# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Der heilige Narr von Taschkent | |
> Die Legende vom Narren Nasreddin Hodscha, auch Afandi genannt, gehört zum | |
> kulturellen Erbe Usbekistans. Jetzt ist sein Humor bedroht. | |
Bild: Vor mächtigen Religionen macht der feine Witz des Narren Nasreddin Hodsc… | |
Der Mann, der die Vernunft aufrechterhält, indem er die Menschen fast um | |
den Verstand bringt, ist sehr alt, ein Methusalem geradezu. Er geistert | |
seit Jahrhunderten durch den Spott der Menschen. Mal heißt er Joha, mal | |
Nasreddin Hodscha, mal Effendi. In Usbekistan, wo er besonders beliebt ist, | |
trägt er den Namen Afandi und ist allen wohl bekannt. Man erzählt sich | |
Witze, in denen er vorkommt – die eher Anekdoten oder Parabeln oder gar | |
subversive Sprengsätze sind –, so selbstverständlich, wie man sich die | |
Hände schüttelt. Zu jeder Tageszeit, zu jedem Anlass. | |
Schon am Tag nach meiner Ankunft in Taschkent falle ich unter Nasreddin | |
Hodscha und seine vielen Räuberpistolen. In einem Theater, das schwer an | |
der monumentalen Hybris der sowjetischen Macht zu tragen hat. Der junge | |
Regisseur Seyfiddin Meliev hat die Schelmengeschichten, die Leonid Solowjow | |
vor mehr als siebzig Jahren aufgeschrieben hat (die berühmteste russische | |
Fassung, gesammelt in der Oblast Samarkand und im Ferghanatal, | |
niedergeschrieben im Gulag), auf die Bühne gebracht. Überraschung: Es | |
handelt sich um ein Musical. Die traditionellen Gewänder weisen in die | |
Vergangenheit. Aber die Komik bleibt Teil eines größeren Ganzen. Die alten | |
und ewig neuen Geschichten enden mit dem Ruf: „Auf nach Buchara!“ Dort | |
befindet sich eine seiner Geburtsstätten und die wohl berühmteste Skulptur | |
des weisen Narren. | |
Beim Mittagessen danach tauschen die Schauspieler Afandi-Geschichten aus. | |
Ein Jüngerer erzählt folgenden Klassiker: | |
Ein Denunziant kommt vorbei, er wird freundlich von Nasreddin Hodscha | |
begrüßt und in sein Haus eingeladen. „Wo soll ich mein Pferd festbinden?“, | |
fragt der Denunziant. „Am besten an meiner Zunge“, antwortet Afandi. Am | |
Tisch lachen alle, obwohl sie den Witz schon kennen. Niemand könnte sagen, | |
unter welcher autokratischen Herrschaft dieser Scherz entstanden ist, ob | |
unter Sultan, Khan, Zar oder Parteisekretär, aber er ist weiterhin aktuell. | |
Das macht Afandi unsterblich: Bis solche Witze keinen Sinn mehr ergeben, | |
kann es noch lange dauern. Das Essen endet mit einem kurzen Gebet, das der | |
Regisseur spricht. Dann brechen alle zur nächsten Vorführung auf. | |
## Furchtbar über die Frömmigkeit lachen | |
In Buchara [1][steht ein Minarett], das niemand je hat zerstören können. | |
Nicht mal Dschingis Khan. Erdbebensicher ragt es wie ein Ausrufezeichen in | |
den Himmel. Drum herum, in den Werkstätten der Altstadt, sind billige | |
Ikonografien des heiligen Narren im Angebot: Afandi auf seinem Esel, Afandi | |
unter einem Baum, Afandi auf Keramik, auf Papier, auf Holz. Er gehört zum | |
kulturellen Inventar und wird öfter abgebildet als der große Dichter und | |
Wissenschaftler Omar Chayyām. | |
Den Dogmatikern ist er stets ein Dorn im Ohr. Keiner hat sich je so | |
fruchtbar und furchtbar über die Frömmigkeit lustig gemacht. Das ist im | |
