage, ihr einen Zehn-Punkte-Plan in den Block zu diktieren, der in der | |
Anschaffung einer neuen Strickjacke münden könnte, falls die Opposition | |
mitspielt. Dann werden wir aufgerufen. Wir erkundigen uns höflich nach dem | |
Befinden der alten Dame, doch die bescheidet uns eisig, dass sie dem | |
linksradikalen Kampfblatt, für das wir schrieben, keinerlei Rechenschaft | |
schuldig sei. „Sie ist schon sehr lange hier. Die Welt, die sie kannte, | |
gibt es längst nicht mehr“, meint Schorn. | |
## Kompetenz Inkontinenz | |
Herz der Anlage ist der „Plenarsaal“, wie die Kantine genannt wird. Ein | |
Bundesadler an der Wand erinnert an die frühere Wirkungsstätte mancher | |
Patienten. Zum Essen, das die Senioren im aufsteigenden Halbrund einnehmen, | |
werden zur Zerstreuung alte Bundestagsreden gesendet. Gerade läuft das | |
Beste aus den Achtzigern und genau wie damals stößt die Abgeordnete | |
Waltraud Schoppe, deren Rede gerade über den Bildschirm flackert, mit ihrer | |
Bemerkung, dass es Vergewaltigungen auch in der Ehe gibt, auf ungläubiges | |
Gelächter bei den Herren. | |
Anschließend wird eine Runde Bingo ratifiziert. Zu gewinnen gibt es Posten | |
im Sudoku-Schlichtungsausschuss, dem Kompetenzteam Inkontinenz oder als | |
Ombudsmann der Früchtetee-Enquetekommission. Dann läutet Pflegerin Helena | |
Schorn das Ende der Sitzungswoche ein und nach einer letzten Abstimmung | |
trollen sich die Politsenioren auf ihre Zimmer. „Morgen ist Sonntag, da ist | |
immer internationaler Frühschoppen“, erklärt Schorn, als sie noch rasch | |
Weinflaschen und Zigarren auf den Tischen verteilt. | |
## Nochmal Deutscher Herbst | |
Auf der Station schließt Hagenhenrich seine Rede gerade mit Verweis auf | |
eigene Verdienste und einigen Seitenhieben auf den politischen Gegner ab. | |
Der jedoch ist gerade außerparlamentarisch beschäftigt, denn Hagenhenrichs | |
bester Kumpel ist mal wieder entwischt. „Wahrscheinlich steht er im | |
Gemüsebeet und versucht, den Lauch für die Weltrevolution zu agitieren“, | |
glaubt Schorn, denn der flüchtige Bewohner erinnert sich bloß noch an seine | |
linksradikale Jugend. „Als ihn neulich grüne Parteifreunde besucht haben, | |
hat er sie als Konterrevolutionäre beschimpft und hochkant rausgeschmissen. | |
Erschießen ging ja nicht“, erzählt die Altenpflegerin. | |
Ausgerechnet mit dem Reaktionär versteht sich der trotzige Trotzkist trotz | |
aller ideologischen Unterschiede blendend. Ob sie draußen noch ein bisschen | |
Deutscher Herbst spielen dürften, erkundigt sich Hagenhenrich, als der | |
Ausreißer mit einem Bund Lauch im Arm wieder auftaucht. „Aber nur fünf | |
Minuten, sonst setzt es eine Rasterfahndung“, fordert Schorn. „Ich gebe | |
Ihnen mein Ehrenwort“, versucht Hagenhenrich einen alten Kniff, aber die | |
Altenpflegerin bleibt hart. Diese Alten verstehen halt nur Basta-Politik. | |
23 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
## TAGS | |
Bonn | |
Demografischer Wandel | |
Verschwundene Politiker | |
Schwerpunkt Flucht | |
Kältewelle | |
Bitcoin | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Deutscher Comic | |
FDP | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: „Als ob die Heimat weg ist“ | |
Betuchte Skipper wollen das Mittelmeer zum Freizeit-Weltkulturerbe erklären | |
lassen. Ihr Ziel: flüchtlingsfreie Häfen. | |
Die Wahrheit: Der Iwan kommt | |
Ein geheimer E-Mail-Wechsel beweist: Die Russen sind verantwortlich für die | |
sibirische Kältewelle, die uns bald überrollt. | |
Die Wahrheit: Die Erektion des Geldes | |
Jetzt Bitcoins kaufen! Sofort! Die Kryptowährung ist der allerneueste heiße | |
Scheiß. Aber es gibt sogar noch frischeren Dunkelzaster … | |
Die Wahrheit: Die Unverwüstlichen | |
Ausweiskontrolle! Wer sind Angela Merkel und Martin Schulz? Der große | |
Wahrheit-Geburtsurkunden-Check jetzt hier. | |
Comic-Zeichner Ralf König übers Altern: „Würde kann eine Spaßbremse sein�… | |
Auch schwule Männer werden älter. Und dann? Das beantwortet Ralf König | |
humorvoll in seinem neuen Comic „Herbst in der Hose“. | |
Die Wahrheit: Lindner, Chris Lindner | |
Die FDP vollzieht ihre Wiederauferstehung im Stil einer Doppel-Null: mit | |
großkalibriger Wumme, Aston Martin – aber ohne Elefanten. |