# taz.de -- Macht die Flucht nach Europa Sinn?: Eine Couch im gelobten Land | |
> Charles und Sadam sind zwei Jugendfreunde aus Ghana. Einer ist nach | |
> Berlin ausgewandert, der andere blieb in der Heimat. | |
Bild: Unerkannt im Görlitzer Park: Charles | |
BERLIN/ACCRA taz | Hier in der Nähe schläft er. Genau will er die Stelle | |
nicht zeigen, zur Sicherheit. Nur so viel: Der Platz liegt in einem | |
Gebüsch, sodass man ihn von außen nicht sehen kann. | |
Treptower Park an der Spree – ein Landschaftspark in Berlin mit hohen | |
Eichen, Platanen, Buchen, Blumenbeeten und ausgedehnten Wiesen, südöstlich | |
von Kreuzberg. Bei seinen afrikanischen Freunden holt Charles das blaue | |
Einpersonenzelt ab. Wenn er das provisorische Heim errichtet hat, packt er | |
seinen Schlafsack hinein. | |
Manchmal feiert er durch im Yaam-Club, wo HipHop, Reggae oder Afrobeat | |
laufen. Oder er übernachtet bei Kumpels, aber immer nur für ein paar Tage. | |
Sie haben Angst, dass der Gast auffällt. | |
Charles ist 22 Jahre alt, Immigrant aus Ghana, seit 2015 in Berlin. Sein | |
unstetes Leben sieht man ihm nicht an. Er trägt ein dunkelblaues Hemd mit | |
weißen Punkten, modisch am Knie zerrissene Jeans, Silberkette, weiße | |
Kopfhörer um den Nacken, Ohrring, dünnen schwarzen Schnäuzer mit | |
Kinnbärtchen. Er wirkt jugendlich, was auch an seiner Körpergröße von 1,65 | |
Meter liegt. | |
## Erste Schritte zwischen Touris und Dealern | |
Viel Zeit hat er dieses Jahr im Görlitzer Park in Kreuzberg zugebracht. | |
Dort feiern junge Touristen, spielen Musiker, bringen Papis ihren Kleinen | |
die ersten Schritte bei. Und der Drogenhandel boomt. | |
Die Sozialarbeiter im Park berichten, dass die Plätze genau aufgeteilt sind | |
– Nigerianer, die Leute aus der Elfenbeinküste oder Mali, alle haben sie | |
ihre festen Bereiche. Jeder Eingang ist besetzt. Wer den Park betritt, muss | |
sich darauf einstellen, angequatscht zu werden. | |
Will man Charles treffen, muss man zu den jungen Männern aus Ghana. Ihr | |
Revier liegt in der Nähe eines Hügels mit Sitzterrassen. Guter Überblick | |
über die Szene. Charles wartet schon, neben sich eine prall gefüllte | |
blau-weiße Plastiktüte von Aldi. Er ist genervt. „Ich habe kein Geld für so | |
was“, sagt er auf Englisch. | |
## Als Mitteleuropäer braucht man starke Nerven | |
Eigentlich könne sich sein alter Freund Sadam in der gemeinsamen | |
Heimatstadt Accra solche Klamotten auch selbst kaufen. „Aber er will welche | |
von hier.“ Also gab er bei Charles die Bestellung auf. | |
Textilien aus Europa sind besser, toller, schicker als die vom heimischen | |
Markt. Charles verdreht die Augen. Zwei Jeans in der Tüte tragen Etiketten, | |
die Adidas-Sportschuhe sind gebraucht. Die übrigen Kleider stammen aus | |
Charles persönlichem Vorrat. „Sie sehen noch neu aus“, meint er. | |
Zu Hause packe ich den Inhalt [1][in eine gebrauchte Sporttasche], die | |
beiden Jeans und die Schuhe kommen nach oben. Die Tasche reist mit mir in | |
die Hauptstadt Ghanas, zu Sadam. | |
Zongo Junction, Accra. Hier kreuzen sich zwei Verkehrsadern, als | |
Mitteleuropäer braucht man starke Nerven. Auf der Mittelinsel schreit und | |
