# taz.de -- Ehrenamt trotz Ruhestand: Gegen das Schweigen ankämpfen | |
> Bosiljka Schedlich betreut seit fast 30 Jahren Kriegsflüchtlinge aus | |
> Ex-Jugoslawien. Auch mit 70 denkt sie nicht ans Aufhören. | |
Bild: „Es gab Dinge, über die konnte auch ich nicht sprechen“: Bosiljka Sc… | |
Eine kleine Ecke ist Bosiljka Schedlich geblieben. Der Schreibtisch, kaum | |
größer als ein Beistelltisch, drückt sich in den Räumlichkeiten des Vereins | |
Südost Europa Kultur zwischen Fenster und Bücherregalen. „Die Fotos meiner | |
Kinder habe ich mittlerweile abgehängt und mit nach Hause genommen“, sagt | |
sie. Doch das Gemälde aus Dalmatien und ein Bild von ihr mit dem Dalai Lama | |
hängen noch. | |
Denn obwohl sie vor einigen Jahren in Rente gegangen ist und gerade ihren | |
70. Geburtstag feierte, denkt sie nicht daran, ihr Lebensthema ruhen zu | |
lassen: die psychischen Folgen von Kriegen, besonders im damaligen | |
Jugoslawien. Mit ihrer Stiftung Überbrücken unterstützt Schedlich bis heute | |
Projekte – sie selbst wurde in Kroatien geboren. | |
Angefangen hat diese Arbeit mit dem Verein Südost, den sie 1991 zusammen | |
mit Freunden gegründet hat, als in ihrer Heimat der Krieg ausbricht. Kurz | |
darauf bezieht der Verein den zweiten Stock des alten Kreuzberger | |
Mietshauses. Von Anfang an ist viel zu tun: Bis 1995 fliehen etwa eine | |
halbe Million Menschen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland, 45.000 von | |
ihnen nach Berlin – viele tief traumatisiert. Für diese wird der Verein zu | |
einem wichtigen Anlaufpunkt. | |
Schedlich sitzt im Besprechungsraum. Die dunklen Haare trägt sie nach | |
hinten gebunden, dazu eine lila Weste und ein hellblaues Halstuch. Das | |
Auffälligste an ihr ist wohl der wache Blick, mit dem sie ihr Gegenüber | |
beim Gespräch fokussiert. Dabei lehnt sie sich im Stuhl gelassen zurück. | |
## Schlange von Hilfesuchenden | |
Durch den Flur laufen Leute, mal sprechen sie Kroatisch, Bosnisch oder | |
Serbisch, mal Deutsch miteinander. Jedes Zimmer kennt Schedlich hier, in | |
einigen davon haben Hunderte Menschen ihre schlimmsten Kriegserlebnisse mit | |
ihr geteilt. Etwa im Jahr 1995, als der Daytoner Vertrag den Krieg in | |
Bosnien-Herzegowina zumindest offiziell beendete und die deutschen | |
Innenminister entschieden, die Geflohenen sollten nun wieder zurückkehren. | |
Am nächsten Tag stand eine Schlange von Hilfesuchenden vor ihrem | |
Arbeitszimmer, den ganzen Korridor entlang. | |
„Sie wollten mir ihre Geschichte erzählen“, sagt Schedlich und hebt den | |
Blick. „Der Umstand, dass sie dahin zurückmussten, führte dazu, dass sie | |
retraumatisiert wurden.“ Was sollte Schedlich also tun? „Ich konnte diese | |
Menschen nirgendwo anders hinschicken“, sagt sie. Also hörte sie zu. Jeden | |
Tag. | |
Schließlich organisierten sie und ihr Team wöchentliche Gruppensitzungen. | |
Pro Termin kamen bis zu 70 Menschen, die endlich ihre Erlebnisse | |
aussprechen wollten. Doch am schlimmsten seien die Schweigepausen gewesen, | |
erinnert sich Schedlich. Einmal kam ein Mann aus Srebrenica und schilderte, | |
wie er sich nach dem Massaker unter den Leichen verstecken musste, um nicht | |
als Lebender entdeckt und getötet zu werden. „Danach gab es in der Gruppe | |
eine unfassbare Stille – eineinhalb Stunden lang. Das war schwer | |
auszuhalten.“ | |
Dass all das viel mit ihrem eigenen Trauma, wie sie es nennt, zu tun hat, | |
begreift sie erst später. Auch ihr Vater sei oft aggressiv gewesen, so wie | |
die Männer in den Gruppensitzungen. Auch ihr Vater habe zu Beginn der | |
Jugoslawienkriege nur vom Zweiten Weltkrieg gesprochen, in dem er als | |
Partisan gekämpft hatte. Auch ihr Vater habe unter den Kriegen der 1990er | |
gelitten, die seine Erinnerungen zurückholten. „Ich habe verstanden, dass | |
er nie jemanden zum Reden hatte“, sagt sie. „Ich wusste an dieser Stelle, | |
dass der Krieg, das Trauma meines Vaters, auch in mir drinsteckt.“ | |
## Die Gräben schließen | |
Später erfuhr Schedlich in einer therapeutischen Weiterbildung, dass sich | |
traumatische Erfahrungen bis zu sechs Generationen übertragen können, „wenn | |
sie niemand aufarbeitet und den Graben schließt“. Schedlich wollte diesen | |
Graben unbedingt schließen. „Es gab Dinge, über die konnte auch ich nicht | |
sprechen“, erzählt sie. „Jetzt tue ich das auch für meine Kinder.“ Heute | |
lebt sie mit der Tochter und ihren Enkeln in einem Haus in Frohnau am Rande | |
