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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Haareschneideschlaraffenland
> Friseure gibt es in Deutschland wie Butter auf dem Butterberg. Und es
> kommen Tag für Tag immer neue Sahneläden hinzu.
Die Haare auf meinem 47-jährigen Kopf befinden sich seit einer Weile auf
dem geordneten Rückzug. Nun neigt der verbliebene Schopf zur Bürzelbildung,
und zwar seitwärts. Ließe ich sie einfach sprießen, ich sähe in wenigen
Monaten aus wie der späte Schopenhauer auf Anabolika. Ich muss zum Friseur.
Wer zum Friseur muss, hat in diesem Viertel einer westdeutschen Mittelstadt
das ganz große Los gezogen. Es ist ein Haareschneideschlaraffenland. Wir
haben die womöglich verrückteste Coiffeurdichte des Landes – wenn nicht gar
Europas. Fünfzehn verschiedene Läden in fünf Gehminuten, allein vom
Wohnzimmerfenster aus kann ich drei Haareschneidern bei der Arbeit
zuschauen. Angeblich war das „schon immer“ so.
Früher soll unsere Gegend mal ein „Judenviertel“ gewesen sein, und Juden
verdienten ihr „schmutziges Geld“ bekanntlich mit dem tückischen
Abschneiden von Christenhaaren. Heute erzählen von den Juden nur noch
Stolpersteine. Und wo Glatzköpfe einst die Synagoge niederbrannten, steht
inzwischen ein „Deutsch-Türkisches Freundschaftszentrum“.
Heute ist das Handwerk fest in der Hand von Türken und Griechen, es dauert
fort und treibt die bizarrsten Blüten – vom trutschigen Laden an der Ecke
bis zum strahlenden Glaspalast eines „Vize-Weltmeisters“ im Haareschneiden.
Es muss, damals in Las Vegas oder Kinshasa, ein sehr spannendes Finale
gewesen sein.
Ständig schießen neue Salons aus dem Boden wie irgendwas, das mir gerade
nicht einfallen will, aber im Herbst angeblich überall aus dem Boden
schießt. Neulich war ich kurz im Rewe, und als ich wieder vor die Tür trat,
hatte gegenüber, in der bis dahin friseurlosen Lücke zwischen „Hairpoint“
und „Hairpoint 2“ der „Coiffeur La Elegance“ eröffnet.
Wenn das so weitergeht, gibt es bei uns bald mehr Friseure als Frisuren.
Grund ist weniger die Tradition als die gründerfreundliche Lokalpolitik der
Stadt. Wer einen Laden eröffnet, bekommt Geld, und wenn dieser Laden nach
einem Jahr der Cousine oder dem Onkel überschrieben wird, fließt das Geld
weiter. Und so weiter. Der Friseur meines Vertrauens hingegen ist kein
solcher Pirat. Er steht als Aramäer in einer so ehrwürdigen Linie an
Barbieren, dass vermutlich schon einer seiner Ahnen damals in Palästina
irgendwelchen religiös abgedrehten Zimmermännern … weiß man’s?
Ich jedenfalls glaubte daran, als meinem Aramäer plötzlich wieder Haare
wuchsen, statt auszufallen. Ein Wunder, für das allerdings, wie ich bald
lernen musste, ein Haarverpflanzungsinstitut in Istanbul verantwortlich
ist. 1.500 Euro pro Flug und Sitzung. Maximal drei Termine, und fertig ist
die Haarpracht. Ich lachte ihn aus, den eitlen Gecken, worauf er mit
finsterem Blick irgendein aramäisches Sprüchlein hervorzischte.
Istanbul ist eine schöne Stadt. Ein wenig knapp an Friseuren, aber schön.
15 Jan 2019
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Friseure
Haarausfall
Istanbul
Der Spiegel
Wintersport
Kulturgüter
Patriarchat
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