stöhnt sich ein christlicher Prediger in Ekstase, sein überdrehter | |
Lautsprecher produziert einen Höllenlärm. | |
In Viererreihen blockieren sich Taxis und Kleinbusse, permanentes Gehupe | |
und Geschimpfe hilft bedingt. Dazwischen bieten Kleinhändler Plastiktütchen | |
mit Trinkwasser an, Frauen bugsieren gebratenen Fisch in Eimern auf den | |
Köpfen. Überladene Laster mit Holzkohlesäcken dröhnen vorbei. | |
## Seinen Bruder zurücklassen | |
Zur Begrüßung nimmt Sadam die Plastiksonnenbrille mit dem Versace-Logo ab – | |
„so you see my face“, „damit du mein Gesicht siehst“. Breite Augen, bre… | |
Lächeln, Trägershirt über trainiertem Body, Jogginghose, links zwei goldene | |
Ohrstecher. Er hat einen Freund mitgebracht, der von nun an die Tasche aus | |
Europa tragen wird – ohne sie zu öffnen. | |
„Sadam und ich waren wie Brüder“, sagt Charles. Vielleicht zehn Jahre haben | |
sie zwei Minuten voneinander entfernt gelebt. Die meiste Zeit waren sie | |
zusammen, zum Essen in den Familien, auf den Straßen des Viertels. | |
Sadams Zuhause ist ein kleiner Hof, einstöckige Steingebäude umringen ein | |
betoniertes Rechteck. Von den ärmlichen Bretterhütten in der Nachbarschaft | |
hebt es sich positiv ab. Hier leben auch seine Eltern, seine beiden | |
jüngeren Brüder und seine Schwester mit ihrer Familie. Wäsche hängt auf den | |
Leinen. | |
An der Rückseite des Vaterhauses liegt der Kuhstall, aber er steht leer. | |
Auch Charles war Hirte. Tagsüber führten die beiden die Tiere zusammen auf | |
die Brachflächen zwischen die Siedlungen entlang des Kanals. Waren die Kühe | |
groß genug, wurden sie zum Schlachten verkauft. | |
Das hat Charles zurückgelassen. 2015 ging er auf die Reise. So sagen das | |
auch andere Ghanaer: Reise – nicht Flucht oder Emigration. Er verkaufte | |
eine goldene Kette seines Vaters, seine Familie gab ihm Geld, mit etwa | |
2.000 Euro brach er auf. Er flog nach Istanbul – ganz legal. In der Türkei | |
schloss er sich dem Treck der Syrer über die Balkanroute an. Schließlich | |
das gelobte Deutschland. | |
## Müssen die kriminell werden? | |
Mir gehen die Dealer im Görlitzer Park auf den Wecker. Wenn ich von meiner | |
Kreuzberger Wohnung an die Spree jogge, sehe ich sie dort warten, morgens, | |
abends, bei Regen oder Schnee. Ich stelle mir Fragen, die man für sozial | |
ignorant oder rassistisch halten mag. | |
Müssen die Jungs kriminell werden, kaum dass sie bei uns angekommen sind? | |
Ist es Lebenszeitverschwendung, jahrelang in einem deutschen Park | |
herumzuhängen, um ein paar Euro mit dem Verkauf von Haschisch einzunehmen? | |
Wäre es nicht besser gewesen, das Geld für die Reise zu Hause für eine gute | |
Ausbildung auszugeben? | |
Charles sagt, er deale nicht. Er hänge nur mit seinen Freunden rum. Für | |
diese Version spricht, dass er tagelang nicht im Park auftaucht. | |
Gut 1.000 Ghanaer*innen sind 2017 nach Deutschland gekommen – [2][eine | |
kleine Zahl im Vergleich zu anderen Herkunftsländern] wie Syrien, Irak oder | |
Afghanistan. Die meisten Ghanaer*innen haben keine Chance auf Asyl. Denn | |
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stuft ihre Heimat als sicheren | |
Staat ein. Die Demokratie funktioniert dort halbwegs, es herrscht kein | |
