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# taz.de -- Diskussion um Paragraf 218: Nachfolge ungeklärt
> Frauen, die ungewollt schwanger sind, finden in Deutschland immer
> seltener Mediziner, die Abtreibungen durchführen. Eine Ärztin will das
> ändern.
Bild: Abtreibungsgegner beim „Marsch für das Leben“ in Berlin
Münster/Bremen taz | Noch zwei Monate wird er es machen. Dann hört er auf,
nach mehr als 30 Jahren. Als einziger Arzt der Stadt, der abtreibt. Bis
jetzt hat Wolfgang Burkart, 68, niemanden in Münster gefunden, der ihm
nachfolgt. An einem Sonntag im April lässt er sich in seinem Büro
schnaufend in den Schreibtischstuhl fallen. „Tja“, sagt Burkart und schiebt
seinen Körper an den Schreibtisch heran, „will sich eben niemand die Finger
schmutzig machen.“
Auch er selbst lange nicht. „Bin da reingeschlittert, nech.“ Burkart
schiebt dieses Füllwort, wie so oft, nach. Eine seiner früheren Hebammen
war schwanger geworden, ungewollt. Burkart gab ihr eine Adresse, wollte sie
zu dem Arzt in Dortmund schicken, zu dem er Patientinnen immer schickte.
„Da hat sie sich an die Stirn getippt, gesagt, Burkart, du spinnst wohl, du
bist mein Arzt, du operierst, und ich weiß, dass du das kannst.“ Burkarts
Augen suchen etwas, an dem sie sich festhalten können, bis sie eine Packung
Taschentücher finden. „Und da hatte sie natürlich komplett recht.“ 1981 s…
er noch eine Frau sterben, die sich Seifenlauge in die Gebärmutter
gespritzt hatte. „Ist von innen verblutet“, knurrt er. Und dann: „Es war
für mich ein Prozess, zu begreifen, Schwangerschaftsabbrüche wird es immer
geben.“
[1][Doch immer weniger Ärztinnen und Ärzte in Deutschland führen sie
durch.] Wie das Statistische Bundesamt auf taz-Anfrage mitteilt, ist die
Zahl in den vergangenen 15 Jahren um mehr als 40 Prozent gesunken. 2003
waren es noch 2.050 Einrichtungen, die dem Statistischen Bundesamt Abbrüche
gemeldet haben, im dritten Quartal 2018 nur noch 1.173.
## Bis zu 150 Kilometer Anfahrt
In Trier müssen ungewollt Schwangere mehr als 100 Kilometer bis ins
Saarland fahren, um eine Abtreibung zu bekommen. Im hessischen Fulda führt
seit Jahren niemand Schwangerschaftsabbrüche durch, auch hier fahren die
Frauen 80 bis 100 Kilometer weit. In Niedersachsen sind es je nach Region
bis zu 150 Kilometer. In ländlichen und katholischen Gegenden, in
Niederbayern etwa, ist die Lage noch dramatischer.
Seit Jahren weisen die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen ihre
Landesregierungen und Gesundheitsministerien auf diesen Mangel hin. Die
jedoch reagieren meist nicht einmal. Dabei müssen die Länder nach dem
Schwangerschaftskonfliktgesetz ein ausreichendes Angebot an Praxen und
Kliniken für Schwangerschaftsabbrüche sicherstellen.
Einige Ärzt*innen übernehmen Abtreibungen nur für ihre eigenen
Patientinnen. Andere machen ausschließlich medikamentöse Abbrüche, die nur
bis zur 9. Woche nach dem Beginn der letzten Regel möglich sind. Wieder
andere weigern sich, operative Abtreibungen bis zur 12. Woche vorzunehmen.
Dadurch sinkt die Zahl der infrage kommenden Ärzt*innen weiter, und die
Frauen erhalten ihren Termin, wenn überhaupt, immer später.
## 140 Abtreibungen im Quartal
Warum ist das so, was sind die Geschichten hinter den Zahlen?
