# taz.de -- Die Wahrheit: Alles, alles die Schuld von Bobbele | |
> Viele Deutsche besorgen sich jetzt Diplomatenpässe und berufen sich auf | |
> Immunität. Strafrechtliche Verfolgung wird so schwierig. | |
Zwei Mitglieder des Diplomatischen Corps der Bundesrepublik Deutschland | |
stehen fröstelnd im Nieselregen an einer Landstraße in der hessischen | |
Provinz. Ihre schwarzen Cutaways sind völlig durchnässt. Traurig tropfend | |
hängen die Schwalbenschwänze herab, während die beiden Diplomaten | |
versuchen, eine internationale Krise mit einem aufgebrachten Mustang-Fahrer | |
abzuwenden. | |
Polizeiobermeister Werner Hergens hatte die beiden Experten für seine | |
kleine Radarfalle angefordert. Er war am Ende mit seinem Latein. Der | |
Mustang-Fahrer weigerte sich, seinen Anweisungen als Ordnungshüter zu | |
folgen. Zwar konnte der Halter des aufgemotzten Schlittens keine gültige | |
Fahrerlaubnis vorweisen, allerdings gab er sich als Sonderbotschafter der | |
Vereinigten Staaten zu erkennen und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen wie | |
Strafzöllen oder hundsgemeinen Tweets seines Präsidenten in den frühen | |
Morgenstunden, falls ihm die Weiterfahrt verweigert würde. Ein | |
Völkerrechtler wurde erfolglos zu Rate gezogen, am Ende intervenierte die | |
Kanzlerin telefonisch, sodass wenigstens eine gemeinsame Abschlusserklärung | |
unterzeichnet werden konnte. | |
„Seit immer mehr Menschen dieser Tage diplomatische Immunität besitzen, | |
sind Verkehrskontrollen nur mehr mit immensem Fingerspitzengefühl zu | |
bewältigen, sonst können sie allzu leicht in bewaffnete Konflikte münden. | |
Vermutlich die Folge unserer doch zunehmend unilateralen Weltordnung“, | |
erklärt Polizeiobermeister Hergens und klopft bereits so beflissen wie | |
zaghaft an die Scheibe des nächsten Wagens. „Führerschein und | |
Fahrzeugpapiere bitte.“ | |
„Sie reden mich gefälligst mit ‚Monsieur l’Ambassadeur‘ oder ‚Son | |
Excellence‘ an, Sie Affenarsch!“, reagiert der Fahrzeughalter ebenso | |
pikiert wie sein Chef Emmanuel Macron, als der jüngst von einem vorlauten | |
Schulkind hinterrücks geduzt wurde. Der Beamte zuckt mit den Schultern und | |
winkt den falschen Franzosen mit teilnahmsloser Miene durch, während der | |
Fanfarenzug der Freiwilligen Feuerwehr Hanau die Marsellaise abspielt, um | |
dem international üblichen Protokoll Genüge zu tun. | |
## Der Wagen ist exterritoriales, ja extraterrestrisches Gebiet | |
Auch den nächsten Wagen darf Hergens nicht untersuchen. „Der Fahrer hatte | |
Dokumente dabei, die ihn als stellvertretenden Kulturattaché von Naboo | |
ausgewiesen haben, akkreditiert von Senator Palpatine persönlich. Da können | |
wir nichts machen. Sein Wagen ist exterritoriales, wenn nicht gar | |
extraterrestrisches Gebiet.“ Doch dann stutzt der Polizist und schaut in | |
seine Kladde.„Verdammt“, entfährt es ihm. „Naboo ist gar nicht auf der | |
Liste, bloß Nauru und Kalaallit Nunaat.“ Bei weltweit 194 existierenden | |
Staaten, die Diplomatenpässe wie am Fließband ausstellen, kann man schon | |
mal den Überblick verlieren. | |
„Wir hatten heute schon den Hausvogt von Atlantis, 19 amtierende | |
Reichskanzler und den Truchsess von Gondor da“, stöhnt Hergens und fordert | |
als Unterstützung einen Literaturwissenschaftler sowie ein paar Historiker | |
und SciFi-Nerds an. „Mittlerweile sind im Straßenverkehr mehr diplomatische | |
Honoratioren unterwegs als damals auf dem Wiener Kongress.“ Tatsächlich | |
tragen ausnahmslos alle Fahrzeuge, die Hergens aus dem Verkehr winkt, das | |
Zusatzkennzeichen „CD“ für „Corps Diplomatique“, auch wenn deren Insas… | |