heutigen Usbekistan, dem Land der Bartlosen, wo Wahhabiten und Salafisten | |
humorlos verfolgt werden, durchaus gern gesehen, auch von der herrschenden | |
Macht: | |
Im Regen läuft Afandi nach Hause. Der Imam tadelt ihn: „Der Frühlingsregen | |
ist ein Segen Gottes. Bist du ein Ungläubiger, dass du vor dem Segen | |
davonläufst?“ – „Aber nicht doch. Ich laufe, weil ich den Segen nicht mit | |
Füßen treten will.“ | |
In Urgentsch erzählt Professor Atabai Shumanijasow, wie der orientalische | |
Till Eulenspiegel den Mauerfall erlebt hat. Der Gustav Kiepenheuer Verlag | |
in Leipzig hatte ihm und der deutschen Turkologin Heidi Stein den Auftrag | |
erteilt, eine Sammlung von Schwänken, Anekdoten und Witzen zu erstellen. | |
Dann kam die Wiedervereinigung und Nasreddin saß verkehrt auf dem Esel des | |
Schicksals, auch wenn der Fehler natürlich beim dummen Tier lag. Es sah | |
einige Zeit so aus, als würde dieses Werk Opfer von gekürzten Programmen | |
werden. Aber dann erschien es doch, im Jahre 1991, obwohl so viele andere | |
geplante Titel die Wende nicht überstanden. | |
## Stets auf der Seite der Schwachen | |
In diesem Buch, das antiquarisch erhältlich ist, kommt eine meiner | |
Lieblingsgeschichten vor: Während einer Hochzeit wird Nasreddin Hodscha | |
gefragt, wie alt er denn sei. „Vierzig.“ – „Aber das haben Sie doch vor | |
zehn Jahren schon gesagt.“ – „Genau, und was ich einmal gesagt habe, gilt. | |
Ich halte mein Wort! Es gibt keinen Gott außer den Einen und Mohammed ist | |
sein Prophet.“ | |
Afandi spricht offen aus, was viele denken. Aber nicht nur das. Wie die | |
Studentinnen und Studenten in Urgentsch, Buchara und Taschkent bestätigen, | |
steht er stets auf Seiten der Schwachen, der Armen, der Erniedrigten. Das | |
ist viel wert, in Zeiten, in denen sich das Autoritäre behauptet, die | |
Korruption floriert und ein neuer Feudalismus sich ausbreitet. Umso | |
bedauerlicher, dass dieser Turm von einem Mann, diese scheinbar ewige | |
Legende, nun zum ersten Mal seit tausend Jahren bedroht ist. | |
Der Rektor der Fremdsprachenuniversität in Samarkand, Professor Bahodir | |
Yarashovich, hat eine Umfrage unter seinen Freunden, Bekannten und | |
Verwandten vorgenommen. Manche Kinder kennen Nasreddin Hodscha nicht mehr, | |
vor allem jene, die russische Schulen besuchen (was in manchen Kreisen als | |
bessere Ausbildungsoption gilt). Auf dem Land werde weiterhin vor allem der | |
Staatskanal geschaut, in den Städten sorgten russische Privatsender mit | |
neuen Zeichentrickfilmen für eine Entfremdung von Afandi und Tradition. Der | |
heilige Narr könne aus der kollektiven Erinnerung verschwinden. Das kann | |
ich mir einfach nicht vorstellen. Nicht in Ländern mit gewaltigen | |
Denkmälern an die vermeintlichen Helden der Vergangenheit. Da braucht es | |
als Korrektiv ein mündliches Denk-Mal. | |
Als Afandi einen Turban trug, wurde er von einem Passanten gebeten, ihm die | |
Welt zu erklären. „Ich habe keine Ahnung“, sagte er. – „Aber Sie tragen | |
doch einen so großen Turban.“ Worauf Afandi dem Fragesteller den Turban | |
aufsetzte: „Nun erklär du die Welt.“ | |
11 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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