„Es will sich niemand die Finger schmutzig machen, nech?“, hatte Burkart
gesagt. Man müsse damit in Berührung kommen, sonst fange man nicht an. So
wie er selbst wegen seiner Hebamme. Danach hat er auch Abtreibungen für
seine eigenen Patientinnen gemacht. Und schließlich hätten Kollegen ihre
betroffenen Frauen zu ihm, zum Burkart, geschickt. „Plötzlich hatte ich
nicht mehr drei und sieben Abbrüche im Quartal, sondern 140.“
Früher gab es mehrere wie ihn: Ärzte, die „reingeschlittert“ sind, die es
einfach gemacht haben. Aus Pragmatismus, ohne sich politisch zu
positionieren. Und es gab die anderen, die Idealisten, die es machen
wollten.
Wie die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel, [2][die berühmt
wurde, weil sie auf ihrer Website darüber informiert, dass sie
Schwangerschaftsabbrüche durchführt], und deshalb zu einer Geldstrafe von
6.000 Euro verurteilt wurde. Verurteilt nach Paragraf 219a, der Werbung für
einen Schwangerschaftsabbruch verbietet, aber auch dann greift, wenn
Ärzt*innen nur sachlich über ihr Angebot informieren.
## Immer noch illegal
Auch der Schwangerschaftsabbruch an sich ist nach Paragraf 218 des
Strafgesetzbuchs noch immer illegal und kann mit einer Freiheitsstrafe von
bis zu drei Jahren geahndet werden. Er bleibt jedoch straffrei, wenn
ungewollt Schwangere sich haben beraten und drei Tage Bedenkzeit haben
verstreichen lassen und wenn der Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach
der Empfängnis von einem Arzt vorgenommen wird.
„Man spürt regelrecht, wie die Politik sich gewunden hat. Wie sie nicht
zugeben konnte, dass es den Schwangerschaftsabbruch braucht. Das Verbot
sollte unbedingt im Gesetz stehen.“ Was aus Burkarts Mund in den weißen
Schnauzbart hineinplätschert, ist nicht immer einfach zu verstehen.
„Es wäre viel klüger gewesen, zu sagen, der gewollte und von einem Doktor
vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist bis zur 14. Woche erlaubt, und
alle anderen Fälle sind verboten. Er wäre legalisiert, eine Frau bräuchte
sich nicht zu schämen, und ein Doktor müsste keine Angst vorm Gefängnis
haben.“
Zwar steigt die absolute Zahl von Ärzt*innen in Deutschland immerfort,
gleichzeitig nimmt in einer Gesellschaft des langen Lebens aber auch der
Behandlungsbedarf zu. Insgesamt gibt es zu wenige Mediziner*innen. Wenn die
Ärzt*innen aus der Babyboomergeneration nach und nach in Rente gehen,
verschärft sich dieser Mangel noch.
Nach Ansicht des Marburger Bunds, dem Verband der angestellten Ärzte, setzt
sich ein weiterer Trend fort: Ärzt*innen lassen sich immer seltener nieder,
sondern arbeiten als Angestellte in Kliniken, großen Praxen und
medizinischen Versorgungszentren. Dort entscheidet dann der Chefarzt, ob
abgetrieben wird oder nicht.
## „Moralischer Zeigefinger“
Früher lohnte sich der Schwangerschaftsabbruch zumindest finanziell noch
einigermaßen. Als Burkart anfing, bekam er für einen Abbruch 360 D-Mark,
heute sind es noch 112 Euro. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an das
ambulante Operieren und die Kosten enorm. Abgesehen davon aber hat sich
noch etwas verändert, sagt Burkart.
Er spricht vom „moralischen Zeigefinger der Gesellschaft“, und die
Schnauzbarthaare flattern in der Atemluft, die er dabei ausstößt, wie eine
Girlande im Wind. „100 Prozent der Frauen, die zu mir kommen, haben
Vorurteile und Schuldgefühle. Sie glauben, danach nicht mehr schwanger
werden zu können, sie schämen sich, dass ihnen ‚so etwas‘ passiert ist.“
Burkart schüttelt den Kopf. „Ich habe alle Frauen dabei, von 12 bis 54, von
religiös bis atheistisch, von unverheiratet bis 5-fach-Mutter, und sie
kommen alle mit den gleichen Vorbehalten.“ Im Juni wird Burkart aufhören.