Krieg. | |
Charles bekam einen Wohnheimplatz in einer Kleinstadt in Ostdeutschland | |
zugewiesen. Dort wohnen will er aber nicht, auch weil er Angst davor hat, | |
abgeschoben zu werden. Er ist lediglich geduldet, bekommt monatlich 140 | |
Euro Bargeld ausgezahlt und findet keine Arbeit. Für ihn geht es nicht vor | |
und nicht zurück. Er steckt in der Sackgasse. | |
## Liegt der Wohlstand doch in der Heimat? | |
In Ghana konnte er immerhin etwas Geld verdienen. Für eine Kuh bekam er | |
1.500 ghanaische Cedi, umgerechnet etwa 270 Euro. Damit kann man als | |
Einzelperson einige Monate über die Runden kommen. Zum Vergleich: | |
Berufsanfänger erhalten nach der Schule vielleicht 350 Cedi im Monat. Ein | |
junger Lehrer kommt auf 750 Cedi. | |
Mit einem Tuch wedelt Sadam dem Kälbchen vor der Nase herum. Es scheut, | |
zerrt auf dünnen Beinchen am Strick. Sadam schnalzt mit der Zunge, | |
streichelt das gräuliche Fell. Tiere sind sein Ding, das sieht man. Aber | |
diese Kühe, Ziegen, Schafe gehören nicht ihm, sondern einem Nachbarn. | |
„Meine Herde gibt es nicht mehr“, sagt er. Eines Tages erschien ein | |
Abgesandter der Stadtverwaltung und erklärte, dass Sadams Viehhaltung neben | |
dem Abwasserkanal nun verboten sei. Der Kanal liegt hinter Sadams Haus, | |
Plastikflaschen und Tüten treiben auf der schillernden Brühe, die übel | |
riecht. Der Verkauf des Fleisches gefährde die Gesundheit der Käufer, | |
entschied die Stadtverwaltung. | |
Seitdem ist Sadam Tagelöhner. Er hilft dem Nachbarn mit den Tieren, ihre | |
Weiden liegen außerhalb der Stadt. An manchen Tagen bringt er 60 Cedi nach | |
Hause, an anderen nichts. Schwierige Lage, denn Eltern, Geschwister, Enkel | |
erwarten von ihm, dem ältesten Sohn, dass er die traditionelle Rolle | |
erfüllt und die ganze Familie ernährt. | |
## Halb arm, halb reich | |
Sein Vater habe Vertrauen, sagt Sadam, aber er mache auch Druck. Oft gibt | |
es Streit. Sadam steckt in der Klemme. Ständig beschwert er sich über die | |
Ausweglosigkeit, die Armut, die Politik. Hat er mal eine andere Art des | |
Gelderwerbs ausprobiert? „Früher arbeitete ich bei einem Klempner, aber das | |
bringt zu wenig Geld.“ | |
Überhaupt: „Unsere Familie hat immer Vieh gehalten, mein Vater, mein | |
Großvater. Das ist meine Aufgabe.“ Der vorgezeichnete Lebensplan | |
funktioniert jedoch nicht mehr wie früher. Accra expandiert. Wo sich einst | |
herrenloses Land erstreckte, entstehen Wohngebiete, Autogeschäfte, | |
Werkstätten. Sadam ist ein Modernisierungsverlierer. | |
Ghana sei „halb arm und halb reich“, sagte 2013 der damalige | |
Staatspräsident Dramani Mahama. Laut Weltbank hat das Land den Status eines | |
Staates mit „mittleren Einkommen im unteren Bereich“ erreicht. | |
Es gibt Autobahnen und vernünftige Fernstraßen. Auch kleine Dörfer haben | |
inzwischen Strom. Wer von Accra an der Küste ins 250 Kilometer nördlich | |
gelegene Kumasi fährt, passiert zahlreiche neue Siedlungen. Die | |
Zinkblechdächer glänzen in der Sonne. | |
## „Jeder in Ghana will weg“ | |
Andererseits sind die Lebensumstände von Millionen Menschen sehr schlicht. | |
Aus europäischer Sicht kann man große Viertel in der Hauptstadt als Slums | |
