# taz.de -- Bücher über Weimarer Reichsverfassung: Woran die Republik wirklic… | |
> Zum 100. Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung legen Bücher dar: Der | |
> Niedergang der Republik ist nicht allein ihrer Verfassung anzulasten. | |
Bild: Hier wurde die Reichsverfassung zu verabschiedet: Deutsches Nationaltheat… | |
Das waren noch Zeiten für die Linke in Deutschland: Zwei | |
Republikproklamationen an einem Tag, eine sozialdemokratische und eine | |
sozialistische! Und die Menge jubelt, sie bejubelt am frühen Nachmittag | |
Philipp Scheidemann auf dem Balkon des Reichstags und am späten Karl | |
Liebknecht vor dem Berliner Schloss. Dieser 9. November 1918 war der Beginn | |
eines neuen, eines demokratischen Deutschlands. | |
Nach dem [1][hundertjährigen Geburtstag der Republik vergangenen Monat] | |
naht nun ein weiteres Jubiläum: Denn die in den Wirren der | |
Novemberrevolution ausgerufene Republik brauchte schnell eine | |
rechtsstaatliche Grundlage, brauchte eine Verfassung, um der jungen | |
Demokratie einen Rahmen zu geben und sie damit erst richtig ins Leben zu | |
rufen. Zwei neue Bücher widmen sich dieser ersten republikanischen | |
Verfassung Deutschlands, die im August 1919 in Kraft trat. | |
In ihrer Anthologie „Das Wagnis der Demokratie“ erarbeiten die beiden | |
Rechtswissenschaftler Horst Dreier und Christian Waldhoff, gemeinsam mit | |
Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen, eine „Anatomie der | |
Weimarer Reichsverfassung“. Die verschiedenen Aufsätze des Bandes eint das | |
gemeinsame Ziel, die Verfassung nicht nur nach ihrem Text zu beurteilen, | |
sondern politische und historische Zusammenhänge herzustellen. Der Tenor: | |
Das Scheitern der ersten deutschen Republik kann und darf nicht allein aus | |
der Konstruktion ihrer Verfassung heraus erklärt werden. Die zersplitterte | |
Parteienlandschaft wegen einer fehlenden Sperrklausel; ein Reichspräsident | |
als „Ersatzkaiser“; Grundrechte, die nicht einklagbar waren: Mag sein. Aber | |
Weimars Scheitern sei vor allem das Resultat einer hochkomplexen | |
historischen Entwicklung gewesen, wie die Historiker Oliver F. R. Haardt | |
und Christopher Clark in ihrem Einleitungsaufsatz darlegen. Neben vielen | |
anderen Aspekten verweisen sie auf das Problem einer fehlenden politischen | |
Kultur des Kompromisses und des Dialogs, ohne die jeder noch so perfekte | |
Verfassungstext unterlaufen werde. | |
In einem anderen Aufsatz diskutiert Herausgeber Horst Dreier die Rolle der | |
Grundrechte in der Weimarer Verfassung und stellt sich entschieden der | |
Meinung entgegen, dass diese Grundrechte reine „Programmsätze“ und damit | |
„bloße Versprechen“ waren. Vielmehr handelte es sich um konkretes, | |
anwendbares Recht, eine Einschätzung, die auch der damaligen Rechtspraxis | |
entsprach. Das gilt insbesondere für die klassischen Freiheitsrechte wie | |
etwa die Meinungs- und Religionsfreiheit oder die politischen | |
Beteiligungsrechte. | |
## „Komplexes Ursachengeflecht“ | |
Dreier will dennoch nicht von einer „Grundrechterepublik Weimar“ sprechen, | |
vor allem nicht im Vergleich zur heutigen Bundesrepublik. Denn damals waren | |
eben gerade keine Verfassungsbeschwerden bei einem institutionalisierten | |
Gericht möglich, wenngleich überraschende Parallelen zwischen dem | |
Bundesverfassungsgericht und dem Weimarer Strafgerichtshof sichtbar werden. | |