Und weiß nicht, wie es für ungewollt Schwangere in Münster weitergeht.
An einem heißen Tag Ende August zieht Svenja Addicks ihre Knie zu sich
heran, stellt die nackten Füße auf den Sessel, sagt: „Morgen lerne ich
Wolfgang Burkart kennen.“ Sie sitzt in dem Zimmer einer Mitbewohnerin, das
gerade frei ist, so etwas passiert in einer 9er-WG. Svenja Addicks ist
nicht der wirkliche Name der jungen Frau in dieser Geschichte.
Addicks hat lange mit sich gerungen, dann aber entschieden, dass ihr
richtiger Name nicht erwähnt werden soll, der taz ist er aber bekannt. Sie
rechnet mit Anfeindungen, mit Hass, der ihre sonstige politische Arbeit
beeinträchtigen würde. Denn Svenja Addicks, 29, ist Ärztin – und will
Abtreibungen machen. Die Not ist groß, nicht nur in Münster, sondern auch
in Bremen, wo sie wohnt. Dort betreibt Pro Familia eines von vier
medizinischen Zentren in Deutschland. 80 Prozent aller Abtreibungen in
Bremen werden dort durchgeführt.
## Als die Holländer wegblieben
Jahrzehntelang arbeitete das Zentrum mit Ärzten aus den Niederlanden
zusammen. Doch auch die bleiben mittlerweile lieber dort, weil das
gesellschaftliche Klima besser ist und die Bezahlung auch. [3][Als sie
niemanden für das Bremer Zentrum fanden], schrieb die Geschäftsführerin von
Pro Familia mehr als 700 Ärzt*innen an, keiner von ihnen antwortete darauf.
Sie schrieb auch an den Verteiler der „Kritischen Mediziner*innen“. Und
diese Mail las Svenja Addicks.
Wenige Wochen zuvor hatte Addicks eine Veranstaltung der Gruppe in
Frankfurt besucht und dort Kristina Hänel reden gehört. „Sie hat von der
Unterversorgung in Deutschland gesprochen, auf uns eingewirkt, es zu
lernen, Tutor*innen zu suchen, die es uns beibringen“, erzählt Addicks. Als
die Mail von Pro Familia bei ihr einging, schrieb sie zurück.
„Und jetzt gibt es einen Plan“, sagt sie. Zwei Ärzte bilden Addicks aus.
Sie überbrücken so den schlimmsten Versorgungsengpass in Bremen und bringen
gleichzeitig einer jungen Ärztin bei, wie es geht. Einer der Ärzte ist
Wolfgang Burkart aus Münster. Er ist mittlerweile Rentner, zweimal in der
Woche fährt er die 170 Kilometer bis nach Bremen, um dort Nachwuchsarbeit
zu machen.
Bei ihm in Münster hat sich noch niemand gefunden, der Abtreibungen
durchführt. Der andere Arzt, der Addicks ausbildet, ist Dirk Boumann, ein
Holländer, der jahrzehntelang im Bremer Zentrum gearbeitet hat und auch aus
der Rente zurückkehrte. Ohne die beiden hätte der Betrieb dort eingestellt
werden müssen.
Addicks will den Abortion Doctor machen; hat sich die Ausbildung, die es in
dieser Form nur in den Niederlanden gibt, selbst organisiert. Ein
standardisierter OP-Katalog sieht vor, wie viele Eingriffe ein
Abtreibungsarzt in welchen Schwangerschaftswochen durchgeführt haben muss,
bevor er schließlich eine Prüfung ablegt. Zwei Tage die Woche ist Addicks
nun im Bremer Zentrum tätig, macht bis zu 15 Abtreibungen am Tag.