ihre Titel samt und sonders gekauft oder erfunden haben dürften. | |
Schuld daran ist ausgerechnet Boris Becker. Seit der gefallene Tennisgott | |
einen drohenden Insolvenz-Prozess mit Hinweis auf seine diplomatische | |
Immunität als Sonderattaché der Zentralafrikanischen Republik für Sport und | |
kulturelle Angelegenheiten unterbinden will, erlebt der Handel mit | |
klangvollen Bullshit-Titeln einen riesigen Aufschwung. „Boris hat aber nur | |
eine kostenfreie Demo-Version unseres Diplomatenpasses heruntergeladen“, | |
lässt uns ein Mitarbeiter der zentralafrikanischen Passstelle vertraulich | |
wissen. „Die gerichtsfeste Vollversion gibt’s bei uns gegen Vorkasse. Dafür | |
kommt man damit aber auch umsonst ins Kino.“ | |
## Simonie als lukrative Geldquelle | |
Für notorisch klamme Länder galt „Simonie“ schon immer als lukrative | |
Einnahmequelle – immerhin verdankt der Ämterhandel seinen Namen dem | |
vatikanischen Kirchenstaat –, doch mittlerweile sind Player ins Geschäft | |
eingestiegen, die ihren Kunden in Sachen „Immunität“ mehr Service bieten | |
können als marginalisierte afrikanische Länder oder vergreiste | |
Operettentheokratien. | |
„Ich bin bei den Saudis akkreditiert“, erklärt uns etwa ein recht robust | |
motorisierter Diplomat, der namentlich nicht genannt werden will. „Die sind | |
nicht ganz billig, aber dafür darf man im Straßenverkehr straffrei so viele | |
Radfahrer erlegen, wie man will. Das ist so ein Flatrate-Modell.“ | |
Auch Deutschland öffnet sich vorsichtig dem Titelhandel. Zunächst sollen | |
jedoch nur Risikogruppen, die unter besonderem Verfolgungsdruck der Justiz | |
stehen, gegen Entgelt ins Diplomatische Corps eingegliedert werden. | |
„Negativschlagzeilen wie die Verhaftungen von Audi-Chef Stadler und | |
VW-Manager Schmidt kann sich unsere exportorientierte Wirtschaft nicht | |
leisten“, erklärt ein namhafter Verfassungsrechtler, der darauf hinweist, | |
dass die Autobranche nach deutschem Gewohnheitsrecht ohnehin über dem | |
Gesetz steht. Künftig sollen die Urheber des Dieselskandals deswegen als | |
„Abgassonderbotschafter“ mit Diplomatenstatus ihrer systemrelevanten Arbeit | |
ohne Angst vor Repressalien nachgehen können. | |
Den Schritt in den Massenmarkt wagt dagegen Griechenland. Dort plant die | |
Syriza-Regierung die Demokratisierung des Luxus. Unter dem Slogan | |
„Immunität für alle“ hat das krisengeschüttelte Land kürzlich angekünd… | |
sein diplomatisches Personal in Deutschland aufzustocken. In Zusammenarbeit | |
mit einem deutschen Discounter will man 300.000 neue Botschafter ernennen. | |
„Griechische Wochen bei Aldi“ heißt die Aktion, bloß dass neben | |
Spezialitäten wie Feta und Kritharáki diesmal auch hellenische | |
Diplomatenpässe auf dem Grabbeltisch feilgeboten werden. | |
„Wir reagieren nur auf die Forderungen der Eurogruppe“, wiegelt ein | |
griechischer Offizieller ab. „Ob wir nun unsere Häfen oder den | |
diplomatischen Dienst privatisieren, ist unsere Sache. Hauptsache, wir | |
kommen aus den Schulden raus. Der Rest ist euer Problem.“ | |
300.000 weitere Diplomatenkarossen auf deutschen Autobahnen – diese | |
Entwicklung will Polizeiobermeister Werner Hergens nicht abwarten. „Heute | |
ist mein letzter Tag als Polizist“, sagt der rundliche Mittfünfziger mit | |
der Überkämmfrisur. Der Exekutive wird der joviale Wachtmeister dennoch | |
erhalten bleiben – in deutlich glamouröserer Position: „Zum Hochzeitstag | |
gab es von meiner Frau eine Lizenz zum Töten. Ausgestellt und beglaubigt | |
vom britischen Geheimdienst MI6.“ | |
23 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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