von Berlin. Auch der Sohn und seine Kinder wohnen ganz in der Nähe. | |
Als sie 1968 nach Berlin kam, war sie noch alleine. In einem Vorort von | |
Split in Kroatien stieg die damals 19-Jährige in einen Bus voller anderer | |
Gastarbeiterinnen. Darin überquerten sie an einem Oktobertag die Grenze | |
nach Westberlin. „Überall waren Stacheldrähte, Soldaten und | |
Maschinengewehre“, erinnert sie sich. Die anderen Frauen im Bus sangen und | |
lachten. „Ich nicht.“ Sie habe einen verzweifelten Vater zurückgelassen, | |
und von ihrer Mutter, die zu spät nach Hause gekommen war, habe sie sich | |
gar nicht erst verabschieden können. „Ich sah deshalb wahrscheinlich andere | |
Dinge als die anderen Frauen. Ich sah die Wunden an den Häusern und an den | |
Menschen.“ | |
In Berlin wollte sie Geld für ihr Studium verdienen. Dafür kontrollierte | |
sie in einer Fabrik der AEG-Telefunken Nadeln von Plattenspielern mit dem | |
Mikroskop. Sie und andere Arbeiterinnen schliefen in einem ehemaligen | |
Lazarett aus dem Zweiten Weltkrieg. „Es waren dieselben Betten wie damals, | |
dieselben Matratzen und Decken“, erinnert sie sich. Nach einem halben Jahr | |
verließ sie die Fabrik, wurde Dolmetscherin in einem Wohnheim und später am | |
Arbeitsgericht und studierte Germanistik. „Ich schlug Wurzeln hier“, sagt | |
Schedlich. „Ich habe gar nicht daran gedacht zurückzukehren.“ | |
Dann kam 1991 und damit der Krieg. Die Menschen veränderten sich – auch in | |
Berlin. „Plötzlich haben sich alle Jugoslawen hier ihrer Nationalität | |
zugeordnet.“ Freunde wandten sich von einander ab, Ehepaare ließen sich | |
scheiden. Die Menschen seien in die Vergangenheit zurückgefallen, meint | |
Schedlich. „Plötzlich sprachen alle vom Zweiten Weltkrieg oder dem, was vor | |
600 Jahren auf dem Amselfeld passiert ist. Sie waren wie psychotisch.“ | |
## Bis heute politisch aktiv | |
Zu dieser Zeit gründeten sich in Berlin eine Reihe von Vereinen – | |
bosnische, kroatische oder serbische. Zu Südost aber konnten alle kommen. | |
„Wir haben nicht gefragt: Wer bist und woher kommst du, sondern: Was | |
brauchst du?“, erzählt Schedlich. Bis heute ist der Berliner Verein für | |
Menschen aus der Region wichtig. Hier gibt es neben sozialer Beratung auch | |
Sprachkurse, Projekte für ältere Migrant*innen oder speziell Mädchen und | |
einen interkulturellen Garten am Gleisdreieck-Park. | |
Mit dem Verein wuchs auch Schedlichs Aufgabenbereich. Da gibt es die | |
Gruppentherapien, die sie in den 1990ern zu so etwas wie der | |
Trauma-Expertin ihrer Landsleute machen, obwohl sie nie Psychologie | |
studiert hatte. Oder ihre jahrelange Tätigkeit im Migrationsrat | |
Berlin-Brandenburg, wodurch sie zu einer zentralen Ansprechperson für | |
Integration in Berlin wird. Oder ihr Kampf dafür, dass die Vereinten | |
Nationen Vergewaltigung als Kriegsverbrechen anerkennen. Für dieses | |
umfassende Engagement wurden ihr bereits der Moses-Mendelssohn-Preis und | |
das Bundesverdienstkreuz verliehen. | |
Bis heute ist Schedlich politisch aktiv. Für Projekte reist sie regelmäßig | |
nach Bosnien-Herzegowina und die Ukraine; vor Kurzem war sie auf einer | |
kroatischen Insel: Hier möchte sie in einer ehemaligen Kaserne eine | |
internationale Akademie für regionale Entwicklung aufbauen. | |
Und auch im Kreuzberger Mietshaus, wo der Verein seinen Sitz hat, bleibt | |
Schedlich ein willkommener Gast. Schallt ihre Stimme durch den Flur, | |
stecken hier und da Menschen erfreut ihre Köpfe aus den Büros, um mit ihr | |
zu plaudern. Auch das Foto von ihr und dem Dalai Lama wird in ihrer Ecke | |
wohl hängen bleiben. | |
## Der Dalai Lama | |
Es erzählt von deren Begegnung vor gut zehn Jahren. Schedlich hat ihm von | |
ihrer Arbeit mit den Traumatisierten aus Ex-Jugoslawien erzählt. Von den | |
Soldaten, die während des Krieges in den 1990er Jahren Massaker mit | |
angesehen und in den Lagern Schreckliches erlebt haben. Der Dalai Lama hat | |
aufmerksam zugehört und ihr dabei tief in die Augen geschaut, wie sie | |
erzählt. | |
Auf ihre Frage, wie die buddhistischen Mönche mit solchen Traumata umgehen, | |
hatte der Dalai Lama keine direkte Antwort. Dieses Grauen in Worte zu | |
fassen, scheint für jeden schwierig zu sein. Schedlich versucht es trotzdem | |
jeden Tag. | |
18 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Jana Lapper | |
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