| # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Pioniere mit Löchern im Herzen | |
| > Bei der Recherche für ihren neuen Roman taucht die Kolumnistin in | |
| > spätrealsozialistische Erinnerungen ab. | |
| Bild: Endlich bereit: frisch gebackene Jungpionierin (Symbolbild) | |
| Gerade schreibe ich ja dieses Buch. Den neuen Roman. (Es tut genauso weh | |
| wie beim ersten, aber es hilft ja nichts, alea iacta est, wie der Lateiner | |
| sagt, Schriftstellerin ist Schriftstellerin.) | |
| Es geht um Kindheit in der Wendezeit in dem Buch und die Frage, was man uns | |
| damals eigentlich erzählt und woran wir geglaubt haben. Wollte ich gerne | |
| Pionier werden? Ich stelle mir vor, wie unsere Lehrerin mit uns in | |
| Heimatkunde die zehn Gebote der Jungpioniere auswendig lernte. Frau | |
| Reinicke las sie uns vor: | |
| Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik. | |
| Nicole nickte. René gähnte, Michi versuchte, mit der Mine seines Bleistifts | |
| ein Loch in die Schulbank zu bohren. Frau Reinicke las weiter: | |
| Wir Jungpioniere lieben unsere Eltern. | |
| „Ich mag meine Mama lieber“, sagte Nicole. | |
| „Ich hab sogar zwei Väter“, rief ich. | |
| „Man kann gar nicht zwei Väter haben“, sagte Steffi. | |
| „Klar!“, rief ich. „Ich hab meinen Papa und Roman.“ | |
| „Ich hab zwei Omas“, sagte René. | |
| „Und meine Oma, die hatn Schlüppa, da ham se inna Reinigung jefragt, ob | |
| ditt Überzelt ooch imprägniert werden soll“, sagte Michi. | |
| „Ruhe, Kinder!“, mahnte Frau Reinicke und drehte sich zurück zur Tafel, an | |
| der sie die Gebote in Schönschrift notiert hatte. „Weiter im Text.“ | |
| Wir Jungpioniere lieben den Frieden. | |
| Wir nickten. Wer hatte schon was gegen Frieden? | |
| Wir Jungpioniere halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und | |
| aller Länder. | |
| „Heißt das, wir sollen echt mit jedem befreundet sein?“, fragte Andreas und | |
| sah Nicole scheel an. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. | |
| Frau Reinicke machte schnell weiter: | |
| Wir Jungpioniere lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert. | |
| Wir Jungpioniere achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall | |
| tüchtig mit. | |
| Wir Jungpioniere sind gute Freunde und helfen einander. | |
| Wir Jungpioniere singen und tanzen, spielen und basteln gern. | |
| „Das ist doch alles dasselbe“, sagte Michi. „Wir sollen immer nett und | |
| fröhlich sein. Aber wie soll das gehen? Man ist doch auch mal sauer. Man | |
| muss sich doch auch mal kloppen!“ | |
| „Michael!“, sagte Frau Reinicke streng. „Wir sind hier auf einer | |
| Körperbehindertenschule. Hier wird nicht gekloppt!“ Ich ging damals auf die | |
| KBS Dr. Georg Benjamin in Lichtenberg, wegen meiner Gehbehinderung. Wir | |
| hatten eine eigene Sporthalle, eine eigene Schwimmhalle und eine | |
| Schulärztin, die einen sofort freistellte, wenn man sagte, man habe | |
| Kopfschmerzen. | |
| Michi verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann werd ich eben kein | |
| Pionier“, schmollte er. | |
| Frau Reinicke las weiter. | |
| Wir Jungpioniere treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund. | |
| „Ha!“, rief Michi aus. „Dann will ich doch Pionier werden!“ | |
| „Du willst dich freiwillig waschen?“, rief Andreas entsetzt. | |
| „Welcher Junge geht denn gerne ins Bad?“, bekräftigte René. | |
| „Nee, Sport machen!“, sagte Michi. „Ich will doch mal Fußballer werden.�… | |
| „Du darfst doch gar kein Sport mitmachen?“, spottete Nicole. | |
| Michi hatte ein Loch im Herzen und durfte nicht rennen, deswegen war er | |
| sportbefreit, was ziemlich tragisch war, weil er eigentlich furchtbar gerne | |
| rannte. | |
| „Ich werd Torwart!“, rief Michi wütend. „Der Torwart muss nicht rennen, … | |
| steht nur rum. Und wenn ein Ball kommt, hält er ihn. Und halten kann ich!“ | |
| Frau Reinicke wollte dann mit uns lieber über Vorbilder reden. | |
| „Potti Matthies!“, platzte Michi heraus. „Der Torwart von Union, der ist | |
| mein Vorbild!“ | |
| „Und warum?“, fragte Frau Reinicke und hoffte auf eine pädagogisch | |
| verwertbare Antwort. | |
| Michi zuckte nur die Achseln. „Er ist eben der beste Torwart der Welt.“ | |
| Michi sollte übrigens recht behalten. Zumindest, was das Universum der Fans | |
| des 1. FC Union Berlin angeht. Wolfgang „Potti“ Matthies wurde 2006 zum | |
| „wertvollsten Unioner aller Zeiten“ gewählt. | |
| „Mein Vorbild ist meine Biesdorf-Oma!“, sagte René. „Weil sie alles weiß | |
| und alles kann. Wenn ich groß bin, will ich so werden wie sie.“ | |
| „Mein Vorbild ist Colt Seavers“, rief Steffi, die im Rollstuhl saß und ihre | |
| Beine nicht spürte. Man konnte sie kneifen, bis sie blaue Flecken bekam. | |
| Aber sie sagte keinen Mucks. Sie würde einen großartigen Stuntman abgeben. | |
| Mein Vorbild war Juri Gagarin. Er war in den Weltraum geflogen, was ich | |
| mich nie getraut hätte. Im Weltraum konnte man nicht atmen. Genauso wenig | |
| wie unter Wasser. Ich bewunderte ihn maßlos. Schließlich war ich schon | |
| einmal fast ertrunken. Aber das war eine andere Geschichte. | |
| 27 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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