# taz.de -- 70 Jahre Erklärung der Menschenrechte: „Eindeutig Luft nach oben… | |
> Menschenrechte müssen immer wieder neu erkämpft werden, sagt Wolfgang | |
> Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte. | |
Bild: Aktivisten in Santiago de Chile demonstrieren zum Tag der Menschenrechte | |
Taz: Herr Kaleck, vor 70 Jahren wurde die [1][Allgemeine Erklärung der | |
Menschenrechte] verabschiedet. Was bedeutet sie heute? | |
Wolfgang Kaleck: Sie ist eine wichtige, symbolische, wirkmächtige | |
Erklärung. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – und aus der Verurteilung der | |
Verbrechen des Nationalsozialismus heraus – setzten sich alle an den Tisch: | |
nicht nur „der Westen“, sondern auch die Sowjetunion und einzelne wichtige | |
Akteure aus dem Süden. Zwar hat es dann im Kalten Krieg viel zu lange | |
gedauert, bis die beiden großen UN-Pakte über [2][politische und | |
bürgerliche Rechte] einerseits und über [3][wirtschaftliche, soziale und | |
kulturelle Rechte] andererseits verabschiedet wurden, um so die | |
Menschenrechte in verbindliche Konventionen und Pakte zu gießen. Trotzdem: | |
Das muss man als absoluten Fortschritt ansehen. | |
Ist der ungebrochen? | |
Es werden noch viel zu viele Menschenrechtsverletzungen an | |
unterschiedlichen Orten der Welt begangen. Und was vor allem Besorgnis | |
erregt, ist die Distanzierung von den Menschenrechten als geltender | |
Standard – nicht nur von den üblichen Verdächtigen wie Russland, China oder | |
der Türkei. Auch europäische Staaten rücken von Menschenrechten ab, und da | |
zeige ich auf [4][Italien] und [5][Österreich] genauso wie auf [6][Ungarn] | |
und [7][Polen.] | |
Was meinen Sie mit „Distanzierung“? | |
Immer offener werden die Menschenrechte zwar als auch zu berücksichtigendes | |
Kriterium erwogen. Aber etwa bei politischen Entscheidungen in Sachen | |
Migration oder Terrorismus erscheint es inzwischen opportun, sich über | |
bindende Standards hinwegzusetzen. Und immer häufiger wird damit gedroht, | |
sich aus bestimmten Verträgen zurückzuziehen. [8][Die USA machen das vor], | |
aber auch andere Länder kokettieren damit. | |
Warum gibt es dagegen so wenig Widerstand? Woran mangelt es? | |
Die Menschenrechtsbewegung ist viel zu autoritätsgläubig gewesen. Es gibt | |
den [9][Internationalen Strafgerichtshof], es gibt die | |
[10][Anti-Folter-Konvention], es gibt die [11][Anti-Genozid-Konvention] und | |
es wird wahrscheinlich eine Konvention über Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit geben. Aber jetzt müssen wir die nächste Stufe erreichen: | |
Diese Konventionen auch gegen mächtige Interessen durchzusetzen. Dafür | |
reicht es nicht, an die Mächtigen zu appellieren. Da muss man ein bisschen | |
mehr in die Waagschale werfen. | |
Was denn? | |
Man muss sozial und politisch mobilisieren, und man muss auch die Mittel | |
und Wege des Rechts ausschöpfen. Und da ist eindeutig Luft nach oben. | |
Aber dazu braucht es politische Mehrheiten. Und im Moment hat man doch das | |
Gefühl, dass das Eintreten für Menschenrechte immer unpopulärer wird. | |
Das kann schon sein, aber muss ich das hinnehmen? Das ist ein | |
Zwischenstand, der zeigt: Was einmal erreicht wurde, ist nicht in Stein | |
gemeißelt, sondern muss immer wieder verteidigt werden. Sollen wir denn | |
jetzt aufgeben, weil nicht alles gleich funktioniert? Das kann es nicht | |
sein. Die Frage ist: Lasse ich mich auf bestimmte Kämpfe ein, ja oder nein? | |
Das sind persönliche und politische Entscheidungen. | |
Kämpfen auf verlorenem Posten ist halt nicht sehr reizvoll. | |
Ach je. Ich kann diese fatalistischen Tendenzen nicht nachvollziehen, und | |
die sind zum Teil auch ahistorisch. Das laute Klagen zum Beispiel, dass die | |
USA als Garant der Menschenrechte weggefallen seien: Der gerade verstorbene | |
und im Vergleich zu Donald Trump als seriöser Politiker gefeierte | |
Ex-Präsident [12][George H.W. Bush] war CIA-Direktor in den siebziger | |
Jahren, als die CIA in zahlreiche schmutzige Kriege verwickelt und | |