bezeichnen. Tausende leben auf der Mülldeponie Agbogbloshie, wo sie | |
Elektronikschrott ausschlachten. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf erreicht | |
in Ghana etwa 1.500 Euro pro Jahr. In Deutschland sind es 40.000 Euro. | |
Ghana mag heute [3][etwas weniger arm sein als früher], doch der sogenannte | |
Wohlstand umfasst dort vier Prozent von unserem. Was dieser Unterschied | |
bedeutet, kann sich jeder Ghanaer im Internet anschauen. Eine Studie des | |
US-Sozialforschungsinstituts Pew ergab vergangenes Jahr, dass drei Viertel | |
der Bevölkerung das Land verlassen würden, wenn sie könnten. | |
Bedenkt man all das, kann man Charles’ Entscheidung zur Auswanderung | |
plausibel finden. „Jeder in Ghana will weg“, sagt Charles, auf den Stufen | |
im Görlitzer Park sitzend. Geht es um sein Land, redet er sich in Rage. | |
Im Krankenhaus dort lägen die Patienten auf dem Flur. Anstatt die | |
Gesundheitsversorgung zu verbessern, investierten die Politiker die | |
Entwicklungshilfe lieber in Luxuslimousinen. „Die Wahrnehmung der Leute | |
ist: Im Ausland geht alles besser.“ | |
## Die Todesgefahr schreckt ihn nicht | |
Auch Sadam will aufbrechen. Die gefährliche Reise durch Libyen, die | |
Todesgefahr auf dem Mittelmeer schrecke ihn nicht, sagt er. „Ich bin | |
bereit, mein Leben zu riskieren, um Europa zu erreichen.“ Noch ist das mehr | |
Wunsch als Plan. An den rostigen Nissan-Landrover seines Nachbarn gelehnt, | |
sagt er: „Bevor ich reise, muss meine Familie versorgt sein.“ | |
Sein Plan: Geld sparen, ein Grundstück außerhalb der Stadt kaufen, neues | |
Vieh anschaffen, dann los. Der alte Lebensentwurf – ein letztes Mal. | |
Aber ist der Weg nach Europa wirklich die einzige Möglichkeit, die Sadam | |
hat? | |
Fünf Kilometer von seinem Elternhaus entfernt stehen an einer breiten | |
Vorortstraße die blau-weiß gestrichenen, einstöckigen Gebäude des | |
Opportunities Industrialization Centre Ghana (OICG), frei übersetzt Zentrum | |
für Berufsausbildung. | |
Die Schüler*innen werden hier zu Automechaniker*innen, | |
Elektriker*innen, Näher*innen, Grafikdesigner*innen und | |
Köch*innen ausgebildet. Das Ziel ist die Selbstständigkeit. Viele | |
Absolvent*innen schaffen das. Sadam hat noch nichts davon gehört. | |
Die 29-jährige Friseurin Alima Seidu – Goldzahn vorne, dicke Golduhr, | |
schwarzer Bobschnitt – hat im OICG gelernt. Auf der lila gestrichenen | |
Veranda ihres Ladens flicht sie einer Kundin Extensions in die Haare. | |
An den Wänden des vier Quadratmeter kleinen, aus Brettern gebauten Raumes | |
hängen ein Riesenspiegel und Haarmodefotos. Es gibt ein mobiles Waschbecken | |
und eine rote Trockenhaube. Fünf Jahre ist es her, dass sie ihr Geschäft | |
eröffnete. Jetzt hat sie fünf Auszubildende. „Von meinen Einnahmen kann ich | |
mich, meinen Bruder und mein Kind finanzieren“, sagt Seidu. | |
## Der Ghanaische Traum | |
Während der dreijährigen Berufsausbildung zur Friseurin arbeitete sie | |
nebenbei als Wäscherin, sparte etwa 5.000 Cedi (900 Euro). Die Schule gab | |
zusätzlich eine Starthilfe von 7.000 Cedi (1.250 Euro). Damit gründete sie | |