In der Weimarer Verfassung überwog allerdings ein Verständnis der ethischen | |
Bedeutung der Grundrechte. Dass diese Ethik nicht in eine Bürgergesinnung | |
übergegangen sei, führte laut Dreier letztlich zum Untergang der Republik. | |
In diese Kerbe schlägt auch das Buch des Bonner Rechtsprofessors Udo Di | |
Fabio, einer „verfassungshistorischen Analyse“ der Weimarer Republik. Der | |
ehemalige Verfassungsrichter bettet dazu die staatsorganisatorischen | |
Komponenten der Verfassung in ihren zeitlichen Kontext ein, untersucht also | |
ihre konkrete Umsetzung. Geschichte wird so „aus der Perspektive | |
verfassungsrelevanter Fragen erzählt“. Und in der Tat: Die erzählerische | |
Leichtigkeit, mit der Di Fabio vom Aufbruch und Scheitern der Republik | |
schreibt, ist große Freude. Ein Beispiel ist das Kapitel über die Rolle des | |
Reichspräsidenten. Di Fabio untersucht dieses Verfassungsorgan konkret an | |
den beiden Trägern des Amtes, Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg. | |
Allerdings bleibt auch nach eingehender Analyse offen, ob die Weimarer | |
Verfassung hinsichtlich des Reichspräsidenten unter einem | |
Konstruktionsfehler litt oder ob sie lediglich „personell schlecht | |
angewandt“ wurde (was mit Blick auf Hindenburgs Beitrag zur Machtergreifung | |
Hitlers eher ein Euphemismus ist). | |
Auch Di Fabio schreibt also dagegen an, Weimars Scheitern nur aus einer | |
konstitutionellen Schwäche heraus zu erklären. Betrachte man die Sache | |
etwas distanzierter, werde schnell klar, dass die Republik „eher an einem | |
komplexen Ursachengeflecht zugrunde ging, in dem die Verfassungslage gewiss | |
eine Rolle spielte, aber nicht eine notwendige und vielleicht noch nicht | |
einmal eine maßgebliche“. | |
Durch diesen distanzierten Blick kommt Di Fabios Buch stellenweise wie | |
einer rechtsphilosophischen Abhandlung daher, insbesondere wenn er | |
diskutiert, was einer Verfassung den Halt geben könnte, den sie zum | |
Überleben braucht. Er betont dabei die Wichtigkeit einer grundsätzlichen | |
Zustimmung der einem Staatswesen Unterworfenen. Denn jede Institution, auch | |
die Verfassung, bedürfe der „Unterstützung der Köpfe und Herzen“. Sie k�… | |
nicht überleben, „wenn im kommunikativen Prägeraum der Gesellschaft etwas | |
wächst, was der normativen Signatur einer freien und humanen Gesellschaft | |
entgegenläuft“. Werden die Feinde der Republik zu mächtig, kann die | |
Verfassung sie nicht retten. Auch der stabilste Turm stürzt ein, wenn an | |
allen Ecken und Enden gesägt wird. | |
Beide Bücher eint der Appell, Entstehung und Scheitern der Weimarer | |
Republik nicht mit der unvermeidbaren Besserwisserei der Nachwelt zu | |
betrachten. Sie betonen die Offenheit des historischen Moments und damit | |
auch das tatsächliche Potenzial der Weimarer Verfassung. Sie war keine | |
logische Ursache der folgenden Katastrophe. | |
Dennoch konnte ihre Verfassung die erste deutsche Demokratie nicht vor | |
ihrem Niedergang bewahren. Und selbst wenn wir hundert Jahre später mehr | |
Hoffnung in das Grundgesetz legen dürfen: Auch dessen Wehrhaftigkeit lebt | |
von der Wehrhaftigkeit der Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. | |
[2][Berlin ist nicht Weimar, schon klar]. Aber wir sollten dafür sorgen, | |
dass das auch so bleibt. | |
15 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Valentin Feneberg | |
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