Komplizin von Folter und politischen Morden war. Auf der anderen Seite | |
stimmt trotzdem: Die USA sind nicht Russland und China. Immerhin | |
verteidigen sie die Standards zumindest teilweise diskursiv und machen es | |
damit möglich, dass man sie daran messen kann. Das ist wichtig. Insofern: | |
Es ist alles relativ. | |
Also stimmt die Wahrnehmung nicht, dass alles immer schlimmer wird? | |
Die wichtigste Veränderung ist doch, dass wir heute über die Welt Bescheid | |
wissen, und das sehr zeitnah. Aber wir können diese Informationen zum Teil | |
nicht verarbeiten, und dann macht es uns fertig. Das ist unsere | |
Verantwortung: Wir müssen Informationen so verarbeiten, dass wir denk-, | |
analyse- und handlungsfähig bleiben. | |
Was meinen Sie genau? | |
Wir müssen überlegen, wo wir unsere Kräfte sinnvoll einsetzen können. Es | |
nutzt nichts, alle Berichte über Menschenrechtsverletzungen in aller Welt | |
zu kennen und dann zum Ergebnis zu kommen, man könne ja eh nichts tun, weil | |
es viel zu viel ist. | |
Themenwechsel: Es gab immer die Kritik, Menschenrechte seien ein westliches | |
Konzept, geprägt von westlichen Werten, die man nicht einfach anderen | |
Kulturen überstülpen könne. Was halten Sie von der Kritik? | |
Die Substanz der Menschenrechte ist doch: Du darfst nicht willkürlich einen | |
Menschen töten, du darfst nicht willkürlich einen Menschen in den Knast | |
stecken, du darfst keinen Menschen foltern, und jeder Mensch hat das Recht | |
auf Ernährung, Behausung und medizinische Versorgung. Und das ist überhaupt | |
kein westliches Konzept, sondern etwas, was in sehr großen Teilen der Welt | |
sowohl in Gesetzen als auch im Bewusstsein der Menschen als Recht verankert | |
ist. | |
Also ist die Kritik vollkommen unberechtigt? | |
Es gibt eine berechtigte, postkoloniale Kritik, der ich mich anschließe. | |
Das bezieht sich etwa auf das Völkerrecht, in dem sich bis heute bestimmte | |
koloniale Rechts- und Denkfiguren wiederfinden, zum Beispiel die Idee der | |
sogenannten „humanitären Intervention“. Aber im Allgemeinen kommt diese | |
Kritik von den Relativierern: Man suggeriert, dass man für andere Kulturen | |
Verständnis habe, um sich selbst von den Menschenrechten zu lösen. Und | |
immer schwingt dieser Beigeschmack westlicher Überlegenheit mit: „Die | |
schlagen sich da unten die Köpfe ein, die sind noch nicht so weit.“ Aber | |
alle Gruppen im Globalen Süden, mit denen wir als ECCHR zusammenarbeiten, | |
können sehr gut alleine artikulieren, was sie wollen und als ihr Recht | |
empfinden. | |
Also braucht es die Hilfe von Organisationen aus dem Westen – oder aus dem | |
Norden – gar nicht? | |
Ich wünschte mir jedenfalls ein Verständnis bei den hiesigen Akteuren, dass | |
man sich nicht als Helfer und Retter sieht. Es gibt ja im Grunde drei | |
Gruppen, die von Menschenrechten als „westlichem Konzept“ ausgehen: Erstens | |
die Helfer und Retter, zweitens diejenigen, die ihre eigene Macht durch die | |
Relativierung des Konzeptes der Menschenrechte verteidigen wollen, und | |
drittens die Zyniker. | |
Das sind insgesamt ganz schön viele . | |
Aber es gibt ja auch genug Gegentendenzen. Man kann die Menschenrechte aus | |
postkolonialer oder feministischer Sicht kritisieren, ohne das Konzept | |
aufzugeben. Es muss verbessert werden, ohne jeden Zweifel, aber doch nicht | |
abgeschafft! | |
Welche Akteure stehen denn heute am stärksten für eine Verbesserung, | |
Vertiefung der Menschenrechte? | |
Sicherlich soziale Bewegungen, politische Gruppierungen, Teile von | |
Zivilgesellschaften an vielen Orten der Welt. Man sieht das ja selbst in | |
einem Land wie Brasilien, wo jetzt mit Jair Bolsonaro ein homophober | |
Rassist als Präsident gewählt worden ist. Und trotzdem gibt es dort ganz | |
starke Bewegungen etwa der Landlosen oder der Kleinbauern, die man als | |
große Menschenrechtsbewegung einordnen kann. Sie handeln zwar nicht im | |
Glauben an Gesetze oder Justiz – das kann man in Brasilien auch schwer | |
entwickeln. Aber im Kern geht es um das Menschenrecht auf Land und | |