ihr Business in Ghana. Sie verfügte ungefähr über denselben Betrag wie | |
Charles, der das Geld jedoch für die Emigration verwendete. | |
Die Schule war ein Glücksfall. „Zufällig hörte ich davon im Radio“, so | |
Seidu. Der Vorteil beim OICG: Im Vergleich zu anderen Bildungsgängen sind | |
die Gebühren niedrig – auch dank der Kooperation mit der evangelischen | |
Entwicklungsorganisation Brot für die Welt in Deutschland. | |
Zwar kann OICG nur rund 600 Bewerber*innen jährlich aufnehmen. | |
Grundsätzlich beweist das Modell aber, dass junge Leute in Ghana etwas | |
reißen können, wenn sie wollen. | |
Auf seiner Inspektionstour besucht Sam Debrah den Laden von Alima Seidu. Er | |
ist der Schulleiter des OICG, 50 Jahre alt, trägt ein kragenloses lila Hemd | |
mit goldenem Muster über der Brust und dunkle Brille mit blauem Rand. | |
„Es ist nicht wahr, dass alle wegwollen“, sagt er bestimmt. Aber auch er | |
räumt ein: „Es gibt Gründe zu gehen.“ Zum Beispiel den Klientelismus: | |
Politiker tendieren erst mal dazu, ihre Familie, Freunde und Ethnie mit | |
Geld und Aufstiegschancen zu versorgen, bevor andere drankommen. | |
Außerdem müssen junge Leute und ihre Familien oft beträchtliche | |
Schulgebühren oder Schmiergeld aufbringen, damit sie mit der Bildung | |
vorankommen. | |
Die meisten öffentlichen Schulen verlangen Gebühren. Wer eine Lehre machen | |
will, muss dem Meister etwas zahlen, anstatt einen Lohn zu erhalten. Viele | |
Familien können sich das nicht leisten. „Ich rate meistens trotzdem davon | |
ab, ins Ausland zu gehen“, sagt Schulleiter Debrah, Ghana sei ein | |
Entwicklungsland, aber es mache Fortschritte. | |
## „So oder so bin ich arm“ | |
In Ghana ist immer Sommer. In Berlin beginnt der Herbst. Kalte Nächte, das | |
Zelten wird schwieriger, das Leben auch. Charles kommt nicht zur | |
Verabredung auf den Stufen im Görlitzer Park. „Einfach vergessen“, erzählt | |
er am nächsten Tag, „ich war so niedergeschlagen. Manchmal bedauere ich, | |
dass ich weggegangen bin.“ | |
Er fühlt sich alleine, abgeschnitten, fremd, hilflos. „Manchmal denke ich: | |
Alles Zeitverschwendung hier.“ Er sehnt sich zurück nach seiner Heimat. | |
Aber gleichzeitig auch nicht. Denn er meint zu wissen, dass sich zu Hause | |
nichts ändert. „So oder so bin ich arm“, sagt er, „dann schon lieber arm… | |
Berlin.“ | |
Die Sozialarbeiter im Park haben ihr Büro in einem ehemaligen Bauwagen | |
unweit der Stufen, von denen Charles in die Gegend guckt. Sie kennen die | |
Situation der jungen Afrikaner. Für die sei der Zustand, in Berlin zu sein, | |
vergleichbar mit einem Auto im Leerlauf, das jederzeit losfahren kann. „In | |
Deutschland kann man wenigstens hoffen.“ | |
„Ja, genau“, sagt Charles. Er kenne einige Landsleute in Berlin, die vor | |
zehn Jahren angekommen seien und es geschafft hätten. Einer habe eine | |
Deutsche geheiratet, ein anderer arbeite legal in einem Restaurant und habe | |
mittlerweile einen besseren Aufenthaltsstatus. „Die sagen: Du hast das | |
Schwierigste hinter dir – die Reise nach Deutschland.“ Jetzt müsse er | |
durchhalten. | |
Manchmal fragt er in Geschäften und Firmen in Kreuzberg nach Arbeit. Wenn | |
die Chefs von seiner Duldung hören, winken sie ab. So einer kann nächste | |