## Im Studium wurde Abtreibung nicht gelehrt
Ab 2009 studierte Addicks in Lübeck Medizin. „Da war der
Schwangerschaftsabbruch praktisch kein Thema.“ Mal eine Folie zur
rechtlichen Situation, mehr nicht. „Das ist doch verrückt, ich studiere
Medizin und nicht Jura.“ Will sie sich über die medizinischen Methoden
informieren, geht das nicht auf Deutsch: „Es existieren überhaupt keine
medizinischen Leitlinien zum Schwangerschaftsabbruch. Normalerweise gibt es
Vorgaben für jeden Eingriff, nur dafür nicht.“
Bereits 2014 hatte Pro Familia das in einem Rundbrief kritisiert. Addicks
ist überzeugt: „Das hängt damit zusammen, dass der Schwangerschaftsabbruch
illegal ist. Das schränkt die Forschung ein, die Ausbildung, die
Weiterbildung.“
Deutsche Mediziner*innen müssen auf englischsprachige Leitlinien
gynäkologischer Fachgesellschaften und der WHO zurückgreifen, die aber
nicht alle vollständig übertragbar sind. Sogar in der gynäkologischen
Weiterbildung hat der Schwangerschaftsabbruch nur wenig Platz. Der
medikamentöse Schwangerschaftsabbruch etwa wird in allen 17
Weiterbildungsinhalten der Landesärztekammern nicht erwähnt. Wie die
Vakuumaspiration, die Absaugmethode.
„Die holländischen Ärzte bekommen deshalb regelmäßig die Krise“, sagt
Svenja Addicks. Seit den 1980er Jahren geht aus englischsprachiger
Literatur hervor, dass die Absaugmethode die für die Gebärmutter wesentlich
schonendere Variante ist. „In Deutschland ist sie immer noch nicht der
offizielle Standard.“ Stattdessen wird bei knapp 15 Prozent der Abbrüche
noch immer ausgeschabt.
Als die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer im vergangenen
November novelliert und vom Deutschen Ärztetag beschlossen wurde, änderte
man an den Passagen zum Schwangerschaftsabbruch – nichts. Auf Nachfrage der
taz erklärt ein Sprecher der Bundesärztekammer, alle Möglichkeiten des
Schwangerschaftsabbruchs seien in den Weiterbildungsinhalt „Beratung bei
Schwangerschaftskonflikten“ einzugliedern. Es sei aber geplant, die
Weiterbildungsinhalte in einem „fachlich empfohlenen Weiterbildungsplan“ zu
spezifizieren.
## Chefärzte entscheiden
In Deutschland ist es jedem Arzt und jeder Ärztin freigestellt, ob sie
Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht, auch jedem Gynäkologen.
„Zu einer illegalen Leistung kann niemand gezwungen werden“, sagt Addicks.
„Das gibt es nur beim Schwangerschaftsabbruch.“ Kann ein Arzt
Blinddarmentfernungen rundheraus ablehnen? Natürlich nicht. „Das muss man
sich mal vorstellen“, sagt Addicks und setzt ihre Füße auf den Boden
zurück, „Chefärzte von Unikliniken können entscheiden, prinzipiell keine
Abbrüche zu machen.“
Ein Piepsen von der Tür. „Kassette zu Ende“, lispelt Addicks’ dreijähri…
Tochter. Addicks geht hinaus, um auf die andere Seite von „Oh, wie schön
ist Panama“ zu wechseln. Als sie wieder sitzt, sagt sie: „Seit ich eine
Tochter habe, weiß ich noch viel besser, was für eine lebensverändernde
Entscheidung das ist. Wenn eine Frau die nicht selbstbestimmt treffen kann,
gibt es niemals Gleichberechtigung.“
Doch empfinden das die meisten Menschen so wie Addicks? In einer Umfrage
des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften sprachen sich 2012 gerade
mal 41 Prozent der Befragten dafür aus, dass ein Schwangerschaftsabbruch
auf Wunsch der Frau gesetzlich möglich sein sollte, unabhängig von
sonstigen Gründen. 59 Prozent waren dagegen.