Ernährung weiter Teile der Bevölkerung. Ähnlich sieht es in Mexiko und | |
Kolumbien aus. | |
Und woran fehlt es? | |
Ich wünschte mir, dass sich in Europa nicht nur liberale oder | |
Minoritätengruppen des Konzepts Menschenrechte bemächtigen, dass die | |
Sozialdemokraten und Gewerkschaften Europas an die Tradition einer Zeit | |
anknüpften, als es noch eine kommunistische und sozialistische | |
Internationale gab, die sich mit dem gleichnamigen Lied dem Motto | |
verschrieben hat: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“. Dann | |
würde man auch diese absurde Diskussion vermeiden, wer eigentlich Schuld | |
ist am Aufstieg des Rechtspopulismus. | |
Wo stehen wir in zehn Jahren? | |
Wenn sich mehr Leute dem Kampf für globale Gerechtigkeit verschreiben, dann | |
sieht es besser aus, als wenn das weniger Leute tun. Die Chancen steigen, | |
je mehr Leute sich auf der Seite der Marginalisierten und Entrechteten an | |
diesen Auseinandersetzungen beteiligen. Wenn das immer weniger werden, dann | |
haben es die Trumps dieser Welt leichter. | |
Sie wirken erstaunlich optimistisch, dabei haben Sie doch selbst auf die | |
Tendenz der Relativierung von Menschenrechten hingewiesen, etwa bei der | |
Abschottung vor Flüchtlingen manche Konventionen nicht mehr ganz so ernst | |
zu nehmen oder sogar mit Ausstieg zu drohen. | |
Ich bin seit Jahrzehnten politisch aktiv. Ich habe mein Leben lang | |
rechtsradikale Hetze und Schwachsinn gehört und Thesen, die ich politisch | |
bekämpfe. Das ist heute nicht anders. Nochmal: Es ist eine Frage der | |
Einstellung – verschreibe ich mich diesen politischen Kämpfen oder eben | |
nicht? Für mich gibt es dazu gar keine Alternative. Damit hab ich nicht | |
gesagt, dass wir immer mit den gleichen Mitteln kämpfen müssen. Man muss | |
die Situation analysieren und kreativ bleiben. | |
Können Juristen das? | |
Wir haben als ECCHR das klare Postulat, dass die Durchsetzung von | |
Menschenrechten ein politischer und ein juristischer Kampf ist. Die eine | |
Dimension ist ohne die andere nicht zu denken. Natürlich muss man vor | |
Gericht juristisch argumentieren. Aber sonst nicht, oder jedenfalls nicht | |
nur. Im Gegenteil: Das trägt oft zur Entfremdung bei, wenn man den Kampf | |
für die Menschenrechte als juristische Fachauseinandersetzung begreift, der | |
sonst niemand folgen kann. | |
10 Dec 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-mensc… | |
[2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Datei… | |
[3] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Datei… | |
[4] /Italien-verschaerft-Fluechtlingspolitik/!5548207 | |
[5] /Migrationspakt-der-Vereinten-Nationen/!5545500 | |
[6] /Fluechtlinge-in-Ungarn/!5527593 | |
[7] /Toter-in-polnischer-Polizeiwache/!5403094 | |
[8] /USA-vs-Internationaler-Strafgerichtshof/!5535035 | |
[9] https://www.auswaertiges-amt.de/blob/203446/c09be147948d4140dd53a917c2544fa… | |
[10] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vere… | |
[11] https://www.voelkermordkonvention.de/ | |
[12] /Zum-Tode-von-George-H-W-Bush/!5555022 | |
## AUTOREN | |
Bernd Pickert | |
## TAGS | |
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | |
Menschenrechte | |
Wolfgang Kaleck | |
Schwerpunkt UN-Migrationspakt | |
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | |
Menschenrechte | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
UN-Migrationspakt-Konferenz in Marokko: Absage an Migrationsgegner | |
Marrakesch ist mehr als nur eine protokollarische Inszenierung. Die | |
Weltgemeinschaft hat die Rechtspopulisten ins Abseits gestellt. | |
Kommentar Menschenrechte: Wer relativiert, schwächt | |
Die Erklärung der Menschenrechte jährt sich zum 70. Mal. Bei der | |
Beurteilung von Verstößen sollten keine doppelten Standards angewendet | |
werden. | |
70 Jahre „Erklärung der Menschenrechte“: Das Ziel im Blick, die Realität … | |
Die Erklärung der Menschenrechte ist als Ideal tauglich – nicht aber für | |
das tägliche Handeln. Der Verweis darauf darf nicht überstrapaziert werden. |