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# taz.de -- Holocaust-Überlebender in US-Synagoge: Zum zweiten Mal überlebt
> Judah Samet hat den Holocaust überlebt. In Pittsburgh verspätete er sich
> um einige Minuten und entging so dem Anschlag auf die Synagoge.
Bild: Gedenken in Pittsburgh nach dem Anschlags auf eine Synagoge Ende Oktober
Pittsburgh ap | Als die Schüsse fielen, saß er noch im Wagen. Er war so nah
dran, dass er den Angreifer nach der Festnahme identifizieren konnte. „Der
Mann war sehr fokussiert“, sagt Judah Samet. Nach wenigen Minuten [1][waren
elf Menschen tot]. Der 80-Jährige überlebte – wie damals, in Europa.
Pittsburgh ist seit gut einem halben Jahrhundert die Heimat des gebürtigen
Ungarn. Seit er in der amerikanischen Großstadt lebt, besucht er regelmäßig
die „Tree of Life“-Synagoge.
Wie alle Mitglieder der Gemeinde im Stadtteil Squirrel Hill ist Samet
schockiert. Doch zugleich zeigt er sich fast überrascht, dass etwas in der
Art nicht schon früher passiert ist. „Ich habe den Glauben an die
Menschheit nicht verloren“, sagt er. „Ich weiß, dass man sich auf die
Menschheit nicht verlassen kann.“
Anfang 1944 war Samet noch ein Kind. Die Nazis standen zur Mittagszeit vor
dem Haus. Sie gaben der Familie 15 Minuten, um „mit unseren Wertsachen und
je einer Unterhose zum Wechseln“ vor die Tür zu kommen. Es folgte ein
langer Fußmarsch zu den Zügen. „Was mich am meisten gestört hat war, dass
die Ungarn auf den Bürgersteigen ganz normal auf und ab gelaufen sind“,
erzählt der pensionierte Juwelier in seiner heutigen Wohnung, nur wenige
Blocks von der Synagoge entfernt. „Keiner hat uns beachtet. Keinen hat es
gekümmert. Sie waren genauso schlimm wie die Nazis.“
Als seine Mutter gewagt habe, eine bessere Behandlung zu fordern, habe ein
Gestapo-Offizier ihr eine Pistole an den Kopf gehalten, sagt Samet. Nur
weil sie fließend Deutsch gesprochen habe und der Kommandeur sie noch als
Übersetzerin habe nutzen wollen, sei sie verschont worden. Der Zug, den sie
dann besteigen mussten, sollte eigentlich nach Auschwitz fahren. Weil
Partisanen aber die dorthin führende Bahnlinie zerstört hatten, landeten
sie nach mehrmonatiger Irrfahrt schließlich im Konzentrationslager
Bergen-Belsen im heutigen Niedersachsen.
Das erste, was er am Tor des Lagers gesehen habe, seien die Leichenberge
gewesen, erzählt der Holocaust-Überlebende weiter. Die Insassen hätten an
Hunger und an Krankheiten gelitten. Doch nicht nur das. „Die Menschen lagen
im Sterben“, sagt Samet, „weil sie jede Hoffnung verloren hatten“. Sein
Vater sei zwei Tage nach der Befreiung an Typhus gestorben. Der Rest der
Familie habe wie durch ein Wunder überlebt.
Nach dem Krieg ging Samet zunächst nach Israel, wo er als Fallschirmjäger
diente. Später zog er dann nach Pittsburgh. In der jüdischen Gemeinde
seines Viertels ist er nach eigenen Angaben seit 54 Jahren Mitglied. In die
„Tree of Life“-Synagoge komme er fast jeden Tag – und normalerweise lege …
großen Wert auf Pünktlichkeit, sagt er. Ausgerechnet am vergangenen Samstag
habe er sich verspätet. „Meine Haushälterin hat mich vier Minuten lang
aufgehalten.“
Als er langsam auf das Grundstück gerollt sei, habe jemand an sein
Autofenster geklopft. Mit gedämpfter Stimme habe der Mann ihm gesagt:
„Sie können nicht in die Synagoge. Es gibt dort eine Schießerei.“ Samet
wollte daraufhin zurücksetzen, wie er sich wenige Tage nach dem Anschlag
erinnert. Dies sei aber nicht möglich gewesen, da zu viele andere Autos das
Gleiche versucht hätten, sagt er.
Noch im Wagen sitzend beobachtete Samet einen Schusswechsel zwischen dem
Angreifer und einem Polizisten. Nach seiner Festnahme soll der Mann gesagt
haben, sein Ziel sei gewesen, „die ganzen Juden zu töten“. Im Internet
hatte der mutmaßliche Täter zuvor antisemitische Äußerungen verbreitet.
Kurz vor dem Betreten der Synagoge soll er den Anschlag mit den Worten „I'm
going in“ („ich gehe rein“) sogar indirekt angekündigt haben.
Wie so viele andere hatte Lauren Bairnsfather, Leiterin des ebenfalls in
Squirrel Hill gelegenen Holocaust Center of Pittsburgh, eine derartige
Gewalttat nicht für möglich gehalten. „Ich war schockiert“, sagt sie. „…
ich habe auch gedacht: „Warum nicht hier? Es passiert überall. Warum sollte
es nicht hier passieren?““ Die Arbeit ihrer Einrichtung sei darauf
ausgerichtet, die Relevanz des Holocausts für die heutige Zeit zu
verdeutlichen. Der Anschlag vom Samstag sei ein „krasses, konkretes
Beispiel“ dafür, wie wichtig diese Arbeit sei.
## Antisemitismus unter der Oberfläche
Die Auschwitz-Überlebende Magda Brown, die heute in der Nähe von Chicago
wohnt, hat am Montag, wie bereits vor dem Anschlag geplant, einen Vortrag
im Holocaust Center of Pittsburgh gehalten. Als in den Nachrichten von der
Tragödie berichtet worden sei, habe sie ihrer Tochter versichert, dass sie
unter keinen Umständen absagen werde, betont Brown. „Jetzt ist es wichtiger
denn je, dass sie unsere Geschichte hören“, habe sie gesagt.
Die Rede der 91-jährigen Frau hörte schließlich nicht nur eine große Gruppe
von Schülern. Die Veranstaltung wurde auch live im Internet übertragen.
Brown erzählte, wie sie als Siebzehnjährige in einem Viehwagen in das
Vernichtungslager gebracht worden sei. Von den 70 Mitgliedern der
erweiterten Familie hätten nur acht überlebt.
Sie sei überzeugt, dass der Antisemitismus niemals verschwinde, sondern nur
unter der Oberfläche bleibe, sagt Brown – bis ein Anführer wie damals
Hitler komme und ihn wieder entfache. Genau deswegen erzähle sie von ihren
Erlebnissen. „Ich glaube noch immer fest daran, dass es mehr gute Menschen
gibt als schlechte“, sagt sie. „Daher hoffe ich, dass die guten Menschen
zuhören.“
2 Nov 2018
## LINKS
[1] /Antisemitischer-Anschlag-in-den-USA/!5546117
## AUTOREN
Allen G. Breed
## TAGS
Holocaust
Antisemitismus
USA
Terrorismus
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Minority Report
Antisemitismus
Donald Trump
USA
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