Das Marktforschungsunternehmen Ipsos führte im Jahr 2016 eine europaweite
Onlinestudie zu Abtreibungen durch, 50 Prozent in Deutschland stimmten für
die Entscheidungsfreiheit der Frau. In Spanien waren es 59, in Frankreich
69, in Schweden 84 Prozent. Nur in Polen war der Anteil mit 33 Prozent noch
geringer als in Deutschland.
Für angehende Ärzt*innen kommt also reichlich viel zusammen: Sie wurden
nicht vernünftig darin ausgebildet, Abtreibungen zu machen. Absolvieren sie
ihre Weiterbildung in einer Klinik mit kirchlichem Träger, kommen sie
womöglich nie mit Schwangerschaftsabbrüchen in Berührung. Finanziell lohnt
es sich längst nicht mehr. Karriere machen Abtreibungsärzte nicht, der
Makel bleibt haften, auch innerhalb der Ärzteschaft.
## Abtreibungsgegner machen mobil
Und auch die Gesellschaft honoriert es nicht. Der von links angestoßene
Wertewandel seit Ende der 1960er Jahre drückte sich lange in feministischen
Initiativen aus, das Recht auf Abtreibung gehörte immer dazu. Doch seit
diesen sechziger Jahren ist der Stimmenanteil rechtspopulistischer Parteien
in Europa von unter 5 auf durchschnittlich 14 Prozent gestiegen. Als
Abwehrreaktion, als „kultureller Backlash“ gegen von links forcierte Werte
– auch gegen freie Abtreibungen. Abtreibungsgegner sind weltweit vernetzt,
von den USA über Russland bis nach Europa.
In Deutschland stopfen sie Plastikföten in Briefkästen von Praxen.
Systematisch überziehen sie Ärzt*innen mit Anzeigen nach Paragraf 219a und
führen eigene Listen von „Tötungsspezialisten“. Sie spazieren mit weißen
Kreuzen durch Städte, halten Plakate mit zerstückelten Föten in die Höhe,
vergleichen Abtreibungen mit dem Holocaust.
Einmal im Monat standen sie auch vor der Praxis von Wolfgang Burkart in
Münster, anfangs direkt vor seiner Tür. Bedrängten alle, die ein und aus
gingen. Sprachen sie an, machten ihnen Vorwürfe. Burkart rief die Polizei,
die verbannte die Gruppe auf die gegenüber liegende Promenade. Dort standen
sie dann und machten weiter.
Im Dezember lernt Svenja Addicks in Bremen die 28-jährige Medizinstudentin
Valerie Graf kennen; auch deren Name ist eigentlich ein anderer. Die beiden
Frauen kommen ins Gespräch. Valerie erzählt Svenja, sie könne sich
vorstellen, später in der Gynäkologie zu arbeiten. Schwangerschaften
abzubrechen, nein, das nicht. Svenja ist entsetzt. Und Valerie findet es
krass, dass Svenja seit nunmehr vier Monaten nichts anderes macht.