Woche schon abgeschoben werden. | |
## Ein gigantisches Missverständnis | |
Ein Restaurant in der Nähe der Zongo Junction. Es gibt Banku – gesäuerten | |
Maisteig, scharfe Tomatensoße und gebratenen Fisch. Nun macht Sadam sich | |
daran, die Tasche mit den Textilien aus Europa zu inspizieren. Er findet | |
die Jeans, die Sportschuhe und ist zufrieden. „Wäre Charles hiergeblieben“, | |
sagt Sadam, „hätte er diese Tasche nicht schicken können.“ | |
Für ihn ist sie ein Zeichen des Erfolgs der Auswanderung. Für Charles | |
dagegen ein bitterer Beweis seines Misserfolges. Der Inhalt dieser halb | |
vollen Tasche ist ein mageres Produkt seiner zweieinhalb Jahre im gelobten | |
Land. Und es erscheint fraglich, ob sich das ändert. | |
Er schicke kein Geld nach Hause, sagt er, es bleibe nichts übrig. Unter | |
diesen Umständen zurückzukehren, quasi mittellos, ist auch keine Option. | |
„Meine Familie und Freunde wären nicht erfreut.“ | |
Der eine ist gegangen, der andere geblieben. Es ist die Geschichte eines | |
gigantischen Missverständnisses. „Er genießt das Leben da drüben“, ist | |
Sadam sich sicher. | |
Andererseits: „Wie er wirklich lebt, weiß ich nicht.“ | |
## Eine Couch im gelobten Land | |
In all den Jahren haben die beiden zwei, drei Mal miteinander telefoniert. | |
Fragen habe Sadam dabei kaum gestellt, gibt er zu. Er habe den Freund nicht | |
bedrängen wollen. Und der hat sich wohl geschämt, die Wahrheit zu erzählen. | |
Für Charles ist das gelobte Land auf ein Zelt im Park und die Couch bei | |
Freunden geschrumpft, für Sadam blieb es eine flirrende Fata Morgana. | |
Nun will Sadam wissen, was ich ihm über Charles’ Situation berichten kann. | |
Ich frage mich, wie ehrlich ich sein soll. Darf ich Dinge erzählen, die | |
Charles seinem Freund nicht mitgeteilt hat? Kein Geld, keine Arbeit, keine | |
deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Leben am untersten Ende. Illusionen am | |
Leben zu erhalten hat jedoch keinen Sinn. | |
Ich rate Sadam und seinem Freund davon ab, denselben Weg zu gehen. Dabei | |
höre ich mir zu. Es klingt merkwürdig. Ein Bürger des viertreichsten Landes | |
der Erde erklärt einem Ghanaer, dass er sein Glück zu Hause versuchen | |
solle. | |
Wenn ich nun durch den Görlitzer Park renne und den Dealern begegne, denke | |
ich allerdings auch daran, wie angenehm ich während der ersten Tage nach | |
meiner Rückkehr die hiesige Lebensqualität empfand. Keine offenen Kloaken | |
am Straßenrand, in die man abends mangels Straßenbeleuchtung zu fallen | |
riskiert. | |
Meine Botschaft kommt an. Der junge Mann auf der anderen Seite des Tisches | |
hört auf zu essen. Minutenlang sagt er nichts. Guckt ins Leere. „Charles | |
findet keine Arbeit?“, fragt er dann. Er ist erschüttert. Das ist das | |
Gegenteil seines Bildes vom reichen Norden. „Keine Arbeit habe ich auch | |
hier.“ | |
Etwas später: WhatsApp-Kommunikation zwischen Berlin und Accra. „Sadam, | |
denkst du noch darüber nach, Richtung Europa aufzubrechen?“ Antwort: „Wie | |
gesagt: Wenn ich meine Familie versorgt habe, wird mich nichts davon | |
abhalten, Hannes.“ | |
25 Dec 2018 | |
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