„Ich habe nicht Medizin studiert“, sagt Valerie Graf einige Wochen später
am Telefon, „um nur mit dem Töten zu tun haben.“ Vor ihrem Medizinstudium
an der Uni Witten/Herdecke im Ruhrgebiet hat Graf eine Ausbildung zur
Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert, währenddessen auch
Abtreibungen erlebt. Privat begleitet es sie länger. „Mehrere Freundinnen
von mir hatten Abbrüche. Eine hat lange gebraucht, um damit
fertigzuwerden.“
## „Ich möchte nicht die Henkerin sein“
Vor jedem Satz, den sie sagt, überlegt Graf. Sie wählt ihre Worte mit
Bedacht und scheint sie, wenn sie spricht, erneut zu hinterfragen. Nur
selten findet sie drastische Worte, einmal sagt sie: „Ich möchte nicht die
Henkerin sein.“ Graf, das ist bald zu merken, unterscheidet zwischen ihrer
Rolle als Frau und der als Ärztin. „Es gibt Situationen, in denen eine Frau
keinesfalls ein Kind möchte. Das kann ich absolut verstehen. Ich hätte
während des Abiturs auch keines gewollt, habe aber eben auch doppelt und
dreifach aufgepasst.“
Sie sagt, es gebe so viele Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu
verhindern. Sie sagt auch, dass jeder Mensch das Recht haben muss, über
seinen Körper frei zu entscheiden – und relativiert den Satz gleich wieder:
„Selbstbestimmung ist nicht alles. Im Leben geht es um mehr, um
Verantwortung, Respekt vor dem Leben. Ist zum Beispiel die Karriere
wirklich ein Argument gegenüber einem Menschenleben?“, fragt sie und betont
bei dem letzten Wort jede Silbe. Sie sagt, seit dem Gespräch mit Svenja
habe sie viel nachgedacht.
Es müsse Schwangerschaftsabbrüche geben, das unterstreicht sie dann noch
einmal. Aber sie als Ärztin würde sie nicht machen wollen, vielleicht in
Ausnahmefällen. „Vielleicht, wenn ich es wirklich nachvollziehen kann bei
einer Patientin, die ich lange begleitet habe. Aber ich möchte nicht, dass
eine Frau dafür zu mir kommt, ich will nicht diejenige sein, die Leben
beendet. Denn das ist es, was ich tue: Ich töte.“
Als Frau will sie frei über etwas entscheiden können, wofür sie als Ärztin
nicht die Verantwortung tragen möchte. Aber wenn letztlich niemand mehr
damit leben kann und jeder Arzt sein eigenes Seelenheil über das einer
medizinischen Notwendigkeit stellt? „Das kann ich mir eigentlich nicht
vorstellen.“ Wenn nun aber sie selbst keine Ausnahme ist, sondern auch
andere so denken? „Das wäre schlecht“, sagt Graf und schweigt eine Weile.
Das wäre für sie ein Argument, es vielleicht doch zu tun.
Ob sie mit ihrem richtigen Namen in der Geschichte auftauchen wolle? „Nein,
lieber nicht“, sagt sie und ruft dann plötzlich aus: „Da sieht man es: Ich
will das vermutlich aus dem gleichen Grund nicht, aus dem auch immer
weniger Ärzte Abbrüche machen wollen – dieses furchtbare gesellschaftliche
Tabu.“ Ob ihre Freundin nicht vielleicht auch deshalb so lange unter der
Abtreibung gelitten hat? Studien belegen schließlich, dass es nicht der
Eingriff an sich ist, der schmerzt, sondern die gesellschaftliche und
gesetzliche Gängelung danach. „Es ist wohl beides“, sagt Graf.
Es ist kurz vor Weihnachten, einige Wochen nach dem Zusammentreffen von
Svenja Addicks und Valerie Graf. Addicks sitzt in einem warmen
Besprechungsraum des medizinischen Zentrums in Bremen, das sich im
Untergeschoss eines stuckverzierten Altbaus befindet.
## 1:1-Betreuung für den Abortion Doctor
Sie hat die Beine unter einem offenen türkisfarbenen Kittel
übereinandergeschlagen, ihre Haare zu einem Dutt zurückgesteckt. Seit vier
Monaten lernt Addicks nun, wie man abtreibt. Schon kurz nach den ersten
Eingriffen, bei denen sie nur zuguckte, führte sie selbst Abbrüche durch,
immer unter Anleitung von Wolfgang Burkart und Dirk Boumann. „So eine
1:1-Betreuung gibt es sonst nirgendwo“, sagt Addicks. „Ich bin begeistert
von der Arbeit, dem Team, den Gesprächen mit den Frauen.“ Sie hat
Weiterbildungen zu Verhütungsberatung besucht, lernt weit mehr als nur den
Schwangerschaftsabbruch an sich.
Eine Mitarbeiterin kommt herein, steuert auf Addicks zu. „Eine Frau ist
jetzt da“, sagt sie. Addicks erhebt sich schwungvoll und geht hinaus.
Dirk Boumann, der zweite Ausbilder, der ihr bis eben gegenübersaß, blickt
ihr nach, wohlwollend, sagt dann: „Svenja ist vorsichtig und gleichzeitig
mutig, es macht Spaß mit ihr.“ Boumann hat den Abortion Doctor als
Curriculum in den Niederlanden einst mitinitiiert. Als
Schwangerschaftsabbrüche noch illegal waren, gründete er mit anderen
Ärzt*innen, die abtrieben, eine Genossenschaft.
Sie organisierten sich, lieferten wissenschaftliche Belege für ihre Arbeit,
reichten sie an die Politik weiter. Heute kann sich jeder Arzt in Holland
zum Abortion Doctor weiterbilden lassen. „Das ist einmalig“, sagt er.
„Zwischen 30 und 40 Leute sitzen beisammen, lernen gemeinsam, wie man
abtreibt.“ Das verhindert Versorgungsengpässe wie in Deutschland.
Einst arbeitete Boumann in einer in den Niederlanden gängigen Abortion
Clinic in Groningen, bevor er ins Medizinische Zentrum von Pro Familia nach
Rüsselsheim wechselte. Svenja Addicks ist nicht die Erste, die er
ausbildet. Seine prominenteste Schülerin von damals: Kristina Hänel. Sie
sind so wenige, dass sie sich alle untereinander kennen. „Dabei wäre es so
wichtig, dass jeder Mediziner in seiner Ausbildung sich mal anguckt, was
wir machen. Man kann nicht nur Kinder auf die Welt holen“, sagt Boumann.
Der Druck der gut organisierten Abtreibungsgegner nehme sogar im liberalen
Holland zu, berichtet der 70-Jährige. „Niemand weiß, was von denen noch zu
erwarten ist.“ Mit seinem weißen Lockenschopf, dem breiten Kiefer und einer
hochstehenden Nase sieht Boumann aus wie ein ältlicher Rockstar. Einer, dem
sie nichts anhaben können, diese Leute. Aber Dirk Boumann sagt: „Ein Kampf
wie dieser ist nie zu Ende gekämpft. Er bleibt immer in Bewegung.“
An Boumanns rechter Seite sitzt Sabine Ruppert, Krankenschwester im
Medizinischen Zentrum, „Abbruchschwester“, wie sie selbst, mit den Fingern
Anführungszeichen setzend, sagt. „Svenja ist die Zukunft unseres Zentrums.
Eine junge Ärztin, die sich so positioniert und engagiert, ist gerade im
Moment selten.“ Auch weil sich am Paragrafen 219a wohl nichts ändern wird.
Nachdem SPD und CDU ein Dreivierteljahr darüber diskutiert hatten, stellten
sie im Dezember ein Eckpunktepapier vor, das den 219a, so wie er ist,
erhalten will.
## Nur die Städtischen Kliniken in Bremen
Gleichzeitig soll es offizielle Listen geben, auf denen die Länder die
Einrichtungen aufführen, die Abbrüche durchführen. Noch im Januar soll ein
Gesetzentwurf folgen. In Bremen wollten sich von 130 angefragten Praxen und
Kliniken nur die Städtischen Kliniken auf die Liste setzen lassen. „Ergo:
Bringt überhaupt nichts“, sagt Ruppert. „Die Ärzte haben dieselbe Angst v…
Anzeigen wie vorher.“
Svenja Addicks kehrt zurück. „Und?“, fragt Boumann, Svenja lächelt. „Ei…
fertig und eine für dich.“ Sie reicht ihm Unterlagen, und Boumann geht
hinaus.
Hat die Arbeit sie verändert? „Ich bin emotionaler geworden“, räumt sie
ein, „früher habe ich Abtreibungsgegner als Irre abgetan. Heute machen sie
mich wütend. Es heißt immer: Kannst du dir vorstellen, ungeborenes Leben zu
töten? Niemand fragt: Möchtest du das Selbstbestimmungsrecht der Frau
stärken?“
Boumann, Burkart und auch Kristina Hänel dagegen kommen aus einer
Generation, in der das Recht auf Abtreibung als ein Frauenrecht überhaupt
erst erkämpft wurde. „Heute halten es viele jüngere Ärzte für eine
Selbstverständlichkeit, dass es das gibt, und bieten es deshalb selbst
nicht an“, sagt Ruppert. Andere hätten in der Gynäkologie so viel mit
Kinderwunschbehandlungen, Fehlgeburten und langen Leidensgeschichten zu
tun, dass sie wohl deshalb weniger Verständnis für Abtreibungen hätten.
„Dabei hat das alles nichts miteinander zu tun“, sagt Addicks. „Viele Är…
möchten eine schöne Arbeit machen, nicht unbedingt eine politische.“
Ruppert sagt: „Sie wollen Karriere machen, eine Möglichkeit, die es für
einen Abbrucharzt nicht gibt.“ Addicks: „Gerade in Gesundheitsfragen
bekommt heute jeder eingetrichtert, für sich selbst verantwortlich zu sein,
sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben. Und dazu gehört auch: gefälligst
vernünftig zu verhüten.“ Ruppert nickt: „Dann heißt es, wer das heute ni…
schafft, sei selbst schuld. Dafür wollen viele Ärzte nicht mehr ihren Ruf
riskieren.“ „Die haben dann das Teenagermädel im Kopf, das nicht aufgepasst
hat“, sagt Addicks, „dabei ist das der seltenste Fall. Aber wenn eine Frau
ihr drittes Kind noch stillt, verstehe ich, wenn sie kein viertes will.“
## Schwangerschaftsabbruch in den Lehrplan
Als im Frühjahr Wolfgang Burkarts Berufsende absehbar war, setzte Pro
Familia Münster mehrere Hilferufe ab. Organisierte Veranstaltungen, auf
denen auch Burkart sprach. Ein 82-Jähriger reiste an, um den ungewollt
Schwangeren zu helfen. Dann erklärten sich zwei Ärztinnen bereit,
Abtreibungen in ihren Praxen zu machen.
Junge Mediziner*innen melden sich bei Kristina Hänel, fragen, ob sie es
ihnen beibringen könne. Studierendengruppen und kritische
Mediziner*innen vernetzen sich. An der Berliner Charité haben die
Medical Students For Choice erreicht, dass der Schwangerschaftsabbruch
verstärkt in ihren Lehrplan aufgenommen wird. Und Svenja Addicks, mit 29
Jahren noch ganz am Anfang ihres Berufslebens, riskiert ihren Ruf. Sie
macht Abtreibungen.
1 Feb 2019
## LINKS
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[3] https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/abtreibung-aerzte-bre…
## AUTOREN
Hanna Voß
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– und natürlich geht es schnell um mehr als um vermeintliche „Werbung“.
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Patientinnen würden weiterhin wichtige medizinische Details vorenthalten.
Kommentar Gesetzentwurf zu §219a: Der Druck wirkt
Die Koalition bewegt sich in zu kleinen Schritten. Wenn es Grund zum Feiern
gibt, dann wegen der Frauen, die immer weiter für ihre Rechte kämpfen.
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Ärzte und Krankenhäuser sollen darauf hinweisen dürfen, dass sie
Abtreibungen vornehmen. „Meine Homepage bleibt strafbar“, kritisiert
Kristina Hänel.
Paragraf 219a: Proteste in 30 Städten
Am Samstag wird in 30 Städten gegen den Paragrafen demonstriert, der es
ÄrztInnen verbietet, über Schwangerschaftsabbruch zu informieren.
Kolumne Mithulogie: Deutschland wird Entwicklungsland
Seit 2005 hat sich die Zahl der Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche
anbieten, fast halbiert. Sollen wir wieder zum Kleiderbügel greifen?
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